Schlatter, Adolf - Der Hebräerbrief - Kap. 7, 11-25. - Jesus steht über dem Gesetz.
So wie wir in Christo den Priester erkennen, der über Aaron erhaben ist, so steht fest, dass des letzteren Priestertum der Gemeinde Gottes nicht zur Vollendung helfen kann, V. 11. Es hat also nur anfangende und vorbereitende Bedeutung, nicht mehr. Es stellt allerdings einen gewissen Verkehr mit Gott her, aber noch nicht diejenige Gemeinschaft mit ihm, in die er seine Söhne einführen. will. Es bringt Vergebung, aber noch nicht diejenige, welche die Sünde völlig und für immer tilgt. Es schafft einen Gottesdienst und bedient ein Heiligtum, aber die wahrhaftige Anbetung ist es noch nicht. Dann hat es aber auch nur zeitweilige Gültigkeit. Denn das anfängliche und vorbereitende fällt dahin, wenn das vollkommene kommt.
Aber das waren Gedanken, vor denen ein jüdisches Herz leicht erschrak. Steht denn nicht das Gesetz dem Sohn Aarons zur Seite? Das Gesetz! das fordert Gehorsam, und lässt keine Disputation und Erörterung zu. Da gilt keine Erwägung, ob es nicht auf andere Weise besser wäre.
Das Gesetz muss einfach ohne Klügelei und Zweifel geschehen. Nun fordert das Gesetz den Dienst des Priesters; wie kann denn von einem anderen Priestertum die Rede sein? Für einen jüdischen Mann, der draußen in heidnischen Landen lebte, hatten der Tempel und das Priestertum überhaupt nur um des Gesetzes willen Bedeutung. Er sah das Heiligtum vielleicht ein einziges Mal in seinem Leben, wenn er nach Jerusalem pilgerte. Und doch war es auch ihm eine wichtige Sache, zu wissen, dass täglich im Tempel nach aller Vorschrift des Gesetzes geopfert wurde. So geschah dem Gebot Genüge und Israel erfüllte, was das Gesetz vorschrieb. Was aber das Gesetz vorschreibt, das muss geschehen.
Auch in dieser Hinsicht ist unserem Briefe das Psalmwort über Christi Priestertum nach Melchisedeks Art wichtig. Denn es führt über das Gesetz hinaus. Und das Gewicht dieses Zeugnisses ist umso größer, weil es der alttestamentlichen Schrift selbst angehört. Gesetz und Priestertum bilden ein Ganzes. Das Gesetz ist gegeben unter der Voraussetzung, dass ein Priestertum vorhanden sei, und die Priesterschaft hat ihre Macht aus dem Gesetz. Wenn nun die Weissagung von einem neuen und anderen Priestertum spricht, so setzt sie damit auch dem Gesetz Ziel und Ende und kündigt eine Veränderung desselben an, V. 12.
Für diese Umwandlung des Gesetzes wird ein doppelter Beweis erbracht. Der eine bezieht sich auf eine einzelne bestimmte Ordnung des Gesetzes, an welcher in anschaulicher Weise sichtbar wird, dass das Priestertum Christi das Gesetz durchbricht und ihm ein Ende macht. Der andere geht auf den inneren Grund des Priestertums Christi zurück, der viel tiefer liegt als das Gesetz. Zunächst gehört Christus nicht zu Aarons Geschlecht, wie dies schon die Hinweisung auf Melchisedek anzeigte. Christus stammt aus Juda als Davids Sohn, und ist dennoch der wahrhaftige Priester. So ist die gesetzliche Ordnung, welche nur die Söhne Aarons zum Priestertum beruft, aufgelöst. Sodann aber - und dies macht die Stellung Christi über dem Gesetz vollends deutlich - bezeichnet ihn jene Weissagung als unseren ewigen Priester. Er steht also in der Kraft unauflöslichen Lebens und dies hebt ihn hoch über das Gesetz des fleischlichen Gebots empor, V. 16.
