Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 5, 12-21. Adam und Christus.
Unser Verhältnis zu Gott hat eine helle, lichte Gestalt erhalten, und Paulus könnte nun weitergehen zu der Frage: was fangen wir nun mit Welt, Fleisch und Sünde an? Er macht jedoch wiederum Halt und schaut zurück in den Gang der Weltgeschichte, in die göttliche Weltregierung, wie sie den Verlauf des gesamten menschlichen Lebens geordnet hat. Er zeigt uns die Einheit, die Harmonie, den Frieden, den Gottes Rat dem Gang der Menschheit gibt, und macht damit zugleich sichtbar, wie die ganze Leitung der Menschheit auf den Glauben zielt, wie er das Resultat und Ergebnis ist aus Gottes ganzer Führung, nach der er die Menschheit geleitet hat.
Was wir von Natur sind und was wir durch Christus sind, das entspricht einander genau, zunächst freilich als ein Gegensatz, denn von Natur stehen wir im Mangel, in der Leere, in der Sünde, im Tode; durch Christus dagegen entsteht die Gabe, die Fülle, die Gerechtigkeit, das Leben. Nun ist aber die Gabe so beschaffen, dass sie den Mangel gänzlich deckt, und die Fülle so reich, dass sie die Leere völlig aufhebt; der Sünde tritt die Gerechtigkeit in solcher Gestalt entgegen, dass sie ihr gewachsen ist, und dem Tode das Leben so, dass es denselben überwunden hat. Dies stellt Paulus dadurch ins Licht, dass er Adam, von welchem der Naturcharakter unseres Lebens kommt, und Christus, durch welchen es neu gestaltet wird, nebeneinander stellt und die Übereinstimmung in der Stellung und Wirkung beider zeigt.
Sünde und Tod entstehen in uns nicht erst durch unsre Wahl und unsern Entschluss. Die Paradiesesfrage: willst du sündigen oder in der Unschuld bleiben? willst du sterben oder leben? ist durch den Fall des ersten Menschen für alle entschieden und wird uns nicht mehr vorgelegt. Längst ehe wir zu bewusstem Handeln und eigner Entscheidung gelangen, hat sich jene Wahl auch für jeden einzelnen unter uns geschlossen. Wir sind in die Sündhaftigkeit und Sterblichkeit hineingestellt und ihnen untergeben als königlichen Mächten, denen sich niemand entziehen kann. Darum erinnert der Apostel an jene Geschlechter, die nicht mehr in der Unschuld standen wie Adam, die das Gebot, das zur Bewährung der Unschuld gegeben war, nicht selber übertreten haben, und doch auch noch nicht selber unter das Gesetz gestellt waren, sondern ohne Gesetz sündigten, und dennoch der Macht des Todes erlagen, Vers 12-14, zum Beweise dafür, dass der Tod sein Anrecht an uns nicht erst auf unser eignes Handeln gründet, sondern mit königlicher Obmacht vom ersten Menschen an unser ganzes Geschlecht umfasst.
Aber hinter dieser Macht der Sünde und des Todes stehen die Gerechtigkeit und das Leben nicht zurück. Auch sie entstehen nicht erst durch unsern Willen als unser Erwerb und unser Werk, sondern sind durch Jesus für unser ganzes Geschlecht in seinen vielen Gliedern hergestellt und erworben. Sie kommen uns als Gaben zu, die uns bereitet sind, ehe wir wollen und wirken konnten, als ein Erbe, das uns zugefallen ist durch den Willen dessen, der es uns zugedacht hat. Auch die Gerechtigkeit und das Leben sind durch Christus in der Menschheit königliche Mächte geworden, für alle fest gegründet, unzerstörbar, durchwirkend durch alle Geschlechter der Erde. Jeder Mensch, der geboren wird, hat an der Sünde und am Tode Teil, jeder Mensch aber auch Anteil an der Gerechtigkeit und am Leben, weil Christus sie auch für ihn erworben hat. Im Gebiet der Sünde wie der Gerechtigkeit ist das Erbe das erste, unser eignes Verhalten und Wirken das zweite, das erst aus jenem Erbe entsteht und nach demselben gestaltet ist. Wie wir freilich hernach mit unsrem eignen Wollen und Wirken in die Sünde eingehen und uns selbst den Tod bereiten, so haben wir uns auch mit unserm eignen Glauben, Lieben und Dienen der. Gerechtigkeit zuzukehren und unsre Seligkeit zu schaffen, aber wir wachsen damit in eine Gerechtigkeit hinein, die uns bereitet ist.
Durch einen Menschen kam die Sünde und der Tod zu allen und wiederum durch den einigen Menschen, Jesus Christus, ward uns die Gerechtigkeit und das Leben gebracht. Es geht hier wie dort nach derselben Ordnung Gottes, welche uns nicht von einander ablöst und isoliert, sondern uns verbindet und zusammenfasst, und uns ein Haupt setzt, auf das wir angewiesen sind und dem wir gleichgestaltet werden. Unser natürliches Haupt ist Adam, dessen Kinder wir alle sind. Das, was er sich von Gott erwarb, wurde unser aller Eigentum, und weil er durch Sünde und Fall Gericht auf sich herabzog, liegt dies auf uns allen zu unserer Verurteilung. Nun aber erschien der neue Mensch, Jesus, von dem Adam erst das irdische, natürliche Vorbild war, während Jesus das wahrhaftige uns von oben gegebene Haupt unsres Geschlechtes ist, auf das wir alle gewiesen sind, dass wir ihm verbunden seien in Geist und Glaube, wie wir mit Adam verbunden sind durch Fleisch und Blut. Was er von Gott empfangen hat, erhält er zugleich für uns zu unserm Besitz. Darum wird die Gerechtigkeit, die in ihm ist, für uns alle zur Rechtfertigung.
