Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 6, 15-23. Gebunden an die Gerechtigkeit.
Zweimal wurde dem Apostel das Gesetz als Bollwerk gegen das Evangelium und als Hindernis des Glaubens entgegengehalten. So benutzten es zunächst die ungläubigen Juden, die Jesum deshalb verwarfen, weil sie ihre Zuversicht auf das Gesetz stellten und mit den Pharisäern in Jerusalem sprachen: wir sind Moses Jünger; von diesem Jesus aber wissen wir nicht, woher er ist. Sie rechneten sich um des Gesetzes willen zu jenen Gerechten, für die Jesus nicht gekommen ist. So ward ihnen das Gesetz zur Verhinderung des Glaubens schon vom ersten Anfang an. Darum begann der Apostel den Brief damit, Kap. 2 und 3, dass er jene unaufrichtige heuchlerische Zuversicht zum Gesetz zerstörte, die sich wohl der Werke des Gesetzes rühmt, aber die Übertretungen desselben nicht achtet. Aber das Gesetz begegnete ihm auch in der Gemeinde selbst als Hemmung des Glaubens, auch unter denen, die gläubig zu Christo hinzugetreten waren, und hier dann, wenn es sich um die christliche Lebensordnung handelte. Da meinte mancher, er müsse zum Glauben an Christus nun noch ein Gesetz hinzufügen; man finde bei Christus wohl Vergebung der Sünden und die Hoffnung aufs Himmelreich, dann aber gelte es, sich nach einem Gebot umzusehen, welches uns befehle, was wir tun und lassen müssten. Darum geht der Apostel in einer zweiten Besprechung, 6, 15-7, 25, nochmals auf das Gesetz ein, um uns zu zeigen, dass wir zur Ausrichtung unsres Berufs uns nicht von Christo abzukehren haben, vielmehr in ihm alles finden, was wir bedürfen, damit unser Leben ein wahrhaftiger Dienst Gottes sei.
Warum hat Paulus mit so großem Ernst die Aufrichtung des Gesetzes nicht nur gegen, sondern auch neben, Christus abgewehrt? Sie hebt beides, den Glauben und das Wirken, auf. Nicht darin besteht die Schwächung und Trübung des Glaubens, dass wir uns die Gebote Gottes in ihrer unverletzlichen Heiligkeit und ihrem drängenden Geheiß klar machen und vor der Seele halten. Das gehört im Gegenteil zu den Wirkungen und Früchten des Glaubens in uns, und Paulus selbst hilft uns fleißig dazu durch die mannigfachen Gebote, durch welche er uns anweist, unser Leben einzurichten nach Gottes Willen und Christi Sinn. Wenn wir aber gläubig auf das Gebot Gottes sehen, so halten wir fest, dass in Christo das Gebot mit der Gabe vereinigt ist und all unser Wirken deshalb auf unserem Empfangen steht. Der Dienst, den Gott in Christo von uns fordert, besteht darin, dass wir seine Gabe nehmen, bewahren und in und durch uns schaffen lassen, was sie schaffen will. Stellen wir aber neben Christo ein Gesetz, so reißen wir das Gebot von der Gabe los, und gehen darum nicht glaubend an dessen Ausführung, sondern betreiben sie als unser eignes Werk. Dann hört uns Christi Werk und unser Empfangen und Schöpfen aus seiner Fülle gerade bei der Hauptsache auf, nämlich da, wo es sich um unsern Gottesdienst handelt, und wir trauen ihm nicht zu, dass er uns ausrüste und befähige zu einem rechtschaffenen Dienst Gottes in allem guten Werk, sondern helfen seinem Werk mit unsrer Frömmigkeit nach. Dann ist unser Vertrauen auf den Herrn nicht mehr völlig, unser Glaube geknickt und gebrochen; wir haben der Macht und Gabe Christi ungläubig Schranken gesetzt.
Mit dem Glauben geht aber auch das Wirken unter. Zum Wirken nach Gottes Sinn bringen wir es nur dann, wenn es aus und mit seiner Gabe geschieht. Wir empfangen unsre Werke, finden sie aber nimmermehr, wenn wir sie bei uns selber suchen.
Paulus erläutert die Stellung zum Gesetz unter drei Gesichtspunkten. Zuerst zeigt er uns, dass wir dazu, um von der Sünde geschieden zu werden, nicht erst des Gesetzes bedürfen, als stünden wir ohne dasselbe der Sünde innerlich nah und offen, 6, 15-23. Aber damit, dass wir des Gesetzes nicht bedürfen, ist die Frage noch nicht vollständig beantwortet. Es fragt sich weiter: dürfen wir uns denn vom Gesetze lösen, ohne dass darin ein eigenmächtiger Riss durch dasselbe, eine Auflehnung und Empörung wider dasselbe liegt? Darauf antwortet der nächste Abschnitt, 7, 1-6. Und nun zeigt er uns, dass uns die Befreiung vom Gesetz nötig ist, weil es uns in der Sünde festhält, 7, 7-25. So bahnt er sich wieder den Weg zu einer neuen vertieften Betrachtung der Gabe Christi hin.