Was im Gesetz mit seinem Gebot begründet ist, das steht nicht in der Kraft des Lebens; wo aber Kraft des Lebens vorhanden ist, da bedarf es kein Gesetz und Gebot. Warum ist Gesetz und Kraft ein Gegensatz? Gibt denn nicht auch das Gesetz Kraft? Der levitische Priester stützte sich, wenn er ins Allerheiligste oder zum Altare trat, darauf: „so ist's geboten; ich gehorche dem Gebot,“ und das gab ihm Kraft. Daher kam ihm die Treue in seinem Dienst. Darum harrte er täglich bei demselben aus und brachte sein Opfer auch dann noch, als z. B. in Jerusalem bereits die fürchterlichste Hungersnot wütete. Aber das Gesetz erscheint doch nur dann als Stütze und Kraft, wenn wir ihm die Unordnung und Willkür entgegenstellen, den Aufruhr mit dem Elend und der Ohnmacht, in welche die Empörung gegen die göttlichen Ordnungen zusammensinkt. Allein wenn neben dem Gesetz das Leben erscheint, dann zeigt es sich, dass das Gesetz eine schwache Sache ist. Es schafft wohl Formen; aber sie sind leer. Das Institut ist da, das Amt ist da, der Beruf ist da; aber das Gesetz bringt mit seinem Gebot kein Leben hinein. Wir erfahren es ja auch in der Kirche, wie schwach und ohnmächtig alle unsere gesetzlichen Institutionen sind. Wir läuten wohl zur festgesetzten Stunde den Gottesdienst ein; aber gibt es deshalb einen Gottesdienst? Wir ordinieren wohl nach unseren Reglementen Geistliche; aber sind es deshalb Geistliche? So stellte das alttestamentliche Gesetz Priester und Opfer auf; aber damit, dass sie nach dem Gesetz eingerichtet waren, war die Kraft noch nicht da, die wirksam ins Inwendige des Menschen greift und machtvoll hinaufreicht in die Himmelshöhe. An allen Institutionen haftet darum etwas Sinnbildliches. Sie stellen etwas vor, sind es aber nicht; sie weisen nach innen und oben und sprechen eine Verpflichtung aus, aber sie geben ihre Verwirklichung nicht. Deshalb bleibt das Gebot fleischlich. Es vermag mit seiner Verordnung nichts anderes zu erfassen und zu bewegen als das Fleisch. Es erreicht nur das natürliche an uns; darauf legt es Beschlag. Was setzte es für einen Priester ein? Eines Menschen Fleisch und Blut; das erschien im Tempel; das schickte das Gesetz zur geordneten Stunde ins Allerheiligste; mehr konnte es nicht. Was setzte es für ein Opfer ein? Ein Opfer von Fleisch und Blut. Das konnte es als Gabe für Gott fordern, mehr nicht. Was baute es für ein Heiligtum? Ein Haus, wie es Fleisch und Blut errichten kann, mehr nicht. Was legte es für einen Segen in des Priesters Mund? Ein Wort, wie es Fleisch und Blut sprechen kann, mehr nicht. Was schuf es für einen Sabbat? Einen Tag, an dem Fleisch und Blut zur Ruhe kam, mehr nicht. Es kann nicht mehr erreichen; es ist auf das angewiesen und eingeschränkt, was wir sind und haben, und wir sind Fleisch.
Aber damit hört das Gesetz auf, ewig zu sein. Es ordnet des Fleisches Tun und Lassen, und das ist das Wandelbare und Vergängliche.
Aber Christus empfängt sein Priestertum nicht durch Gesetz und Gebot, das ihm nur Name und Titel, Form und Figur eines Priesters gäbe. Da ist das Leben erschienen und damit die Kraft. Da ist nicht nur der Name, sondern auch die Mittel ihn zur Wahrheit zu machen, und die äußere Handlung ist voll innerer Wirkung und der Beruf ist erfüllt mit Macht.
Das ist nun das Ewige! Christus steht in der Kraft unauflöslichen Lebens. Unauflöslich so erscheint dem Menschen das Gesetz und es ist es auch für ihn. Der wird der Kleinste im Himmelreich heißen, der auch nur ein Strichlein an demselben löst. Allein Gott löst das Gesetz. Christi Leben dagegen ist unauflöslich. Es ist in seinem inneren Reichtum und in seiner vollen Kraft fest gefügt zur Ewigkeit. Dies priesterliche Herz hört nicht auf zu schlagen; dieser priesterliche Mund verstummt nicht und täuscht nie; diese priesterliche Hand wird nicht leer und matt.
