Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 3, 1-20. Der Vorzug des Juden.
Im vorangehenden hat Paulus den Juden wie den Heiden unter dieselbe Regel Gottes gestellt, eine und dieselbe Sünde beiden vorgehalten und eine und dieselbe Verdammnis beiden angekündigt. Er hat die Gleichheit aller vor Gott festgestellt und jede Ausflucht abgewiesen, die irgendwie eine bevorzugte Stellung für sich in Anspruch nehmen wollte. Da tönt es ihm wie ein Angstruf aus dem jüdischen Herzen entgegen: wo bleibt der Vorzug Israels und der Segen der Beschneidung? Aber auch in denjenigen Christen, die aus heidnischer Umgebung kamen, musste diese Frage lebhaft geweckt sein, und auch für sie hatte sie Bedeutung. Israel war ja nach der Schrift das von Gott berufene, heilige Volk und nun so völlig hinuntergebeugt unter dasselbe Gesetz, in dieselbe Sünde und in dasselbe Gericht, wie sie auf den Heiden lasteten; hebt das nicht Israels Berufung auf? Paulus weicht der Frage nicht aus, obwohl sie über seinen gegenwärtigen Gedankengang hinübergreift und er die Absicht hatte, sie später eingehend zu erörtern, vgl. Kap. 9-11. Doch muss schon jetzt einiges Licht auf sie fallen, sonst bleibt sie als ein Hindernis in den Lesern zurück, das sie hemmt, sich ohne Vorbehalt und Hintergedanken unter Gottes Recht zu beugen und allein in Christo ihre Gerechtigkeit und ihr Leben zu suchen. So bilden die Verse 1-8 wohl eine Ausbiegung aus der Hauptrichtung dieses Abschnitts, aber nicht eine Abschweifung von seiner Absicht, die auf die Beseitigung aller Glaubenshindernisse und das Entstehen eines ungeteilten, ungebrochenen glaubenden Verhaltens zielt.
Der Vorzug Israels ist groß auf alle Weise, was immer in Betracht gezogen werden kann und geschehen mag, Vers 2. Damit nimmt Paulus von dem, was er gesagt hat, keinen Buchstaben zurück; er wiederholt es vielmehr sofort in aller Schärfe: haben wir einen Vorzug? gar keinen! wir sind einander völlig gleich, Vers 9. So steht hier also ein Ja und ein Nein unmittelbar nebeneinander. Sucht nämlich der Jude seinen Vorzug bei sich selbst in seinem eigenen Verhalten, hebt er sich selbst über den Heiden empor, als wäre er ein Mensch höherer Art, dann gilt: nein! einen Vorzug hast du nicht! was du in dir selber trägst, sieht heidnisch aus. Fasst er aber das ins Auge, was Gott ihm verheißen und gegeben hat, dann gilt: ja! dein Vorzug ist unermesslich groß. Uns Christen kann dieses Ja und Nein zugleich unmöglich unverständlich sein. Haben wir einen Vorzug vor denen, die Christum nicht kennen? Wie wollen wir hierauf anders antworten als Nein und Ja? Nein, nein! wir sind ihnen völlig gleich; dieselben Triebe und Kräfte sind in uns wie in jenen, dasselbe Fleisch und Blut, dasselbe Herz. Aber bei diesem Nein können wir‘s nicht lassen, sonst würden wir ja Christi Gabe verleugnen. Es besteht zwischen dem, der Christum kennt, und dem, der ihn nicht kennt, ein absoluter Unterschied, den wir allerdings nur mit Furcht und Zittern bejahen, aber nimmermehr verleugnen dürfen, der uns von einander scheidet wie Licht und Finsternis, Leben und Tod, Geist und Fleisch. Dieser Unterschied liegt nicht an dem, was wir in und durch uns selber sind, sondern an dem, was Gott uns gab und in unser Erkennen, Lieben und Leben hineingeboren hat. Die Gabe Gottes an Israel besteht vor allem darin, dass sie mit seinen Worten betraut sind,
Vers 2. Das ist der Segen, den die Beschneidung den Beschnittenen bringt: sie bezeugt ihnen, dass Gott sie zu Empfängern und Bewahrern seines Worts gemacht hat, das sie als das kostbare Gut, das ihnen anvertraut ist, tragen dürfen durch die Welt. Und wenn sie bedenken, was es heißt, Gott reden gehört, seine Worte vernommen zu haben und sie zu besitzen, wie kann ihnen denn der Vorzug Israels dahingefallen scheinen? Damit sind sie geehrt, geadelt, hoch erhoben über die Heiden und in eine Würde unvergleichlicher Art gesetzt.