Zu solcher Erhebung über das Gesetz hat Paulus schon dadurch einen guten Grund gelegt, dass er uns im ersten Abschnitt des Kapitels, 6, 1-14, das christliche Leben vorzeichnete, wie es wird, wenn wir uns ganz und aufrichtig an Jesus halten. Jene Anweisung zum christlichen Wandel hat uns nicht an das Gesetz, sondern ausschließlich und vollständig auf Christum verwiesen. Und doch führt sie uns unzweifelhaft in eine rechtschaffene Heiligung und einen redlichen Wandel vor Gott. Treten wir in die Ähnlichkeit mit Christo, begehren wir für uns das, was wir an ihm sehen, greifen wir nach seinem Tod und Leben als für uns bestimmt, so sind wir auf die richtige Bahn gestellt. Der Tod Jesu tritt als Scheidewand zwischen uns und unsre Sünde, und das verklärte Leben Jesu richtet unser Trachten auf das wahrhaftige Ziel und macht es zu einem Leben für Gott. So ist uns bereits gezeigt, dass wir des Gesetzes nicht bedürfen. Aber Paulus tritt nun noch ausdrücklich auf die Frage ein, ob nicht unsere Trennung von der Sünde und unser Widerstand gegen sie dadurch geschwächt und gelockert sei, wenn kein Gesetz mit seinen Verboten und Drohungen auf uns liegt, Vers 15.
Er antwortet: wem du gehorchst, dessen Knecht wirst du, und dies gilt wie von der Sünde, so auch von der Gerechtigkeit. Es hebt sich die sündige Lust und Begehrung in mir empor und klopft bei mir an, ob ich sie aufnehme in meinen Willen; ich gehorche ihr und senke mein Wollen in diesen schlimmen Reiz hinein; bleibt das etwa ohne Folgen und Nachwirkung? O nein! damit findet eine Bindung an die Sünde in mir statt, die ich nicht nach meinem Belieben wieder aufheben und auslöschen kann, die vielmehr in mir fortwirkt und mein Trachten immer neu sündlich erregt und bestimmt. Der Sünde gehorchen, das heißt sich ihr zum Knecht hingeben und sie zum Herrn über uns setzen, dem wir nun dienen. müssen, und zwar bis in den Tod hinein. Und gerade darin, dass uns die Sünde zum Tode führt, erweist sie sich als unsern Herrn, der uns sich unterworfen hält, da ich ja vor dem Tode innerlich erschrecke und keineswegs meine Lust an ihm habe, und nun doch mich selbst in ihn hineinarbeiten muss, nicht weil ich will, sondern weil ich muss als der Sünde Knecht.
Aber diese bindende Kraft in unserem Gehorchen wird nicht nur dann wirksam, wenn wir der Sünde gehorsam sind, sondern auch dann, wenn wir unsern Gehorsam auf die Gerechtigkeit richten. Sie macht uns auch zu ihrem Knecht, sowie wir ihr gehorchen, und wird in uns eine Macht, der wir dienen müssen, weil sie uns in unsrer Lust und Begehrung an sich gekettet hält, so dass es heißt: ich kann nicht ohne die Gerechtigkeit sein und wenn es mich das Leben kostet, lieber das Leben verloren, als die Gerechtigkeit. Gleichwie die Sünde, wenn ich sie durch meinen Gehorsam ergreife, ihrerseits mich ergreift und festhält, so lässt mich auch die Gerechtigkeit, wenn ich meinen Gehorsam ihr ergebe, nicht los, sondern nimmt mich in ihren Dienst, der mich inwendig mit einem festen Bande an sie knüpft. Und wie ich kein Gesetz bedurfte, um zu sündigen, und es nicht nötig war, dass mir von außen zugerufen wurde: nun sündige dies und nun das! wie vielmehr in meinem bösen Willen sich Lust an Lust erzeugte und Begier an Begier, so dass ich fortgetrieben wurde, sogar dahin, wohin ich nicht wollte, also bedarf ich zur Gerechtigkeit keines Gesetzes, das mich von außen immer wieder stieße und triebe: nun mach es so und nun tue das, sondern es führt auch hier Gehorsam zu Gehorsam und Lust zu Lust und die Gerechtigkeit pflanzt sich meinem Willen ein, so dass derselbe in ihr lebt und webt.
