Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die Briefe des Paulus.
Paulus betrachtete die ganze weite Heidenwelt als von Christo ihm aufgethan, und drang mit rastlosem Eifer ins römische Reich hinein. Und doch befand er sich mit allen, die er zu Christo geführt hatte, in einer tiefen innigen Verbindung, die nicht mehr löslich war. Er hatte sie nicht bloß unterrichtet, sondern mit ihnen gebetet, mit ihnen reuig geweint, mit ihnen freudig gedankt, wenn sie gläubig das Evangelium ergriffen. Er war ihr Vater geworden in Christo, der sie durch das Evangelium erzeugt hatte, 1 Kor. 4,15, und blieb es, auch wenn er weiter zog. Und auch die Gemeinden hatten ihn fortwährend nöthig. Sie mußten sich in der Lehre wie in der Sitte, im Gottesdienst wie in der Ordnung der natürlichen Verhältnisse ihren Weg erst bahnen und neu suchen. Da gab es viele Schwierigkeiten, bei denen ihnen die Leitung des Paulus unentbehrlich war. Wir werden uns darum nicht wundern können, wenn Paulus die Aufzählung seiner Leiden mit dem täglichen Bestürmtwerden und der Sorge für alle Gemeinden schließt, 2 Kor. 11,28.29. Diesem Ansturm der Aufgaben suchte er durch unermüdliches Reisen zu genügen. Auch zog er sich einen Kreis von Gehilfen heran, die er nicht minder rastlos hierhin und dorthin sandte, und die Gemeinden schickten ihre Abordnungen zu ihm1). Allein diese Bemühungen, den persönlichen Verkehr zu erweitern und zu vervielfältigen, reichten nicht aus. Paulus wurde im Drang seiner großen Thätigkeit und im Reichtum seines inwendigen Lebens zum Briefschreiber, wie es weder vor noch nach ihm einen ähnlichen gegeben hat.
Die ältesten Briefe sind diejenigen an die Thessalonicher, die wohl rasch nach einander in den ersten Aufenthalt des Apostels in Korinth, in die zweite Missionsreise fallen. Der Galaterbrief gehört wahrscheinlich, die beiden Korinther- und der Römerbrief sicher in die dritte Missionsreise. Den Galaterbrief stellt man gewöhnlich nach Ephesus. Dort ist auch der erste Korintherbrief geschrieben worden, als Paulus bereits die Abreise von Ephesus in Aussicht nahm, und der zweite Brief ist ihm einige Wochen später von Macedonien aus gefolgt. Der Römerbrief wurde am Schluß der dritten Missionsreise in Korinth geschrieben2). Sodann bilden der Epheser-, Kolosser- und Philemonbrief eine zusammen gehörende Gruppe. Sie sind im Gefängnis verfaßt, lassen jedoch nicht erkennen, in welcher Stadt Paulus damals gefangen war, ob in Cäsarea oder in Rom. Der Philipperbrief zeigt dagegen deutlich auf die römische Gefangenschaft. Die Briefe an Timotheus und Titus bieten für ihre Einordnung in die Lebensgeschichte des Paulus eigentümliche Schwierigkeiten. Der zweite Brief an Timotheus deutet auf das Ende seiner römischen Gefangenschaft kurz vor seiner Hinrichtung. Dagegen zeigen ihn die beiden anderen Briefe in freier Thätigkeit auf seinem griechischen und kleinasiatischen Missionsgebiet, während sie doch die Ähnlichkeit ihres Inhalts in die Nähe des zweiten Timotheusbriefes stellt. Diese drei Briefe bilden eine besondere Gruppe für sich.
