Schlatter, Adolf - Der Galaterbrief - Gal. 4, 1-7. Wie Gott uns zu seinen Kindern macht.
Paulus überschaut den großen Gang Gottes im Aufbau seines Reichs nochmals mit einem einzigen Blick, damit wir den Fortschritt in Gottes Regierung sehen. Gott hat ein Dreifaches für uns getan. Er hat uns sein Gesetz, seinen Sohn und seinen Geist gegeben. Durch diese drei Mächte sind wir mit der oberen Welt verbunden; durch diese drei Zeugen werden wir zu Gott geführt. Das Gesetz macht den Anfang. Nach ihm kommen der Sohn und der Geist mit der Erfüllung der Zeit. Beide kommen als die Träger derselben Gnade Gottes. Doch findet auch zwischen ihnen ein Fortschritt statt. Denn die Sendung des Sohns kommt in der Sendung des Geistes zu ihrer Frucht.
Weil das Gesetz nur den einleitenden Anfang bei Gottes Regierung macht, heißt es der Apostel Elemente, „Anfangsgründe für die Welt“, was Luther etwas frei mit äußerlichen Satzungen umschrieben hat. Es ist die Erstlingsgestalt der Bezeugung Gottes, deren geringste Form, das Dürftigste, was Gott aus seiner unergründlichen Fülle uns dargereicht hat. Wer nicht mehr von Gott hat, als was das Gesetz ihm gibt, der ist noch dem Kind vergleichbar, das erst die Buchstaben lernen muss. Es erhebt uns deshalb noch nicht über die Welt, sondern ist für die Welt bestimmt; es bildet das Fundament unserer natürlichen Existenz, und bringt uns noch nicht himmlisches Leben und göttliches Gut. Der Sohn und der Geist sind dagegen nicht mehr bloß „Anfangsgrund der Welt“, sondern sind wesenhaft eins mit Gott und bringen das Vollkommene und Ewige. Sie sind von Gott ausgesandt in die Welt, in der sie nicht ihren Ursprung und ihre Heimat haben. Sie kommen von oben, vom himmlischen Thron. Darum ist ihre Sendung wie für die Welt im Ganzen, so auch für jeden einzelnen Menschen das wichtigste Erlebnis, womit der große Wendepunkt der Zeit eintritt.
Um den Unterschied zwischen der Herrschaft des Gesetzes und der Sendung Christi deutlich zu machen, braucht Paulus ein ähnliches Bild wie das, welches er vom Zuchtmeister hergenommen hat. Den unmündigen Sohn stellt der Vater unter Vormünder und Verwalter. Nun ist derselbe freilich Sohn und Mitbesitzer des väterlichen Vermögens, und doch vermag er während dieser Zeit nicht mehr als ein Knecht. Er hat nicht seinen eigenen Willen, da ihm der Vormund verordnet, was er tun und lassen soll, dem er zu gehorchen hat, wie der Knecht gehorcht. Ebenso wenig hat er sein Vermögen in seiner Hand, da der Verwalter über dasselbe verfügt, und er muss sich begnügen mit dem, was man ihm gibt, wie ein Knecht. Unser Vormund und Verwalter, dem wir von Gott untergeben sind, ist das Gesetz. Sohn Gottes und Besitzer ewigen Lebens sind wir das? Wir sind's, wenn wir auf das Ziel blicken, welches uns Gott geordnet hat. Aber unsere natürliche Existenz steht von diesem Ziele noch weit ab. Der Sohn Gottes und Herr aller Dinge ist noch ein Knecht. Wir stehen unter einem Gesetz, das uns noch nicht Freiheit und Reichtum gibt, sondern uns die wahrhaftigen Güter verschließt. Es nimmt sie uns nicht, sie bleiben uns vielmehr aufbehalten, aber es händigt sie uns noch nicht ein. Das hängt an der elementaren Art des Gesetzes und an seiner Anpassung an die Welt. Darum waren wir, bis Christus kam, verknechtet unter das Gesetz, während der Zeit unserer Unmündigkeit, V. 3.
