Sengelmann, Heinrich Matthias - Verstehst Du auch, was Du liest - Ap. Gesch. 17,24.

Sengelmann, Heinrich Matthias - Verstehst Du auch, was Du liest - Ap. Gesch. 17,24.

Gott wohnt nicht in Tempeln, mit Händen gemacht.

„Die Prediger sagen,“ so hört man heut zu Tage Diesen oder Jenen reden, „man musste fleißiger in die Kirche gehen, es sei ein schlimmes Zeichen der Zeit, dass die Gotteshäuser so leer stehen. Das sagen sie, weil sie's müssen. Ich kann mich davon nicht überzeugen, dass das Kirchengehen so notwendig ist. Was sind oft die fleißigen Kirchgänger für wenig christliche Leute! Da weiß ich, mein Nachbar fehlt keinen Sonntag; er will offenbar dadurch den Namen eines frommen Mannes erhalten; aber wie geht es mit seinem Geschäfte! wie sieht es im Hause aus! Nein solch ein Gottesdienst wirkt doch gar zu wenig. Ich glaube, mein Weg ist der richtige. In der Woche arbeite ich fleißig und tue, was meine Pflicht ist; dann gehe ich Sonntags mit den Meinigen ins Freie. Hier in der Natur sehe ich so recht Gottes Größe und Herrlichkeit, denn Gott wohnt nicht in Tempeln, mit Händen gemacht; und wenn ich nun nach Hause komme, so habe ich eine bessere und würdigere Erbauung gehabt als mein Nachbar, der eben aus der Kirche gekommen ist oder gerade eine gedruckte Predigt liest.“ Hiergegen ist gar Manches zu erinnern. Der Zweck dieses Büchleins fordert, dass wir zuvorderst den angeführten Ausspruch in seinem richtigen Sinne darstellen und zeigen, wie er in der Umgebung solcher Redensarten, wie die erwähnten sind, keineswegs aufgeführt werden kann. Daran lassen sich dann einige Winke über die Erbauung aus der Natur und über die Bedeutung des Gottesdienstes anknüpfen. Der Apostel Paulus spricht diese Worte aus, als er in Athen auftritt. Er hatte einen Altar gefunden mit der Überschrift: „Dem unbekannten Gott!“ und benutzt diesen Umstand als Ausgangspunkt seiner Rede. Diesen Gott, erklärt er, wolle er ihnen bekannt machen. Er konnte sich hier nicht, wie den Juden gegenüber, auf besondere Offenbarungen durchs Wort berufen; sondern musste von den allgemeinsten Voraussetzungen ausgehen, er musste Gott zuerst als den Schöpfer des Alls; den Unermesslichen, Allgegenwärtigen, Allgenugsamen darstellen. Schon so kam er natürlich mit dem heidnischen Gottesbewusstsein in Konflikt. Das war ihnen z. B. keineswegs eine bewusste Wahrheit, dass Gott gleichmäßig mit seiner Gegenwart die ganze Schöpfung durchdringe, meinten sie doch, dass, wenn ihre Diana und ihr Apollo auch in allen ihnen geweihten Tempeln sich befanden, jene doch vorzugsweise in Ephesus, dieser in dem delphischen Heiligtum wohne. Demgegenüber erklärt er bestimmt, der Gott, den er verkündige, wohne nicht in Tempeln mit Händen gemacht. So hatten diese Worte ihre bestimmte Veranlassung und an jener Stelle ihren ganz besonderen Wert. Allmählich geht er einen Schritt weiter, bis er endlich zur Verkündigung des Evangeliums kommt und auf die besondere Tätigkeit des Heilands hinweist, dass er den Kreis des Erdbodens richten werde. Aus dem Gange der apostolischen Predigt geht deutlich hervor, dass er die letzteren Lehren für gewichtiger als die ersteren und diese nur als die Voraussetzungen und allgemeinen Grundlagen jener betrachtet. Die Lehren von des Höchsten Allgegenwart, Unermesslichkeit und Allgenugsamkeit hält er für solche, deren Annahme er den Heiden noch am Ersten zumuten kann. Möchten sich dies doch alle Diejenigen merken, welche meinen, je allgemeiner ihre Bezeichnungen für Gott und seine Eigenschaften seien, desto mehr hätten sie von ihm ausgesagt! Wire Paulus derselben Ansicht gewesen, er hätte ganz anderes den Heiden vorangeschickt und hatte mit dem Worte: „so er selber Jedermann Leben und Odem allenthalben gibt,“ oder gewiss mit V. 29, wo er von den Bildnissen der Gottheit redet, geschlossen. Der Weg, den er einschlug, war also durch die Verhältnisse bedingt; da nun solche Voraussetzungen hinsichtlich des Glaubens an die göttliche Gegenwart jetzt nicht mehr, wie damals zu machen sind, so wollen wir Denen, welche sich auf Pauli Wort, Gott wohne nicht in Tempeln mit Händen gemacht, berufen, so wollen wir ihnen, sage ich, gern glauben, dass sie ihre Gegner nicht für Solche halten, die Gottes Nahesein an die Kirchenmauern gebannt halten, obwohl es eigentlich so scheint. Aber so müssen sie Anderes als Paulus mit den Worten sagen wollen, und was ist dies?

