Spurgeon, Charles Haddon - Der Seelengewinner - Was es kostet, ein Seelengewinner zu sein.
Eine Ansprache bei einer Gebetsstunde1) im Tabernakel.
Ich möchte ein Wort mit euch reden, die ihr versucht, Seelen zu Jesu zu bringen. Ihr wünscht und betet, dass ihr nützlich sein möchtet; wisst ihr, was dieses mit sich bringt? Seid ihr gewiss, dass ihr es wisst? Bereitet euch denn, viele Dinge, mit denen ihr lieber nicht bekannt sein möchtet, zu sehen und zu erleiden. Erfahrungen, welche für euch persönlich unnötig wären, werden euer Teil werden, wenn der Herr euch zur Errettung anderer gebraucht. Ein gewöhnlicher Mensch mag die ganze Nacht in seinem Bette ruhen, aber ein Arzt wird zu jeder Stunde herausgerufen; ein Landmann mag gemächlich beim Feuer sitzen, aber wenn er ein Hirte wird, so muss er draußen unter den Lämmern sein und für sie jedes Wetter ertragen; so sagt Paulus auch: „Darum dulde ich alles um der Auserwählten willen, auf dass auch sie die Seligkeit erlangen in Christo Jesu mit ewiger Herrlichkeit.“ Deshalb werden wir durch Erfahrungen hindurch gehen müssen, die uns in Staunen setzen werden.
Vor einigen Jahren litt ich an furchtbarer Niedergeschlagenheit. Mir war manches Traurige begegnet; ich war auch unwohl und mir sank der Mut. Aus der Tiefe musste ich zu dem Herrn rufen. Gerade ehe ich nach Mentone ging, litt ich sehr viel körperlich, aber weit mehr geistig, denn meine Seele war ganz in Traurigkeit versunken. Unter diesem Druck, der auf mir lastete, hielt ich eine Predigt über die Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ich war so geeignet, über diesen Text zu predigen, wie ich wohl kaum je gewesen; in der Tat, ich hoffe, dass wenige meiner Brüder so tief auf diese herzbrechenden Worte hätten eingehen können. Ich fühlte, so sehr ich nur vermochte, das Grauen einer von Gott verlassenen Seele. Nun, das war keine wünschenswerte Erfahrung. Ich zittere bei der bloßen Vorstellung, wieder durch eine solche Verfinsterung der Seele zu gehen; ich bete, dass ich nie wieder in dieser Art leiden möge, es sei denn, dass dasselbe Resultat davon abhinge.
An jenem Abend kam nach der Predigt ein Mann zu mir, der dem Wahnsinn so nahe war, wie man es außerhalb des Irrenhauses nur sein kann. Seine Augen schienen aus seinem Kopfe herauszutreten, und er sagte, er wäre in völlige Verzweiflung geraten, wenn er nicht diese Predigt gehört, bei welcher er gefühlt, dass es einen Menschen gebe, der seine Gefühle verstände und seine Erfahrung beschreiben könne. Ich sprach mit ihm, versuchte ihn zu ermutigen und bat ihn, am Montagabend wieder zu kommen, wo ich etwas mehr Zeit haben würde, mit ihm zu reden. Ich sah den Bruder wieder, sagte ihm, ich hielte ihn für einen hoffnungsvollen Patienten und freute mich, dass das Wort so passend für seinen Zustand gewesen wäre. Dem Anschein nach nahm er den Trost nicht an, den ich ihm bot, und dennoch hatte ich das Gefühl, dass die Wahrheit, welche er gehört, in seinem Gemüte arbeite, und dass der Sturm seiner Seele sich bald legen und einer tiefen Stille Platz machen würde.
Nun hört, was folgt. Gestern Abend, als ich, seltsam zu erzählen, gerade über die Worte gepredigt hatte: „Der Allmächtige, der meine Seele betrübt,“ kam nach dem Gottesdienste dieser selbe Bruder herein, der vor fünf Jahren bei mir gewesen war. Sein Aussehen war von seinem früheren so verschieden, wie der Mittag von der Mitternacht, oder wie das Leben von dem Tode. Ich sagte zu ihm: „Mich freut es, Sie zu sehen, denn ich habe oft an Sie gedacht und hätte gern gewusst, ob Sie zum vollkommenen Frieden gelangt wären.“ - Ich sagte euch schon, dass ich damals nach Mentone gegangen wäre, und mein Patient ging aufs Land, so dass wir seit fünf Jahren uns nicht gesehen. Auf meine Fragen antwortete dieser Bruder: „Ja, Sie sagten, ich wäre ein Patient, der Hoffnung gäbe, und gewiss werden Sie froh sein, zu hören, dass ich von jenem Tage an im Sonnenschein gewandelt habe. Alles ist verändert und verwandelt für mich.“ Liebe Freunde, sobald ich meinen armen, verzweifelnden Patienten zum ersten Mal sah, dankte ich Gott, dass meine furchtbare Erfahrung mich bereit gemacht, mit ihm zu fühlen und ihn zu leiten, aber gestern Abend, als ich ihn völlig hergestellt sah, floss mein Herz über von Dankbarkeit gegen Gott für meine früheren traurigen Empfindungen. Ich wollte hundertmal in die Tiefen hinabgehen, um ein niedergeschlagenes Gemüt zu trösten. Es ist gut für mich, dass ich gelitten habe, damit ich seiner Zeit ein Wort mit einem Müden zu reden weiß.