Spricht der Apostel von der Unfreiheit unter dem Gesetz, so dürfen wir ebenso wenig wie oben, wo er von der Wacht sprach, die das Gesetz über uns hält, an die heilige Verpflichtung denken, mit der es uns den guten Willen Gottes in die Seele schreibt. Darin besteht ganz und gar keine Sklaverei, dass das, was gut und rein und recht ist vor Gott, eine bindende Macht über uns besitzt. Aus diesem Band gelöst zu werden, darf niemand wünschen, und wer Christus kennt und ein Kind Gottes geworden ist, der hat diesen Wunsch ganz verlernt. Wer verpflichtet tiefer und unendlicher als Christus? Das Kind ist noch mit ungleich heiligerem Band an den Willen des Vaters gebunden, als der Knecht. Unfrei macht das Gesetz, weil es den guten Willen Gottes uns von außen her auferlegt, während der Trieb unserer Seele ihm widerstrebt. Es vermag die Begehrung unseres Herzens Gott nicht untertan zu machen; diese sträubt sich gegen das Gesetz, und aus diesem Zwiespalt entsteht Knechtschaft. Ich muss tun, was ich nicht will, muss gehorchen ohne Lust und Freude. Aus der Pflicht wird ein Zwang. Und damit stimmt unsere ganze Lebensgestalt. Deswegen bleibt uns das Gesetz ein dunkles Wort, das uns das Auge noch nicht für Gott öffnet, so dass wir seinen Willen verständen. Wir sind blind und fremder Leitung untertan. Und weil aus unserem Widerstreben die Übertretung kommt, das Gesetz aber keine Versöhnung für dieselbe hat, so lässt es uns gebunden in den Ketten unserer Schuld. Es öffnet uns auch nicht Gottes Kraft, weswegen unser Werk in Nichtigkeit zergeht. Ein Dienst Gottes, den wir nicht kennen noch lieben, ein Streben nach Gerechtigkeit, die wir doch nicht finden, Pflichten, die wir hassen, Werke, die beständig in Ohnmacht scheitern, Schulden, die wir nicht lösen können, Leiden, die wir nicht zu heilen vermögen das setzt unser Leben zusammen; wie soll es der Apostel anders heißen, als einen Sklavenstand und eine Unmündigkeit? Wie der Unmündige noch nichts versteht, noch nicht für sich reden, noch nicht selber wollen, noch nicht selber handeln kann, so stehen wir vor Gott unverständig, stumm, bloß als die kümmerlich Stammelnden, ohne Willen, nur getrieben vom Zuruf des Gebots, das uns je und je spornt und erschreckt, unfähig zum Handeln und ohne Macht.
Deshalb ist das Gesetz, das uns in diese Unmündigkeit setzt und der Vormund während derselben ist, nicht Gottes höchste und bleibende Anordnung. Der Vater hat von vornherein die Frist bestimmt, bei der die Vormundschaft ihr Ende finden wird, und damit dem Kinde die Hoffnung gelassen, dass es zur Freiheit kommen und sein Erbe empfangen wird als sein Eigentum. Aber nicht das Kind entlässt den Vormund. Er tritt ab nur zu der Zeit, welche der Vater angeordnet hat.
Blicken wir auf die Geschichte der Menschheit im großen, so ist diese Hoffnung Wahrheit geworden. Die von Gott geordnete Stunde ihrer Befreiung ist eingetreten. Es kam die Erfüllung der Zeit. Da tat sich der Himmel auf, den uns das Gesetz verschlossen hielt, und Gottes Sohn ward zu uns ausgesandt. Welch eine andere Gabe als das Gesetz! Der ewige Sohn Gottes tritt ein in die Welt. Da heißt es nun wahrlich: Gott ist bei uns.