Auch die innere Wurzel dieser auf alle überströmenden Wirkung entspricht sich hier und dort. Adam hat uns in die Sünde und den Tod hinabgezogen durch Ungehorsam, Christus uns in die Gerechtigkeit und das Leben erhöht durch Gehorsam. Dort steht Adam, welcher die Schranken, die Gott ihm gesetzt hat, nicht ertragen wollte, sondern selber nach der Frucht der Erkenntnis griff, weil er sich nicht leiten lassen mochte von Gott, vielmehr selbst weise sein wollte und gleich zu werden begehrte wie Gott; hier steht Jesus, welcher nicht nach der Gestalt Gottes griff, als nach seinem Besitz, sondern sich dem Vater untergab und die Knechtsgestalt sich wohlgefallen ließ, und sich beugte unter Gottes Hand bis in den Tod hinab, und nicht gleich sein wollte wie Gott, sondern gleich ward wie wir in Selbsterniedrigung. So hat Christus wider den Ungehorsam den Gehorsam gestellt; ward jener für uns alle zur Scheidung von Gott, so hat dieser unsre Trennung von ihm überwunden und uns zu ihm hinzugebracht.
Aber nein! nicht nur im Gleichgewicht steht Adams und Christi Werk, sondern dieses hat das Übergewicht und die Übermacht. Hat der Fall alle betroffen, so hat die Gnade noch viel mehr alle umfasst. Hat das Gericht den einen Fall des einen Sünders heimgesucht, so hat die Gnade den vielfältigen Fall der vielen Sünder in Gerechtigkeit verwandelt. Durfte der Tod sich zu königlicher Macht erheben, so ist das Leben noch viel mächtiger als er und wird uns noch viel gewisser ins königliche Herrschen führen um der Gerechtigkeit willen, die uns gegeben ist. Dieses „noch viel mehr“ beruht darin, dass in Christi Werk die Güte Gottes erscheint, der auch sein Recht und Gericht dienen muss. Hat Gott sein strafendes Urteil zum Weltgesetz gemacht, das alle bindet, so ist das Werk seiner Güte noch fester und mächtiger, je mehr es Gottes innerstes Wesen und Wollen zur Offenbarung bringt.
Die große Wandlung uns zur Hilfe, die über die Wirkungen der Sünde diejenige der Gerechtigkeit und über die Macht des Todes diejenige des Lebens sei, ist erst durch Christus eingetreten, nicht schon durch das Gesetz. Denn nicht im Gebot, sondern in der Erfüllung desselben im vollkommenen Gehorsam Christi entspringt uns der Lebensquell. Darum gehört das Gesetz noch in die von Adam ausgehende Verkettung der Sünde und des Todes hinein und verschärft sie, weil es mit seinem Licht die Sünde sündiger, den Widerstreit wider Gott direkter und den Abfall von ihm tiefer macht. Und doch dienet es auch so der Gnade, denn je tiefer der Fall wird, um so kräftiger entzündet sich an ihm das göttliche Erbarmen. Je größer die Not wird, um so näher ist die Hilfe, um so näher Gott, der ob auch der Mensch von ihm abfällt, ihn doch seinerseits nicht fallen lässt, sondern seiner mächtigen Sünde eine noch mächtigere Gnade entgegenbringt.
Das sind nun freilich alles Glaubensworte, deren Wahrheit wir nicht mit den Sinnen messen und mit den Händen greifen können. Sünde und. Tod haben sich in unsre Natur eingesenkt und pflanzen sich darum vor unsern Augen fort. Aber Gnade, Gerechtigkeit und Leben sind. nicht Natur, sondern des Geistes Wesen und Frucht, und Geist ist uns noch das Verborgene. Aber können wir im Blick auf Jesu Gehorsam, auf Jesu Auferstehung, auf die Gnade, die in ihm erscheint, ungläubig sein? Nein! nichts anderes als Glaube ist der durch Gottes Weltregierung uns angewiesene Ort. Auf ihn zielt die Doppelwirkung hin, die von den beiden Häuptern der Menschheit auf uns übergeht. Da wir durch den Fall des einen Menschen in die Sündigkeit und Sterblichkeit hineingesetzt sind, ist uns jeder andere Weg verschlossen als der des Glaubens; und eben dieser Glaubensweg ist uns durch den Gehorsam unseres neuen Herrn und Hauptes aufgetan. Gott hat unsre Natur durch Adams Fall darum so arm und bedürftig werden lassen, weil er uns durch den Glauben helfen will, und eben darum uns alle Christo untergeordnet, so dass nicht das, was wir selbst erwerben und erwirken, sondern das, was Christus hat, unsere Gerechtigkeit und unser Leben ausmacht. Er aber hat einen Reichtum, der für unsre Bedürftigkeit voll genügt; darum können und dürfen wir glauben in ihm.