Paulus legt uns hier die Art des Glaubens vor, der allerdings Gott allein preist, doch nicht so, dass ihm damit der Mensch gleichgültig und verächtlich würde; vielmehr wird er ihm groß und der Bewunderung wert um deswillen, was Gott ihm gibt. Denn Gott wirft seine Gaben nicht unter die Menschen etwa wie einer Geldstücke in ein Volksgewimmel werfen mag, einerlei wer sie fasst. Sein Geben ist von Güte erfüllt und Güte zielt auf den Empfangenden hin, damit er durch die Gabe erhoben, bereichert und verherrlicht sei. Darum achtet Paulus nicht nur auf die Herablassung Gottes, durch welche es zustande kam, dass Israel Gottes Wort hörte und besitzt, sondern auch auf die Erhebung, die dadurch Israel widerfahren ist. Steigt Gott herab um mit ihm zu reden, so hebt er es eben dadurch empor, und Paulus hat ein offenes Auge für diese Erhöhung des Menschen, welche die Herablassung Gottes zu ihm mit sich führt.
Aber sie glauben nicht! Soll es denn vom ungläubigen und widerspenstigen Israel der apostolischen Zeit gelten, sein Vorzug sei groß? Unsere Antwort auf diese Frage wäre zweifellos die: glauben sie nicht, dann freilich ist ihr Vorzug dahin gefallen; was hilft dem Menschen Gottes Wort, wenn er ihm nicht glaubt? und wir würden meinen, damit recht im Sinn und Interesse des Glaubens zu reden aus dem Kern des Römerbriefs heraus. Paulus hat das Gegenteil gesagt: wenn sie nicht glauben, was liegt daran? Das löscht ihren Vorzug nicht aus, denn er beruht in Gott. Das Vertrauen, welches Gott ihnen erwiesen hat, als er ihnen sein Wort gab, zieht sich vor ihrem Widerstreben nicht zurück, sondern setzt sich in einer Treue fort, die nicht bricht. Der Unglaube Israels bewirkt nicht, dass Gott nicht als der wahrhaftige an ihm handelt und dadurch alles Murren und Klagen, alle Vorwürfe und Lästerungen gegen ihn und seinen Christus als Lüge offenbar macht. Paulus führt den Bußpsalm Davids an, Ps. 51,6. Wie sich für David aus seinem Falle dies ergeben hat, dass Gott als der gerechte und reine vor ihm stand, so wird der tiefe Fall, der über das ganze Volk durch seinen Unglauben gekommen ist, im selben Resultate enden. Gott steht in seiner unermüdlichen Güte gerechtfertigt da als der Sieger, über den Israels Widerstand nicht Meister wird, der vielmehr das Böse mit Gutem zu überwinden weiß.
Das heißt glauben! hier ist der Glaube nicht nur in Worten beschrieben, hier steht er vor uns in seiner lebendigen Betätigung, in der Unbegrenztheit seiner Zuversicht, in seiner Abkehr von allem menschlichen Verhalten, heiße es Glaube oder Werk, in seinem Griff nach Gott, in seinem Schöpfen aus Gottes Fülle, aus Gottes unerschöpflicher Gnadenmacht. Bedenken wir, was alles in Israel geschehen war, wie Paulus hineinschaute in die Tiefe seiner Sünde, und ihm nun dennoch zu sagen: wehre dich gegen Gott! schlage aus, protestiere, schilt und eifere gegen ihn, tu' was du willst! du hast dennoch Gottes Wort empfangen und nicht als ein leeres Wort, sondern hinter ihm und in ihm steht Gottes Treue und Wahrhaftigkeit das ist die Glaubenstat.
Kommt uns jene Antwort des Paulus unerwartet, so liegt dies daran, dass wir immer wieder sogar mit der Glaubenspredigt in die gesetzliche Stellung hinuntersinken, als müssten wir Gott mit unserm Glauben zur Güte bewegen und bestimmen, ihn durch unsern Glauben zur Gnade locken und reizen, so dass er in unserm Glauben Anstoß, Beweggrund und Trieb zur Barmherzigkeit empfinge. Nein, seine Gnade strömt in ihrem eignen Trieb. Für mich liegt freilich alles daran, dass ich glaube, sonst stopfe ich mich mit Lügen voll und zerstöre mich in Ungerechtigkeit. Doch Gottes Gnade steht durch sich selbst und hängt nicht von meinem Glauben ab, sondern mein Glaube hängt von seiner Gnade ab. Darum kann Paulus sagen: ob sie nicht glauben, was liegt daran?
