Spitta, Carl Johann Philipp - Richtet nicht.

Spitta, Carl Johann Philipp - Richtet nicht.

Wer nimmt sich doch für sein Verhalten gegen den irrenden und fehlenden Bruder die Weisung des Heilandes zur Regel: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet! Verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammet!“ Zwar ist damit nicht gemeint, daß überhaupt nicht gerichtet und verdammet werden sollte; denn die Obrigkeit thut beides mit Recht an Gottes Statt. Auch ist nicht gesagt, daß wir uns alles Urtheils über Gutes und Böses enthalten sollen, denn es stehet geschrieben: „Wehe denen, die Böses gut, und Gutes böse heißen, die aus Finsterniß Licht, und aus Licht Finsterniß machen, die aus sauer süß, und aus süß sauer machen“ (Jes. 5, 20.). Dazu fordert der Heiland Joh. 7, 24: „Richtet nicht nach dem Ansehn, sondern richtet ein rechtes Gericht.“ Nur das unberufene, selbstgefällige und tadelsüchtige Richten und Verdammen des fehlenden Bruders ist hier gemeint. Aber was ist unser Herz für ein trotziges Ding! Wie gern sitzt es über den Nächsten zu Gericht, wie willkommen sind ihm die Beschuldigungen, die man wider ihn vorbringt, mit welchem Behagen werden allerlei, auch die unzuverlässigsten Zeugen an- und abgehört, und mit welcher Anmaßung wird das Verdammungsurtheil gesprochen! Willst du richten, so richte dich zuvor selbst. Zum Selbstgericht bist du nicht nur allezeit und allenthalben befugt, sondern auch verpflichtet. Das unbefugte Richten aber, das unverständige Bessern- und Meistern-Wollen an andern kommt meist aus Blindheit gegen uns selbst her. Die Anfänger im Christenthum pflegen insbesondere solche Scharfrichter zu sein, denn sie haben sich selbst und Gottes Verfahren mit ihnen noch nicht genug erkannt. Aber wer sich recht in die Zucht und Kur der Gnade begiebt, wer dabei merkt, wie langsam sein Elend weicht, wie viel Geduld Gott mit ihm haben muß und auch hat, so lange man nur von ihm sich ausheilen lassen will, - der sitzt nicht gleich zum Gericht über den Bruder; der denkt; Wir wollen unsern Bruder nicht aus der Hoffnung fallen lassen, so lange ihm noch ein Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit anzumerken oder auch nur zuzutrauen ist, und er einen Schmerz über den Splitter im Auge empfindet. Freilich sollen wir uns unter einander ermahnen, bauen und bessern. Der Heiland sagt nicht: „Was geht dich dein Bruder und der Splitter in deines Bruders Auge an - laß ihn stecken!“ Sondern er sagt: „Ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge, besiehe aber dann, wie du den Splitter auch aus deines Bruders Auge ziehest.“ Mit dem Besehen und dem Herausziehen des Splitters geht es aber erst dann, wenn der Balke aus dem eigenen Auge ist. Solch ein Balke aber im Auge, der das Liebreiche Besehen und sanfte Herausziehen des Splitters hindert, ist eben das Richten, das der Herr verbeut. Mit solchem Balken stößt man dem Nächsten nur vor den Kopf. Das schadet ihm und dir. Es soll nicht also sein, lieben Brüder!

Quelle: Spitta, Carl Johann Philipp - Biblische Andachten

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