Ist denn das Gebot aufgehoben? Ja! V. 18. Das Wort muss heraus, ob es auch noch so sehr für ein jüdisches Ohr eine harte Rede war. Das fleischliche Gebot und die Kraft des unlöslichen Lebens lassen sich nicht zusammenfügen und addieren, als könnte das Fleisch der Kraft Gottes nachhelfen, als bedürfte der wahrhaftige Priester die Unterstützung dessen, der nur den Namen und Schatten des Priesters hat. Wir haben den alten Priester und das Gebot, das ihn einsetzte, gänzlich fahren zu lassen. Und warum sollten wir am Gesetz haften bleiben, da wir es als kraftlos und darum als nutzlos erkannten, da es alles unfertig, äußerlich und darum schattenhaft ließ? Wo gäbe uns das Gesetz ein Ganzes? Es hat einen Priester, der doch Gott nicht wirklich offenbart, ein Heiligtum, in dem doch Gott nicht wohnt, ein Opfer, das doch nicht Vergebung schafft, eine Reinheit, die doch die Unreinheit nur überdeckt, eine Heiligkeit, die doch von Gott geschieden lässt. Hätten wir nichts Besseres, nun wohl, so hielten wir diese Anfänge und Schattenrisse hoch und teuer. Nun aber kommt die Beseitigung des Gebots dadurch zustande, dass uns eine bessere Hoffnung dargereicht wird, weil in Christo das Leben erschienen ist. Auch das Gesetz erweckt etwelches Hoffen. Es stellt in seinen Einrichtungen die ewigen Güter dar und weist verheißend nach oben. Aber wie ganz anders ersteht die Hoffnung aus dem Blick auf das, was Christus ist! Da ist der Priester, in dem nun die Herrlichkeit Gottes wirklich leuchtet, ein Opfer, in dem wir zur Ruhe kommen, weil es eine vollkommene Gabe ist voll versöhnender Kraft, eine Heiligkeit, die uns wahrhaft zum Bild Gottes macht und unserer Unreinheit ein Ende setzt. Hier wird uns eine Hoffnung dargereicht, durch welche wir zu Gott nahen, weil hier uns die Türe und der Weg zu ihm geöffnet sind, so dass unser Herz und Sinn zu ihm emporgehoben wird.
Denn Christus ist eines besseren Bundes Bürge geworden, V. 22. Da lernen wir das priesterliche Werk nach einer neuen Seite kennen. Es ruht auf dem Bund, den Gott gegründet hat. Wie der Bund ist, so ist der Priester. Der Bund gibt dem Priester seine Macht vor Gott und seine Macht über uns. Weil uns Gott in den Bund mit sich stellt, darum kann der Priester für uns bitten und sein Gebet empfängt; darum darf er für uns opfern, und sein Opfer versöhnt; darum wird seine Heiligkeit uns zur Heiligung. So fließt sein Dienst aus Gottes Bund und deshalb ist er dessen Bürge für uns. Wir bedürfen des Bürgen, denn wir sind zum Misstrauen und Verzagen geneigt. Wir zweifeln an der Verheißung und werfen die Hoffnung weg. Darum steht der Priester vor uns und garantiert uns des Bundes Verheißung und zeigt uns seine Sicherheit und wehrt uns, an ihm zu zweifeln und ihn zu verachten. Wir könnten den Bund nur dann ablehnen und verlassen, wenn wir unseren Priester verleugnen wollten. So gewiss dessen Werk besteht und zu seinem Ziel und Ende kommt, so gewiss besteht der Bund. Im Blick auf ihn dürfen uns nicht einmal unsere Sünden zum Zweifel am Bunde bewegen. Denn wenn wir den Bund durch Unglauben und Untreue stören und verletzen, so erhält er uns in demselben durch sein Versöhnen und reicht uns des Bundes Güter dar durch sein Heiligen.
Auch der alttestamentliche Priester war Bürge eines Bundes. Aber der neue und höhere Priester kommt auf Grund eines besseren Bunds. Alles wird mit ihm neu. Das Gesetz ist umgewandelt und der alte Bund durch einen Neuen Bund ersetzt.