Mit Vers 4 bricht er ab; denn sein Zweck ist erreicht. Jene Bedenken und Besorgnisse, welche die Frage nach dem Vorzug Israels erzeugten, sind auf die unüberwindliche Wahrheit und Treue Gottes hingewiesen und haben damit empfangen, was sie bedürfen. Der Verdacht, den die Leser gegen Paulus haben könnten, als leugne er das Werk Gottes in Israel, ist beseitigt; sie sehen, er bringt der Gabe Gottes an die Juden dankbaren Preis entgegen. Freilich bleibt ja der Gang ihrer Geschichte dunkel, und wie Gottes Wahrheit und Treue den Sieg behalten und gewinnen wird, ist noch nicht gezeigt. Aber solche Dunkelheit muss der Glaube tragen können, und vorerst gilt es einen Damm nach der entgegengesetzten Seite hin aufzubauen und zu verhüten, dass die Güte und Treue Gottes nicht zur Entschuldigung des Unglaubens und zur Verhärtung in ihm missbraucht wird.
Der Blick auf die freie, durch sich selbst strömende Gnade stellt uns vor eine Wahl, bei welcher der gerade oder krumme Sinn des Menschen den Ausschlag gibt. An meiner Ungerechtigkeit wird Gott nicht treulos und ungerecht; vielmehr lässt er seine Gerechtigkeit immer höher steigen, immer reicher fließen, bis er meine Ungerechtigkeit überwunden hat. Daraus wird ein aufrichtiger Sinn den Schluss ziehen: also gebe ich mich ihm mit einem ganzen vollen Glauben hin! er ist es wert! wer wollte diesem Gott nicht vertrauen? Allein ein krummer und verdrehter Sinn kann auch etwas andres daraus ableiten: Gottes Güte behält den Sieg, also glaube ich nicht; ich lasse Gott gut sein und bleibe schlecht. So mag mancher Jude Paulus geantwortet haben: wir wollen den Gekreuzigten nicht, und wenn wir damit auch gegen Gottes Rat widerstreben und seiner Wahrheit den Glauben versagen sollten, so steht doch Israels Vorzug und Anteil am Reich unerschütterlich fest; darauf verlassen wir uns. So wird die Größe und Festigkeit der Gnade, die das Herz in seinem innersten Grunde zum Glauben entzünden soll, zur Stütze des Unglaubens gemacht. Diesem krummen Sinne liegt vor allem daran, die Folgen der Sünde abzuwehren. Darum beweist er Gott angelegentlich, dass er nicht zürnen darf. Seine Gerechtigkeit leuchtet ja immer herrlicher hervor, je ungerechter wir sind, wie kann er denn zürnen? Und da nun Gott doch seinen Zorn erweist und an den Unglauben und die Gottlosigkeit des Menschen die verheerende Flamme setzt, so geht das Geschrei und Klagen an: ach! wie ungerecht ist Gott! Vers 5.
Die Antwort lautet kurz und bündig: hast du vergessen, dass Gott der Weltrichter ist? Das steht in deiner Gotteserkenntnis nicht minder hell und klar geschrieben, als die unerschütterliche Macht seiner Gnade. Du wusstest, dass Gott an der Gottlosigkeit sein Recht vollzieht in scharfem Gericht, warum benutztest du die Macht seiner Gnade nur zur Mehrung deines gottlosen Widerstandes? Vers 6.
Und nun lässt er jene krumme Schlussfolgerung noch einmal vor uns auftreten, Vers 7 und 8, um uns den Punkt zu zeigen, wo sie faul ist: ich lüge darauf los, Gott wird seines Worts nicht müde, sondern macht es dennoch wahr; also kann ich nicht gerichtet werden, also können wir das Böse tun und das Gute kommt uns doch. Sieh, da kommt der Schalk heraus! Und nachdem Paulus diese Verteidigung des Unglaubens bis dahin beleuchtet hat, wo sie als die nackte Lust am Bösen offenbar geworden ist, bricht er ab und verschwendet weiter keine Worte: solche Verdammnis ist gerecht.