Offenbar das, dass was in der Kirche geschieht, der gemeinschaftliche Gesang, das vereinte Gebet, das Anhören der Predigt, sie Gottes Nähe nicht auf dieselbe Weise und eben so stark empfinden lasse, wie die Betrachtung der Natur. Ob dies ein richtiges Verhältnis sei, liegt uns ob, jetzt näher zu prüfen. Wer wollte es leugnen, dass die richtige Betrachtung der Natur uns zum Gottesdienste werden könne! Aber in Abrede müssen wir es stellen, dass sie bei Denen sich finde, welche Redensarten, wie die oben erwähnten, im Munde führen. Diese Leute gehen freilich, während Andere dem Glockenruf zur Kirche folgen, ins Freie hinaus; aber wer wüsste nicht, wie sie sich da, statt sich zu sammeln, zerstreuen, wer hätte sie nicht mit viel zerstreuterem Gemüte zurückkehren sehen, als womit sie ausgingen. Nur das pflegt der Unterschied dieser und ihrer anderen Vergnügungen zu sein, dass sie jetzt einmal die sonstige Örtlichkeit verändern; zu rechter Naturerbauung kommen sie aber nicht vor lauter eitlen und üppigen Gedanken. Gesetzt aber, sie machten von dieser Regel eine Ausnahme, sie wendeten der Natur wirklich ihre Blicke zu, so fragt sich's doch sehr, ob ihre Betrachtung wirklich erbauend und auf den Glauben wirke. Es gibt eine sinnige und gefühlvolle Betrachtung der Natur, welche darum doch noch keine fromme ist. Eine Meisterhand schildert sie uns auf folgende Weise: „Einem tiefen Gefühl, welches uns mit der Natur verbindet, enthüllt sie ein verborgenes Leben, verwandt dem Leben unsers eignen Geistes. Wir begrüßen sie, wie die stille, wohlbekannte Heimat unsrer Kindheit; was in uns selbst klar und bestimmt sich gestaltet, finden wir dunkel in ihr vorgebildet; darum weckt sie in uns eine Welt von Empfindungen, das innerste Leben unseres Gemüts, Schmerz und Lust, sanfte Wehmut, heimliches Grauen, ängstliches Schrecken, stilles Staunen, unendliche Sehnsucht, süßes Behagen, seliges Entzücken. Der rauschende Wald lockt uns in seine dunkle Einsamkeit, als verbärge er irgend ein wundersames Geheimnis, der stolze Berg und seine weite Aussicht gewährt uns das kräftige Gefühl der Freiheit und Erhabenheit über das kleinliche, beschränkte Treiben der Welt; aber mit sanfter Gewalt zieht uns das stille Tal hernieder in seine engen traulichen Räume. Die Blumen mit ihrem zarten Duft und ihrer bunten Farbenpracht, der klare Bach mit seinen silbernen Wellen, der breite Strom mit den rauschenden Wogen, der Sturm, der über uns dahin braust, die fliegenden Wolken, die leuchtende Sonne, Feld und Wald, Berg und Tal - Alles redet zu uns, wir verstehen ihre Sprache, sie enthüllen und verschlossene Tiefen unsres eignen Gemüts die in ihnen ihr Bild und Gleichnis wiederfinden; sie sagen uns Alles, nur von Gott, von ihrem und unserm Schöpfer sagen sie uns nichts1).“ Diese Betrachtung der Natur ist eine sehr gewöhnliche; aber wir müssen mit dem Manne, den wir so eben reden ließen, sagen: „Wir verkennen nicht den Wert jener gefühlvoll genießenden Betrachtung der Natur; aber für uns (Christen) hat diese noch eine höhere Bedeutung.