Gesetzt, ihr könntet durch eine schmerzhafte Operation euren rechten Arm ein wenig länger machen lassen, so glaube ich doch nicht, dass ihr euch gern dieser Operation unterziehen würdet; aber wenn ihr voraussähet, dass ihr durch das Erleiden der Schmerzen in Stand gesetzt würdet. Ertrinkende, die sonst vor euren Augen versinken würden, zu erreichen und zu retten, so, glaube ich, würdet ihr willig den Schmerz ertragen und dem Arzt ein großes Honorar zahlen dafür, dass ihr zur Rettung eurer Mitmenschen fähig gemacht wäret. Rechnet also darauf, dass ihr, um seelengewinnende Macht zu erlangen, durch Feuer und Wasser, durch Zweifel und Verzweiflung, durch geistige Qual und Seelenangst werdet gehen müssen. Es wird natürlich nicht bei euch allen das Gleiche stattfinden, vielleicht nicht einmal bei zweien, aber je nach dem euch zugewiesenen Werke wird eure Vorbereitung sein. Ihr müsst ins Feuer gehen, wenn ihr andere aus demselben herausreißen sollt, und ihr werdet in die Fluten zu tauchen haben, wenn ihr andere aus dem Wasser ziehen sollt. Ihr könnt nicht mit einer Feuerrettungsmaschine arbeiten ohne das Sengen der Feuersbrunst zu fühlen, und ihr könnt nicht ein Rettungsboot rudern ohne mit den Wellen bedeckt zu werden. Wenn Joseph seine Brüder am Leben erhalten soll, so muss er selber hinab nach Ägypten gehen; wenn Moses das Volk durch die Wüste führen soll, so muss er erst selbst vierzig Jahre mit seiner Herde dort zubringen. Payson sagte mit Wahrheit: „Wenn jemand darum betet, ein Prediger zu werden, der mit Erfolg arbeitet, so weiß er nicht, was er bittet; und es geziemt ihm, zu erwägen, ob er tief aus Christi bitterem Kelch trinken und mit Christi Taufe getauft werden kann.“
Ich wurde auf diese Gedanken geführt durch das Gebet, das unser hochgeschätzter Bruder Levinsohn soeben betete. Er ist, wie ihr bemerkt, vom Samen Abrahams und verdankt seine Bekehrung einem Stadtmissionar seines eigenen Volkes. Wäre dieser Stadtmissionar nicht selbst ein Jude gewesen, so würde er das Herz des jungen Fremden nicht gekannt und sein Ohr für die Botschaft des Evangeliums nicht gewonnen haben. Die Menschen werden gewöhnlich für Christum gewonnen durch angemessene Werkzeuge, und diese Angemessenheit liegt oft in der Macht des Mitgefühls. Ein Schlüssel öffnet eine Tür, weil er in das Schloss hinein passt; eine ernste Ansprache rührt das Herz, weil sie für den Zustand dieses Herzens passt. Ihr und ich müssen in allerlei Formen hineingebracht werden, um für alle Arten Gemüter und Herzen zu passen; gerade wie Paulus sagt: „Ich bin jedermann allerlei geworden, auf dass ich allenthalben ja etliche selig mache.“ Dieses muss auch mit uns geschehen. Lasst uns freudig alles tragen, was der Heilige Geist auch in unserem Gemüte wirken mag, damit wir so unsern Mitmenschen zu desto reicherem Segen werden. Kommt, Brüder, legt euer Alles auf den Altar! Übergebt euch ganz, ihr Arbeiter, der Hand des Herrn. Ihr, die ihr zartes und feines Gefühl habt, müsst vielleicht angestoßen werden, bis ihr die Macht erlangt, den Groben und Unwissenden nützlich zu sein; ihr, die ihr weise und gebildet sind, müsst vielleicht zu Narren gemacht werden, damit ihr Narren für Jesum gewinnen mögt; denn Narren haben es nötig, errettet zu werden, und viele von ihnen werden nicht anders errettet, als durch Mittel, welche Gebildete nicht bewundern können.