Damit erweitert und ergänzt der Apostel den Blick, den uns der erste Teil des Kapitels eröffnet hat. Dort sahen wir, wie uns die Scheidung von der Sünde und die Aufrichtung zu Gott von Christo her als Gabe zugefallen ist, wie aber diese Gabe immer neu von uns ergriffen und festgehalten werden muss. Und nun zeigt er uns, wie unser Griff nach dem, was Christus ist, uns nicht in einen losen, schwankenden und schwebenden Zustand versetzt, so dass wir uns immer wieder nach allen Seiten hin zur Sünde wie zur Gerechtigkeit bewegen. könnten; nein, unser Griff nach der Gerechtigkeit führt ins Ergriffensein durch sie; und wir halten uns an das, was uns hält. Wir haschen nicht nach etwas, was sich unsrem Griff entzieht, so dass es ein eitles Bemühen wäre und ein erfolgloses Beginnen, das immer von neuem anfangen muss, sondern aus dem Gehorsam sammelt sich uns das Vermögen und aus der Entscheidung wird Entschiedenheit. Gehorche nur von Herzen, steh darauf, dass du der Sünde tot, aber für Gott lebendig bist, so wächst das, was Christi Tod und Leben uns bereitet hat, in dir aus zu einer festen Lebensgestalt, und die Scheidung von der Sünde und der Dienst Gottes schreitet vor von Kraft zu Kraft.
Nicht das sagt Paulus, dass wir deshalb des Gesetzes nicht bedürfen, weil wir nur von innen heraus geleitet würden, so dass wir bloß unserem innern Trieb zu folgen hätten. Nein, das was uns leitet, steht über uns und darum zunächst außer uns. Wir bedürfen der Lehre, der wir übergeben sind, Vers 17. Sie ist der Weg, der uns zu Christus leitet, das Mittel, durch welches er uns nahe kommt. Der Apostel sagt mit Absicht hier nicht, dass die Lehre uns übergeben sei, sondern umgekehrt, dass wir ihr übergeben sind. Sie ist nicht in unsre Macht gelegt, so dass wir sie bilden und gestalten könnten, nach unsrem Gutfinden, sondern sie muss bleiben, wie sie Zone aus Gottes Wort und Werk hervorgegangen ist, und wir sind unter ihre Macht getan. Das ist die Leitung und Weisung von außen, ohne die unser Leben verkümmert und irre geht. Aber werden wir der Lehre von Herzen gehorsam, so zieht sie in uns ein und wird Regent in uns. Das Band wird uns nicht nur auswendig angelegt, so dass inwendig ein Widerstreben gegen dasselbe bliebe, die Lehre Gottes macht uns vielmehr sich herzlich und völlig untertan in der Macht ihrer Wahrheit und Gerechtigkeit. Das gibt jene selige Harmonie, wo die Stimme, die von außen zu uns redet, und die Stimme, die in uns selber spricht, einstimmig sind. Diese Harmonie schafft nur Gottes Wort.
Es sind also in unsrem Leben Freiheit und Gebundenheit beisammen, und die eine entsteht nur durch die andere, V. 18-20. Wir werden nicht anders von der Sünde frei, als so, dass wir an die Gerechtigkeit gebunden sind, und nicht anders von der Gerechtigkeit frei, als so, dass wir an die Sünde gebunden sind. Wir können nicht nach allen Seiten zugleich losgebunden, aber auch nicht nach allen Seiten hin zugleich festgebunden sein. Jeder Dienst hat seine Freiheit, jede Zuneigung ihre Abneigung, jeder Glaube seinen Unglauben neben sich. Sage mir, wem du glaubst, so will ich dir sagen, wem du nicht glaubst; was du ergreifst, zeigt, was du fahren lässt; indem du dir deinen Herrn wählst, bestimmst du auch, von wem du los und ledig bist. Nun hat uns Christus die Gerechtigkeit zum Bande gemacht, in das wir eingefasst sind, so sind wir damit der Sünde gegenüber in die Freiheit versetzt.
Der Apostel lockt uns zum Gehorsam dadurch, dass er uns das Ende der beiden wider einander stehenden Dienstverhältnisse vor Augen hält, V. 21-23. Wir wissen, was die Knechtschaft unter der Sünde uns einträgt, Dinge, deren man sich schämt, sowie Licht in unsern Geist eindringt und das Auge helle wird, und das Ende ist der Tod. Aus dem Dienste der Gerechtigkeit kommt uns dagegen Heiligung. Das ist der kostbare Gewinn und Ertrag, mit dem uns die Gerechtigkeit unsern Gehorsam lohnt; wir empfangen die Würde und Weihe dessen, der Gottes Eigentum geworden ist. Seine Heiligkeit legt ihren Glanz auf uns und sein herrliches Bild leuchtet wieder auf in uns, und das Ziel und Ende ist ewiges Leben. Hat uns Gott solches in Christo als die Gabe seiner Gnade vorgelegt, wie sollten wir ihm nicht von Herzen gehorsam sein?