Es mischt sich zugleich ein trauriger Blick auf die Weise ein, wie sie gegen ihn kämpfen. Weil er die Gemeinden im Glauben über das Gesetz empor leitete, sagen. sie von ihm: er lehre Böses tun, damit das Gute komme; er lasse die Sünde frei, etwa um des Erfolgs willen, um die Heiden in Scharen zu locken u. dgl. mehr, Vers 8. Sie sagen seiner Glaubensstellung nach, was ihre freche Zuversicht, ihr Pochen auf Gottes Bund und Wahl selbst verbricht. Sie achten, weil sie Gottes sicher zu sein meinen, die Sünde ihres Unglaubens nicht; er aber fürchtet Gott.
Neben jene unbedingte Zuversicht zu Gott, die aus dem Blick auf seine Gnade und Treue entspringt, Vers 1-4, stellen die Verse 5-8 die Furcht Gottes, die seinen richtenden und rächenden Zorn vor Augen hat. Keines von beiden darf das andre austreiben und zerstören oder auch nur schwächen. Nur darin, dass der Glaube die Furcht Gottes in sich hat, liegt die Schutzwehr, die ihn von der frechen Sicherheit trennt. Wiederum ist die Furcht Gottes nur dadurch, dass sie Glauben in sich hat, davor geschützt, dass sie uns nicht losreißt und scheidet von Gott. Der Apostel zeigt uns, wie Furcht und Glaube einander unterstützen und die Hand reichen. Greife ich glaubend nach Gottes Gabe, nun so weiß ich, dass ich zu dem hinzutrete, der da recht richtet, und wenn mir Gottes Gericht in seiner heiligen Majestät vor Augen steht in der Furcht vor ihm, nun so kann mich das nicht anders wohin treiben als zur Gnade und Gabe dessen, der das Wollen und Vollbringen in uns schafft.
So kehrt denn Paulus zu der Frage zurück, was der Jude durch sich selbst nach seinem eigenen Verhalten sei, und fügt nun zur Erfahrung, wie sie jeder Jude an sich selber macht, das Zeugnis der Schrift hinzu, indem er aus der großen Menge von Anklagen, welche die Schrift gegen den Menschen erhebt, einige aus den Psalmen und Propheten zusammenstellt, Vers 10-18. Wer also mit dem Gesetz Ruhm und Gerechtigkeit gewinnen will, der widerspricht nicht nur seinem Gewissen, das ihn an manche Sünde erinnert, sondern er setzt sich auch mit dem Gesetz selbst in Zwiespalt und vergisst nicht minder, was ihm die Schrift auf allen ihren Blättern sagt. Denn das Gesetz betrachtet die, denen es gegeben ist und zu denen es spricht, als gottlos und ungerecht und straft sie deshalb. Der Spruch, den es über den Menschen fällt, ist diesem nicht ungewiss und unbekannt, als könnte er möglicherweise auch zur Rechtfertigung gelangen durch das Gesetz; sondern sein Urteil ist schon längst im Gesetz verzeichnet und lautet: du bist ein Übertreter des Gebots. Wenn ich mir nun dennoch einbilde, am Gesetz Gerechtigkeit zu gewinnen, so verleugne ich im selben Augenblick, da ich meine Hoffnung auf das Gesetz stelle, das, was mir das Gesetz bezeugt. So tritt auch nach dieser Seite hin im Ruhm dessen, der sich auf das Gesetz verlässt, blinde Torheit ans Licht.
Was ist statt solcher krummen Winkelzüge der gerade Weg in unsrer Lage? Unser Mund muss sich vor Gott schließen und unsre Verteidigungen und Entschuldigungen müssen verstummen. Mit unsern Ansprüchen und Anforderungen an Gott: „tue das! gib jenes! bist du nicht ungerecht?“ ist es aus. Wir lernen schweigen und geben dem Recht Gottes wider uns selber Recht und Legen uns in seine Hände, dass sein Spruch über uns entscheide, dass er an uns handle, wie er will, und aus uns mache ein Gefäß des Zorns oder der Gnade nach seinem Wohlgefallen. Wir schieben unsre Werke auf die Seite und halten es fest, dass wir auch nicht eine unsrer Übertretungen rechtfertigen können, was immer wir vollbringen mögen. Wir sehen ein, dass das Gesetz uns keine Hilfe bringt, sondern sein Ziel und Ende dies ist, dass es uns in die Erkenntnis der Sünde führt, Vers 19 und 20. Das ist der ins Innerste der Seele reichende Verzicht, durch den wir hindurchgehen müssen, der uns um so schwerer fällt, aber auch um so segensreicher ist, je kräftiger wir das Gesetz ergriffen haben.
