Spurgeon, Charles Haddon - Worte der Weisheit für das tägliche Leben - Gute Werke und zerbrochene Schlüssel
und: Eine Begebenheit an dem Niagara-Fall
Glaube ist notwendig zur Erlösung, denn die Schrift sagt uns, dass die Werke nichts nütze sind. Um diese Sache so klar zu machen, dass auch die einfachsten Leute mich nicht missverstehen, will ich eine Geschichte erzählen: Ein Seelsorger hatte eines Tages in einem Orte zu predigen, wohin der Weg über einen Hügel führte. Im Tale lagen die Dörfer gar lieblich zwischen wogenden Kornfeldern und grünen Wiesen, die vom Sonnenlichte beschienen waren, aber er blickte nicht auf die Landschaft hinab, denn seine Gedanken waren zu ernst beschäftigt, und als er dem Ziele seiner Wanderschaft näher kam, wurde seine Aufmerksamkeit von einer Frau in Anspruch genommen, die von ihrer Tür aus ganz aufgeregt mit den Worten auf ihn zueilte: „Lieber Herr, haben Sie vielleicht Schlüssel in Ihrer Tasche, ich habe den Schlüssel meiner Kommode zerbrochen, aus der ich einige Sachen jetzt gleich ganz notwendig gebrauche.“ Die Antwort des Predigers, dass er keine Schlüssel bei sich habe, machte die Frau sehr niedergeschlagen, denn sie hatte gedacht, es müsse doch irgend jemand vorüber kommen, der Schlüssel bei sich führe, welche sie gebrauchen könne. „Aber denken Sie doch nur“, sprach der Prediger, „dass meine Schlüssel sicher nicht passen würden, wenn ich solche auch bei mir hätte, und dass Sie Ihre Sachen darum doch nicht erlangen könnten. Beunruhigen Sie sich nicht so sehr, liebe Frau, es könnte ja immerhin sein, dass Ihnen ein andrer aus Ihrer Verlegenheit zu helfen vermöchte, und gestatten Sie mir die eine Frage, ob Sie vielleicht schon von dem Schlüssel zum Himmel gehört haben?“ „Ach gewiss“, hieß es hier, „ich habe lange genug gelebt und bin lange genug zur Kirche gegangen, um zu wissen, dass wir sicher errettet werden, wenn wir fleißig arbeiten, um unser Brot im Schweiße unsres Angesichtes zu verdienen. Wenn wir dabei unsrem Nächsten nichts übles tun und uns gegen alle Menschen so verhalten, wie es im Katechismus steht; wenn wir überhaupt unsre Pflichten in unsrem Berufe, in den uns Gott gestellt hat, stets erfüllen und dabei regelmäßig beten, so wird es ganz gewiss keine Gefahr haben.“ „O, meine liebe Seele“, fiel hier der Prediger ein, „das ist ein ganz zerbrochener Schlüssel, denn Sie haben die Gebote gebrochen und haben gar nicht alle Ihre Pflichten erfüllt. Was Sie da nennen, das wäre alles ein ganz guter Schlüssel, wenn Sie ihn nicht eben zerbrochen hätten.“ Diese Worte ließen die in sich Befriedigte doch etwas erschrocken aufblicken, und fast ängstlich fragte sie: „Nun gut, was habe ich denn ausgelassen?“ worauf der Seelsorger mit ernstem Tone sprach: „Sie haben das Allerwichtigste ausgelassen, das Blut Jesu Christi, und ich frage Sie hiermit, ob Sie es nicht wissen, dass der Schlüssel des Himmels in seiner Hand ruht? Er öffnet und niemand schließt zu, Er schließt zu und niemand öffnet.“ Dann erklärte er in kurzen Worten diese wichtige Wahrheit und sagte dabei: Es ist Christus und Christus allein, der Ihnen den Himmel öffnen kann, und sicher vermögen Ihre guten Werke dieses nicht.“ „Wie, Herr Prediger, unsre guten Werke sollten nutzlos sein?“ „O nein, wenn sie aus dem Glauben kommen, so sind sie es nicht. Sofern Sie zuerst glauben, so mögen Sie nachher nur so viele gute Werke mitbringen, wie Sie können. Doch wenn Sie glauben, so werden Sie Ihr Vertrauen niemals auf die Werke setzen, vielmehr werden Sie wissen, dass Sie alle guten Werke mit solch einem Vertrauen nur so sehr beflecken, dass dieselben gar nicht mehr gut bleiben. Darum sorgen Sie nur, dass Sie so viele gute Werke haben wie möglich, aber sehen Sie dabei Ihre ganze Hoffnung und Ihr ganzes Vertrauen auf Jesum Christum, denn wenn Sie das nicht tun, so kann ich Ihnen die Versicherung geben, dass Ihr Schlüssel niemals das Tor des Himmels