“ Wir lernen aus ihr die Macht kennen, die alles schuf und erhält, die Liebe, die allem Fleische seine Speise gibt, die Allgenugsamkeit, die aller geschaffenen Wesen für sich selbst nicht bedarf, das ewige Wesen, welches der Wandel des Vergänglichen nicht berührt; von seiner Größe und Erhabenheit sagt ein Tag dem andern, und eine Nacht erzählt's der andern; seine Ehre erzählen die Himmel. Aber wenn wir auch alles Dasjenige zusammenfassen, was eine gläubige Anschauung der uns umgebenden Welt uns zu Gemüte führt, so sind es doch nur jene allgemeinen Umrisse, dass ich so sage, auf welche der Apostel zu Anfang seiner ersterwähnten Rede hinwies. Davon, dass wir Sünder sind und mit Sünden vor Gott nicht bestehen können, dass wir aber Vergebung derselben erlangen, mit Gott in Gemeinschaft treten und allen Frieden dieser Vereinigung schon auf Erden und noch mehr im Himmel genießen sollen, davon steht Nichts im Buche der Natur. Dies enthüllte uns erst eine besondere Offenbarung Gottes, auf welche die Offenbarung in der Schöpfung nur vorbereitet. Unser ganzes persönliches Verhältnis zu Gott, über welches wir doch am Meisten werden Aufschluss zu haben wünschen, wird in der Betrachtung der Natur nicht berührt. Dazu kommt noch Eins. Die Erbauung, die wir hier genießen, wird uns immer nur als Einzelnen zu Teil, höchstens genießen wir sie in dem engen Kreise der Unsrigen; aber das Bewusstsein, einer größeren Gemeinschaft Glied zu sein, ist doch zu unvertilgbar in uns, als dass wir nicht gerade als Glieder dieser Vereinigung Erbauung suchen und solche aller anderen überordnen sollten. Diese aber wird uns nur in der kirchlichen Gemeinschaft und auf Grund jener höheren Gottesoffenbarung zu Teil.

Das Letztere ergibt sich schon daraus, dass es einer Naturreligion, beruhend auf Grundlagen allgemeiner Vernunftwahrheiten, niemals gelungen ist, eine dauernde, oder überhaupt nur eine Gemeinschaft zu bilden; dass die alte Zeit hiervon ausgeschlossen ist, erhellt von selbst, weil die Naturreligion dort etwas anderes war, als was man jetzt unter diesem Ausdruck erstrebt. Die kirchliche Gemeinschaft aber, auf Grundlage der Offenbarung in Christo gegründet, verlangt mit Notwendigkeit einen Gemeine-Gottesdienst. Wir würden es an uns selbst empfinden, und es brauchte nicht weitläufig auseinandergesetzt zu werden, wenn das Bewusstsein, Glieder am Leibe Christi zu sein, unter uns recht lebendig wäre. Mit dem Schwinden jenes Bewusstseins hat aber auch unser Gottesdienst eine ganz schiefe Stellung erhalten. Wir meinen immer, dass ich hiermit beginne, die Predigt sei die Hauptsache desselben, deshalb finden wir uns im letzten Gesange, vielleicht gar im letzten Verse ein, singen denselben wohl gar nicht einmal mit und betrachten überhaupt diese Anordnung, als eine dazu getroffene, dass man während der Zeit sich versammle und die hierdurch entstehende Unordnung und Unruhe gewissermaßen durch den Gesang verhindert oder verdeckt werde. Demgemäß entfernen wir uns auch, wenn der Prediger die Kanzel verlässt und unsre Unterhaltung dreht sich nun um die Predigt, als das Einzige, das wir im Gottesdienste gehabt haben. Durch diese Einzelstellung, welche die Predigt in unserm Gottesdienst erhielt, ist manche Einwendung gegen denselben überhaupt veranlasst worden. War nämlich einmal das Gemeindebewusstsein dahin, und blieben nun für die Predigt immer dieselben Gegenstände der Behandlung, so konnten träge Gemüter bald sagen: Was soll ich dies immer wieder hören! das weiß ich schon zur Genüge, was ich in der Kirche zu hören bekomme2)“. So ist's bei der Handhabung des Gottesdienstes auch gekommen, dass an manchen Orten wesentliche Bestandteile desselben allmählich wegfielen (z. B. das Sündenbekenntnis und der Glaube), dass derselbe nach und nach eine solche dürre und hagre Gestalt annahm und die Gemeinde ganz der Willkür dessen Preis gegeben war, welcher die Predigt hielt. Das ist der Weg, auf dem das Schwinden des kirchlichen Lebens den Gottesdienst zum Sinken brachte und der zusammenschrumpfende Gottesdienst wiederum