Und nun benützt der Brief auch die Einleitung zu jener Weissagung über Christi Priestertum, Ps. 110, 4: ich habe geschworen und es wird mich nicht gereuen! Nur bei diesem Priester spricht die Schrift von einem göttlichen Eid. Wir wissen bereits, was unserem Brief ein Eid Gottes bedeutet, wie derselbe die Unwandelbarkeit des göttlichen Rates offenbart und unsere Widerrede gänzlich zum Schweigen bringen soll. Die Festigkeit der Zusage, durch die Gott ihn zum Priester macht, steht nun mit dem höheren Zweck und der größeren Herrlichkeit seines Priestertums in Übereinstimmung. Es entspricht hier alles einander aufs trefflichste: der Bund, auf dem sein Priestertum steht, die Kraft, die es in sich hat, die Hoffnung, die es darreicht, die Art, wie es ihm von Gott eidlich zuerteilt wird, das alles bezeugt gleichmäßig, wie weit Jesus die alten Priester überragt.
Damit steht weiter in innerer Beziehung, dass wir hier nicht viele Priester erhalten, von denen einer nach dem anderen durch den Tod der priesterlichen Würde verlustig geht, sondern den einen, der über den Tod erhöht ist und das Priestertum für immer in seiner Hand behält. Was für eine Sicherheit und innere Geschlossenheit gewinnt unser Verhältnis zu Christus dadurch, dass er allzeit lebt! So kann er uns vollkommen erretten, V. 25. Wir verdanken ihm den Anfang unserer Seligkeit; denn durch ihn kommen wir zu Gott hinzu. Macht er jedoch nur den Anfang? Müssen wir den Fortgang und die Vollendung anderswo suchen? O nein! Er macht keinem Nachfolger Platz. Wie hoch unser Leben in Gott steigen mag, wir werden in ihm alles finden, was als Gabe und Hilfe von oben zu uns herniederströmt. Er wird für immer unser Priester bleiben, durch den uns Gottes Heiligtum offen steht. Zu allen Zeiten und auf allen Stufen unseres Lebens können wir auf ihn zählen. Er hilft uns jetzt, morgen, bis zum Tod, nach dem Tod. Mögen wir irgendwelchen Punkt in unserem Lebenslauf ins Auge fassen, das ist gewiss: er fehlt uns nicht. Das ist die unvergleichliche Ruhe, das unendliche Glück, das im Verhältnis zu Christo liegt, und in keinem anderen Lebensverhältnis in ähnlicher Weise möglich ist: unser Verhältnis zu ihm bricht nicht, endet nicht, hat keine Grenzen und Schranken; seiner sind wir gewiss.
Er lebt allezeit, um für uns einzutreten, V. 25. Das ist das unschätzbare Band der Gemeinschaft, das Christus auch in seiner Erhöhung und Herrlichkeit mit uns pflegt und erhält. Er macht unsere Sache zu seiner Sache, unsere Bitte zu seiner Bitte, unser Bedürfnis zu seinem Anliegen vor Gott. Wir erkannten daran, dass er uns in allem ähnlich geworden ist, seine herzliche Teilnahme, die uns auch in unsere Not, unsere Versuchung, unseren Lauf und Kampf hinein begleitet, vgl. 4, 15. Dieselbe bleibt aber nicht bloß ein unfruchtbares Mitgefühl, sondern dieses steigt für uns zu Gott empor und sucht des Vaters Gnade und Gabe für uns. Wie ganz anders ist Christi Bitten als das unsrige! Jetzt ruft er nicht mehr zu Gott wie einst mit Geschrei und Tränen in jener tiefen heiligen Furcht, die sich unter Gottes Willen in völliger Ergebung beugt. Nun redet er mit dem Vater als der Sohn im Licht seiner völligen Einigung mit ihm. Und dieses vollkommene Bitten Christi tritt für uns ein. So setzt er auch in seiner Herrlichkeit jene Sinnesweise fort, in der er sich nicht schämte unser Bruder zu heißen. Weil er sich zu uns erniedrigte, so darf er jetzt auch in seiner Herrlichkeit sprechen: siehe ich und die Kindlein, die du mir gegeben hast; und darf sein eignes Verhältnis zum Vater für uns fruchtbar machen, so dass die Liebe des Vaters, in welcher er selber steht, auch uns umfasst. So reich und vollkommen, und doch so göttlich einfach, ist das Werk der Gnade Gottes, die uns im Sohn den Mittler und Bürgen des Neuen Bundes gab.
Glauben wir das? Wenn wirs glauben würden, wie anders wäre unser eignes Gebet, wie anders unser Streit gegen unsere Bosheit und unser Fleiß, den Willen Gottes zu tun nach Christi Wort.