öffnen wird. Darum bedürfen wir auch des wahren, lebendigen Glaubens, weil der Schlüssel der Werke (oder Werkschlüssel) bei uns allen so zerbrochen ist, dass wir niemals damit in das Paradies gelangen können. Wenn Sie behaupten, dass Sie keine Sünde haben und dass alles bei Ihnen in Richtigkeit sei, so betrügen Sie sich selbst und die Wahrheit ist nicht in Ihnen. Und wenn Sie sich einbilden, durch Ihre guten Werke in den Himmel zu gelangen, so kann ich Ihnen sagen, dass es niemals eine grundlosere Einbildung gab und dass an jenem großen Tage all Ihre Hoffnungen getäuscht sein werden. Sie werden Ihnen wie welke Blätter des Herbstes schwinden. Auch Ihre alleredelsten Taten werden verblassen oder in den Flammen verbrennen, in welchen Sie die ewige Pein Leiden müssen.“ Wachen wir über unsre guten Werke, damit sie stets hinter dem Glauben stehen bleiben, und erinnern wir uns immer daran, dass der Weg zur Erlösung in dem einfachen Glauben an Jesum Christum besteht. Ohne Glauben ist es unmöglich, errettet zu werden und Gott zu gefallen. Denn ohne Glauben gibt es keine Vereinigung mit Christo. Diese Vereinigung mit Jesu ist nun aber ganz unerlässlich notwendig zu unserer Erlösung, und wenn ich vor Gottes Thron mit meinen Gebeten erscheine, so werden sie mir niemals beantwortet werden, sofern nicht Jesus mit mir erscheint. Die Molosser der alten Zeit hatten einen ganz eigentümlichen Gebrauch, wenn es für sie galt, von ihrem Könige eine besondere Gunst zu erlangen. Sie umarmten dann den einzigen Sohn ihres Königs; fielen auf ihre Knie und schrien: König, gewähre uns die Bitte um deines Sohnes willen!“ Und der König antwortete lächelnd: „Ich verweigere demjenigen nichts, der in meines Sohnes Namen bittet.“ Ebenso macht es Gott. Er verweigert demjenigen Menschen nichts, der mit Jesu vor Ihn tritt, während derjenige hinausgeworfen wird, der ohne Ihn erscheint. Dabei sehen wir, wie die Vereinigung mit Jesu der wesentlichste Kernpunkt der Erlösung ist.
Lasst mich noch eine Geschichte mitteilen, um den wichtigen Gegenstand ferner zu beleuchten.
Die Riesenfälle des Niagara werden von der ganzen Welt besprochen; jedoch so wunderbar es ist, ihre Beschreibung zu hören, und so herrlich es ist, dies Naturschauspiel zu sehen, so verderblich sind diese Fälle dem menschlichen Leben, wenn irgend jemand von ihren Fluten in den Abgrund gerissen wird. Vor einigen Jahren befanden sich zwei Menschen in einem Boote, wo sie alsbald, in den Strudel gerissen, die Macht über ihr Fahrzeug so vollständig verloren, dass sie im wilden Rauschen der hinabeilenden Gewässer nur noch das Zerschellen in der Tiefe erwarten konnten. Am Ufer standen entsetzte Menschen, die das schreckliche Ende der Unglücklichen beobachteten, ohne zu wissen, wie sie ihnen Hilfe leisten könnten, bis zuletzt von einem beherzten Manne noch ein Strick geworfen wurde, den einer der vom Tode Bedrohten glücklich erfasste. Im selben Augenblick kam ein Holzblock angeschwommen, an welchen sich jedoch der Zweite anklammerte, wobei er natürlich das Erfassen des Rettungsseiles versäumte. Das war ein verhängnisvoller Missgriff! Beide Bootsleute befanden sich in derselben furchtbaren Gefahr der eine von ihnen, im Hinblick auf die Menschen am Ufer, er griff das rettende Seil; der andre klammerte sich in seiner Verwirrung an den Holzblock, verschwand mit demselben in der Tiefe und niemand hörte mehr von ihm.
Lieber Leser, siehst du nicht ein, dass dies eine sehr lebendige Illustration ist? Glaube ist eine Verbindung mit Jesu. Jesus steht am Ufer mit dem Rettungsseile, und wenn wir dasselbe vertrauensvoll ergreifen, so zieht Er uns ans Ufer. Unsre guten Werke haben keine Verbindung mit Jesu; sie werden in den Abgrund der falschen Hoffnung versenkt, ob wir uns noch so fest an sie anklammern mögen, ob wir uns mit Stahl und Eisen an sie festnageln; sie können uns doch nicht retten; wir treiben mit ihnen in den Abgrund!