den Verfall des kirchlichen Lebens beschleunigte. - Soll's besser werden, so haben wir Gott zuvorderst zu bitten, er wolle das Bewusstsein unter uns wecken und nähren, dass wir Glieder am Leibe Christi sind und dass die Christen mit einander ein Ganzes bilden, unter Einem Haupte stehend. Dann wird uns in die Kirche führen das Bedürfnis, immer aufs Neue mit einander unsre Hilfsbedürftigkeit auszusprechen und den Weg zu rühmen, auf dem uns Rettung zu Teil geworden ist - so wird im Gottesdienst das Sünden- und Glaubensbekenntnis nicht fehlen dürfen -, ferner das Verlangen, in christlicher Erkenntnis zu wachsen und aus dem Born des göttlichen Wortes immer neuen Trost und neue Kraft zur Heiligung zu empfangen dies die Aufgabe der Predigt, und endlich das eben so rege Bedürfnis, mit und für einander zu beten - dies der Zweck des gemeinsamen Gesanges und der Gebete, welche der Geistliche im Namen der Gemeinde spricht. Alle diese Teile werden als gleich wichtig alsdann betrachtet werden; wir werden nicht, wie es häufig geschieht, Reizung der Tränendrüsen für das Höchste halten, das der Gottesdienst bewirken kann; denn eine Predigt, die weiter nichts als dies vermochte, würde dann, wie es jetzt nicht der Fall ist, hinter dem Festen und Unwandelbaren der gemeinsamen Andacht verschwinden und nur um so deutlicher uns zeigen, wie sehr wir für die Unerschütterlichkeit unsers kirchlichen Grundes Gott zu loben verpflichtet sind. Das ist also der Zweck, den der Gottesdienst zu erstreben hat. Denen gegenüber, welche die vorstehende Redeweise führen, wird freilich das Gesagte in den Wind gesprochen sein, weil ihnen überhaupt das christliche Bewusstsein fehlt und selbst ihre gepriesene Naturbetrachtung auf den Namen der christlichen keinen Anspruch machen kann. So mögen denn aber allen ernsteren Gemütern diese Worte eine Veranlassung sein, Gott zu bitten, dass er unsre Gottesdienste wieder neu belebe und sich deren wieder Viele finden, die mit dem Psalmisten sprechen: „Ich habe lieb die Stätte Deines Hauses und den Ort, da Deine Ehre wohnt (Ps. 26,8).“

1)
Das christliche Leben, seine Entwickelung, seine Kämpfe und seine Vollendung, dargestellt in einer Reihe von Predigten von Dr. Julius Müller. Bresl. 1838. 2te Aufl. Seite 128.
2)
Hiergegen heißt es trefflich in einer Tholukschen Predigt (Band III Seite 244): „Es ist allerdings das alte Evangelium, mit dem wir immer wieder auf die Kanzel treten, aber das macht das alte Evangelium immer wieder neu, dass das edle Metall, das aus diesem göttlichen Schacht geholt wird, so viele Gepräge und Formen annimmt, als es Bedürfnisse der Menschen gibt, und wir Prediger rollen nun die Woche über, schmelzen und prägen, was gerade unserer Zeit, was unserer Gemeinde, ja was den einzelnen Herzen, die wir kennen, insbesondere not tut.“ Und folgende Worte, aus derselben Predigt genommen, geben uns Einen der Erklärungsgründe, weshalb es überhaupt dahin kommen konnte, dass Einwände wie die oben erwähnten gegen den Kirchenbesuch gemacht werden: Wenn die Kirchen jetzt leer stehen, wir Prediger dürfen ja die Schuld nicht bloß auf Euch, Zuhörer, wälzen, dass Ihr nicht zu hören wüsstet, wie es frommt; wir wissen auch nicht zu predigen, wie es frommt. Bald fühlen wir nicht, was wir sagen, bald wissen wir nicht recht zu sagen, was wir fühlen, bald lehren wir nicht, was wir sollen, bald lehren wir's, aber so, dass es hier auf der Kanzel ein Wetterleuchten ist über Euren Häuptern, aber nicht ein Blitzschlag in Eure Herzen.
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