Aber hat denn seine Erscheinung die Hoffnungen und Verheißungen erfüllt? Er ist ja lauter Niedrigkeit, ein geringer Mann, arm und schwach, mit dem Kreuz am Schluss. Wo ist die Freiheit, wo das Erbe? Je größer und gewaltiger die Botschaft ist: Gott hat seinen Sohn ausgesandt, umso nötiger ist's, dass wir seine Knechtsgestalt verstehen lernen und erkennen, warum seine Niedrigkeit keine Einrede ergibt gegen seine Abkunft aus dem Vater und seine wesenhafte Einigkeit mit ihm. Deshalb zeichnet uns Paulus sofort mit zwei wuchtigen Sätzen Jesu Niedrigkeit und deutet uns ihren Grund.
Er ist geworden aus einem Weib, geworden des Gesetzes Untertan. Gottes Werk schreitet voran, aber nicht in Sprüngen. Der Sohn Gottes fängt sein Werk an der Stelle an, wo das Gesetz das seinige beendigt. Die Art seines Kommens ist ihm durch unsern Stand unter dem Gesetze vorgeschrieben. Sein Werk heißt: Befreiung vom Gesetz, und das Mittel dazu ist: er tritt selbst unter dasselbe hinab, und fügt sich selbst in die Knechtschaft ein, die dasselbe mit sich bringt. Wir stehen wieder vor derselben Regel Gottes, die der Apostel schon 3, 13 ausgesprochen hat. Wie fällt der Fluch des Gesetzes dahin? Dadurch, dass ihn Christus trägt. Und wie hört die Herrschaft des Gesetzes auf? Dadurch, dass sie Christus trägt. Das Gesetz tritt dann ab, wenn ihm geworden ist, was ihm gebührt. Sein Nachfolger muss zuerst sein Diener sein, der ihm vollkommen untergeben war. Hat er gehorcht, dann kann er herrschen. Nachdem er gedient hat, macht er frei. Seine eigene Untertänigkeit ist der Preis, mit dem er uns die Entlassung vom Gesetze erwirbt. Wir sollen werden wie er. Der göttlich geordnete Weg hierzu ist, dass er ward wie wir.
Dazu nimmt er unsere natürliche Art an sich. Er wird durch eine Mutter zur Welt gebracht. Mit diesem Anfang seines Lebens ist auch dessen Fortgang und Ende gegeben. Wir wissen dadurch, dass er überall und immer in unsere Natur eingeschlossen war und dieselbe an sich trug mit beständiger Unterordnung unter ihr Gesetz. Der Lebenskreis, in dem wir uns bewegen, so eng und arm und leidensreich er ist, wird von ihm nicht durchbrochen. Er wandelt wie wir, mitten im Leben vom Tode umfangen, als ein Sterblicher. So und nicht anders hat ihn Gott zu uns gesandt.
Seine Gleichheit mit uns erstreckt sich aber auch ins innerliche Gebiet des geistigen Lebens und in seine Stellung vor Gott. Er hat wie wir das Gesetz über sich. Die „Elemente der Welt“ sind auch für ihn die Regenten seines Lebens. Er fügt sich in die Maße des Gesetzes ein. Was das Gesetz fordert, ehrt er als heilig, gerecht und gut. Was das Gesetz uns vorwirft, anerkennt er als unsere Schuld, die er auf sich nimmt. Womit das Gesetz uns straft, das zu leiden ist er willig. Auch er lässt sich in Haft nehmen von jenem Wächter und regieren von jenem Zuchtmeister.