Natürlich sind die meisten Briefe des Apostels verloren gegangen. Von seinen Schreiben an einzelne Christen besitzen wir nur noch ein einziges, dasjenige an Philemon. Sodann sind alle Briefe aus der ersten Periode seiner Missionsarbeit, die mehr als 14 Jahre umfaßte, ehe er nach Griechenland hinüberging, verschwunden, ebenso alle Briefe an die östlichen Gemeinden, z. B. nach Tarsus oder Antiochien. Aber auch von den Schreiben an die griechischen Gemeinden ist vieles nicht aufbehalten worden. Wir haben 2 Briefe an die Gemeinde von Thessalonich aus den ersten Monaten nach ihrer Gründung und keinen mehr aus der spätern Zeit. Umgekehrt besitzen wir keinen Brief nach Philippi aus der ersten Zeit, wohl aber einen solchen aus der römischen Gefangenschaft. Paulus hat schwerlich nie nach Philippi geschrieben, bis er in Rom gefangen war, und nie mehr nach Thessalonich in der spätern Zeit. Im ersten Korintherbrief erwähnt er einen frühern Brief nach Korinth, 1 Kor. 5,9, und im Kolosserbrief einen solchen nach Laodicea, 4,16. Der zweite Thessalonicherbrief fügt der Unterschrift des Apostels die Bemerkung bei: „Das ist das Zeichen in jedem Brief, so schreibe ich“, 2 Thess. 3,17, und spricht von unbefugten, unechten Briefen in seinem Namen, 2 Thess. 2,2. Offenbar war dies nicht erst der zweite Brief, den Paulus schrieb. Niemand dachte zunächst daran, möglichst viel von dem zu sammeln, was aus des Apostels Feder kam. Der Brief sollte das mündliche Wort ersetzen. So gab ihn Paulus und so nahmen ihn die Gemeinden auf. Sie lasen ihn in ihrer Versammlung vor, faßten ihn in's Herz, gehorchten ihm, und damit war sein Zweck erreicht. Paulus nimmt zwar die Thessalonicher eidlich in Pflicht, daß sein Brief allen Gliedern der Gemeinde vorgelesen werde, weil er nicht nur zu einem kleinen, ausgewählten Kreis derselben reden will, 1 Thess. 5,27; aber er gibt ihnen nicht die Weisung: schreibt ihn ab. Die Kolosser erhalten den Auftrag, ihren Brief nach Laodicea zu schicken und denjenigen von Laodicea zu lesen, Kol. 4,6; aber es bedarf einer besonderen Weisung, wenn ein Brief noch zu einer andern Gemeinde gehen soll. Das Wort that damals in der Kirche noch alles; die Schrift trat darob zurück. So kam es, daß nur ein kleiner Theil der apostolischen Briefe verbreitet und gesammelt worden sind. - Zufall wars aber nicht, daß gerade diese Briefe in der Kirche fortlebten. Sie verdanken dies ihrem innern Gewicht und der Fülle von Licht und Lehre, welche sie für die Anliegen und Fragen darboten, welche die ganze Christenheit bewegten. Vor allem drangen diejenigen Briefe in alle Kirchen, welche Paulus gegen die jüdischen Neigungen seiner Gemeinden geschrieben hat. In diesen Briefen kamen die tiefsten Grundlagen des Glaubens zur Sprache; sie enthielten das Zeugnis für die Freiheit der Kirche in Reichtum der Gnade Christi. Die Thessalonicherbriefe gaben Aufschluß über einiges, was zur Weissagung gehört, wie es sich mit den Verstorbenen verhalte und wann Christus komme. Auch das waren Anliegen, über die der Christenheit die apostolische Belehrung bleibend wichtig war. In den Briefen aus dem Gefängnis sprach Paulus nicht über besondere Ereignisse in den einzelnen Gemeinden, da ihm ja der persönliche Verkehr mit ihnen abgeschnitten war, sondern er richtete ihren Blick auf Christi Größe und Herrlichkeit, und da der Philemonbrief gleichzeitig mit dem Kolosserbrief nach Kolossä kam, wird er auch mit demselben zugleich Abschrift und Verbreitung gefunden haben. Die Briefe an Timotheus und Titus gaben Vorschriften für die Einrichtung und Leitung der Gemeinden und waren darum überall eine willkommene Handreichung. So tritt auch in der Erhaltung der Briefe zu Tage, wie eng die Entstehung des neuen Testaments mit den Erlebnissen und der Arbeit der ersten Christenheit verwachsen ist.