Zu Werken des Gesetzes, die wir im Gehorsam gegen das Gesetz vollziehen, um ihm zu entsprechen und zu genügen, bringen wir es allerdings. So hat auch Paulus einst dem Gesetz nicht nur mit Worten, sondern mit ernstem Fleiß im Werk gedient. Solche Werke bringen uns auch nicht die Verdammnis; aber es wird auch kein Mensch durch des Gesetzes Werke vor Gott gerechtfertigt werden, so gewiss er Fleisch ist. Nicht das, was wir des Gesetzes wegen tun, sondern unsre Übertretungen desselben machen unsre Schuld und Verdammlichkeit aus; aber alle unsre Werke erretten uns nicht vor der Verdammnis und bringen uns nicht Rechtfertigung, so gewiss neben ihnen unsre Sünden stehen. Wo aber Sünde ist, da ist Verdammlichkeit, da Gott nichts Böses gut heißen kann, bis die Gnade kommt. Wo aber Gnade ist, da ist nicht mehr Gesetz. Der Irrweg des Juden bestand also nicht darin, dass er sich vom Gesetz zum Dienst Gottes in allerlei guten Werken treiben ließ, sondern das war sein Fehler, dass er um seiner Werke willen seine Sünde übersah und gering achtete und sich über seine Bosheit mit dem tröstete, was er des Gesetzes wegen tat. Seine Sünde erschien ihm neben seinen vielen Werken klein und unbedeutend und er forderte von Gott, dass auch er nur seine guten Werke sehe, seine Übertretungen dagegen nicht. Das heißt aber das Gesetz und seine Werke übel brauchen, wenn man bei ihnen Entschuldigung und Rechtfertigung für die Übertretung des Gesetzes sucht. So werden sie zum Hindernis des Glaubens, weil dann der Mensch sich selbst in seinen Werken reich und gerecht erscheint.
Gott hat uns das Gesetz nicht dazu gegeben, dass wir damit unsre Sünde beschönigen, sondern dass wir sie erkennen. Das Gesetz ist Gottes Wort an den Sünder, das ihm deutlich macht und gegenwärtig hält, dass er von Gott abgewichen ist. Zur Erkenntnis der Sünde hilft es uns in dem durchdringenden Sinn, dass es uns dieselbe erst recht zur Erfahrung bringt. Wir erfahren durch das Gesetz ihre Verwerflichkeit, da es uns das Urteil Gottes in seinem unbeugsamen Ernst wider all unser böses Tun enthüllt. Wir erfahren weiter erst durch das Gesetz die Macht, welche die Sünde über uns hat, da sie vor dem Gebot und der Drohung desselben nicht weicht und verschwindet, sondern sich höchstens verbirgt, jedoch unter der Hülle unseres Gottesdiensts fortbesteht. Dadurch steigert sie sich aber und wird um so sündiger, weil wir durch das Gesetz wissen, wie sehr wir uns an Gott vergreifen und dass Tod und Leben auf dem Spiele stehen. Wir erfahren sie endlich durch das Gesetz auch in ihren Folgen, da dasselbe scheidend zwischen uns und Gott tritt und uns von Gott wegweist und damit vom Leben ausschließt und in den Kerker des Todes führt.
Brauchen wir das Gesetz zu dem Zweck, zu dem es uns Gott gegeben hat und in uns wach erhält, so ist es nicht wider den Glauben, vielmehr dient es ihm. Jenes Verstummen vor Gott, zu dem es uns anleitet, ist allerdings noch nicht Glaube, sondern Ergebung, und beides ist nicht dasselbe. Dagegen ist sie des Glaubens Vorbereitung und Grundlegung, die Beseitigung der Glaubenshindernisse, der Durchbruch durch unsere Unfähigkeit und Unwilligkeit zum Glauben. Wir sind damit unmittelbar bis an die Schwelle des Glaubens geführt und derselbe wird sich sofort in uns erheben, sowie die Gabe Gottes uns vor Augen tritt, an welcher er allein entspringen kann.