So ist in Christi irdischem Leben der Unterschied zwischen seinem Wesen und seiner Lage noch unendlich größer als bei uns. Sohn Gottes ist er und Herr aller Dinge - und dennoch Knecht. Er, der sein Leben aus Gott hat, erhält ein Weib zur Mutter. Der mit dem Vater einige Sohn wird unter den Zuchtmeister und Vormund gesetzt. Aber er hat die Macht, diesen Zwiespalt zu lösen, und tritt siegreich aus ihm hervor. Die irdische Naturschwäche lässt der Auferstandene dahinten, und des Gesetzes Ketten, Zorn und Gericht sind nicht mehr vorhanden für den zur Rechten Gottes Erhöhten. Und nun hebt er uns zu sich empor. Er hat uns losgekauft, damit wir die Einsehung in die Kindschaft empfingen. Was uns von Anbeginn an nach Gottes gnädigem Nat verordnet war, nun empfangen wir's. Weil wir Christo gehören, hält sich Gott zu uns wie ein Vater zum Kind.
Darum kommt nun der dritte Zeuge Gottes zu uns: Gott hat den Geist seines Sohnes ausgesandt. Auch die Sendung des Geistes ist wie diejenige des Sohnes für alle geschehen, still und verborgen wie auch die Sendung des Sohnes, aber wirksam und vollbracht für die Welt. Geist aus Gott ist uns allen zugänglich geworden. Er ist eine Gabe, die Christus der Menschheit erworben hat.
Wie Christi Werk an das sich anschließt, was das Gesetz aus uns macht, so führt des Geistes Werk das zur Vollendung, was Christus uns gegeben hat. Wir sind durch ihn Söhne Gottes geworden; das muss nun auch innerlich in der Bewegung unseres Herzens durchbrechen. Was wir aus Christi Mund hören, muss unseres Herzens eigene Rede werden. Was Jesu Werk vor Gott uns erworben hat, muss auch der Reichtum unseres eigenen Lebens sein. Das eben ist des Geistes Werk. Er geht ein in unsere Herzen und macht den Vaternamen in uns lebendig und öffnet uns selbst den Mund vor Gott. So gibt er unserer Seele den Trieb und Sinn, den ein Kind Gottes hat. Es ist der Geist des Sohnes Gottes, der nun auch unser Herz bewegt und uns so auf Gott schauen und so mit ihm reden lehrt, wie der Sohn selber auf Gott schaut und mit ihm spricht. Darin erweist sich, dass Jesus uns das Kindesrecht verliehen hat. Nur die Kinder empfangen die Gemeinschaft des Geistes mit dem Vater, damit ihr Band mit ihm vollkommen sei.
Vater! ruft der Geist. Es lässt sich kein höheres Merkmal seiner Wirkung nennen, noch eine größere Gabe, die geistlicher wäre als dies. Ist uns der Unsichtbare so nahe gekommen, dass er als unser Vater vor uns steht, und der Heilige uns so innig verbunden und teuer geworden, dass wir ihn als Vater anrufen: das ist Gottes Geist.
So steht es nun auf doppelter Gewissheit, dass wir Kinder Gottes sind. Der Sohn Gottes kam zu uns und hat uns die Kindschaft gebracht, und der Geist Gottes kam zu uns und hat uns den Vaternamen ins Herz gelegt. Also liegt die Knechtschaft hinter uns. Wir dienen nicht mehr einem unbekannten Gott, nicht mehr mit widerwilligem Herzen, nicht mehr in Furcht und Angst, nicht mehr unter unsere Schuld verhaftet, nicht mehr in das Todeslos gekettet. Abba Vater! das ist ganzes Vertrauen und sicherer Glaube; den Vater verliert man nicht. Abba Vater! so spricht das gehorsame Herz und die völlige Liebe, und diese treibt die Furcht aus. Abba Vater! das ist Macht und Sieg; denn mit diesem Namen rufen wir den, welcher Himmel und Erde in seiner Hand hält. Und diese Freiheit leidet dadurch keinen Schaden, dass unsere äußere Lebensgestalt unverändert bleibt. Dadurch wird ihre Ausübung nach außen vor der Welt und den Menschen allerdings hinausgeschoben, aber auch nur hinausgeschoben. Denn wenn du Sohn bist, so bist du auch Erbe durch Gott.