Wie fein gehen einige Leute ans Werk, wo das, was nottut, nicht Zartheit, sondern Energie ist! Andrerseits, wie heftig sind einige, wenn das, was zu wünschen, Takt und Milde ist, und nicht Kraft! Dies müssen wir lernen; wir müssen dazu dressiert werden, wie die Hunde dazu, dass sie das Wild verfolgen. Hier ist eine solche Erfahrung. Ein Bruder ist zierlich; er wünscht, ernst zu reden, aber es muss auch gefeilt sein. Er hat eine hübsch ausgearbeitete Ansprache niedergeschrieben, sein Konzept ist sorgfältig vorbereitet. Ach! Er hat das unschätzbare Dokument zu Hause gelassen! Was soll er tun? Er ist zu fromm, um alles aufzugeben, er will versuchen zu reden. Er beginnt nett und kommt durch den ersten Teil. „Hübsch und sanft, mein Lieber.“ Was folgt nun? Seht, er starrt in die Höhe nach dem zweiten Teil. Er zappelt umher, aber er kann nicht schwimmen; er kämpft sich durch ans Land, und als er aus den Fluten empor steigt, könnt ihr ihn im Geiste sagen hören: „Das ist mein letzter Versuch.“ Doch ist es das nicht. Er redet wieder. Er gewinnt Zuversicht; er wird ein Redner, der Eindruck macht. Durch solche Demütigungen wie diese bereitet ihn der Herr, das Werk kräftig zu tun. Am Anfang sind wir zu fein, um fähig zu sein oder zu groß, um gut zu sein. Wir müssen eine Lehrzeit durchmachen und so unser Geschäft lernen. Ein Bleistift ist von gar keinem Nutzen, bis er gespitzt ist; das schöne Zedernholz muss weggeschnitten werden; dann hat das Metall im Innern, das zeichnet und schreibt, freien Spielraum. Brüder, das Messer der Trübsal ist scharf, aber heilsam; ihr könnt keine Freude daran empfinden, aber der Glaube mag euch lehren, es zu schätzen. Seid ihr nicht willig, durch jede Feuerprobe zu gehen, wenn ihr nur einige Seelen erretten könnt? Wenn ihr nicht dieses Sinnes seid, so tätet ihr besser, bei eurem Ackerbau und eurem Handel zu bleiben, denn kein Mensch wird je eine Seele gewinnen, der nicht bereit ist, um dieser Seele willen alles, was im Bereich der Möglichkeit liegt, zu ertragen.
Sehr viel hat man oft durch Furcht zu leiden, und doch mag diese Furcht helfen, die Seele anzuregen und sie zum Werk tauglich zu machen; wenigstens mag sie das Herz zum Gebet treiben, und das allein ist ein großer Teil der notwendigen Vorbereitung. Ein frommer Mann beschreibt in folgender Weise einen seiner ersten Versuche, zu den Leuten zu gehen, um mit ihnen über ihren Seelenzustand zu reden: „Auf dem Wege nach dem Hause der Leute dachte ich daran, wie ich den Gegenstand zur Sprache bringen und was ich sagen wollte. Und während der ganzen Zeit zitterte ich und war erregt. Als ich die Tür erreichte, schien es mir, als wenn ich durch die Steine sinken würde; mein Mut war dahin, und als ich meine Hand zu dem Klopfer erhob, fiel sie zurück, ohne ihn zu berühren. Ich ging aus bloßer Furcht einige Stufen wieder hinunter; aber nach einem Augenblick Überlegung war ich wieder beim Klopfer und trat ins Haus ein. Die Worte, welche ich sprach, und das Gebet, welches ich darbrachte, waren sehr gebrochen; aber dankbar, sehr dankbar bin ich, dass meine Furcht und Feigheit nicht die Oberhand behielt. Das Eis war gebrochen.“ Dies Eisbrechen muss durchgemacht werden, und das Ergebnis ist ein sehr wohltätiges.
O arme Seelen, die ihr wünscht, den Heiland zu finden, Jesus ist für euch gestorben; und jetzt leben die Seinen für euch! Wir können keine Sühnopfer für euch darbringen; es ist auch nicht nötig, dass wir dies tun; aber dennoch würden wir gern um eurer Seelen willen Opfer bringen. Hörtet ihr nicht, was unser Bruder soeben in seinem Gebet sagte: Wir würden alles tun, alles sein, alles geben und alles leiden, wenn wir euch nur zu Christum bringen könnten? Ich versichere euch, dass viele von uns das Gleiche fühlen. Wollt ihr nicht um euch selber sorgen? Sollen wir es ernst mit euren Seelen nehmen, und wollt ihr sie vertändeln? Seid weiser, ich bitte euch, und möge die unendliche Weisheit euch sogleich zu unseres teuren Heilandes Füßen leiten! Amen.