Quandt, Emil - Die Wanderungen des Menschensohnes - 3. Die Wüstenreise.
Ev. Marci 1, 12. 13.
Und bald trieb ihn der Geist in die Wüste. Und war allda in der Wüste vierzig Tage und ward versucht von dem Satan und war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm.
Den wir als Säugling auf Marias Armen nach Ägypten fliehen sahen; den wir als Knaben unter Josephs und Marias Hut zum Tempel Jerusalems pilgern sahen: den sehen wir nun als Mann, vom Geist geführt, einsam in die Wüste wandern. Er hatte seit jenem Tempelgang seiner Jugendzeit achtzehn Jahre hindurch in der Stille und Verborgenheit des galiläischen Landstädtchens Nazareth gelebt; und wenn wir fragen, was er dort in den achtzehn Jahren erlebt und getan habe, so sagt uns die Schrift die einzige, kurze Antwort: Er war seinen Eltern untertan und nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen. Als er sich nun genug geübt hatte in der Untertänigkeit, als er die Altersreife von dreißig Jahren erreicht hatte, als aller Weisheit und Gnade höchste Fülle seine Seele wie wallender Wellenschlag durchwogte; da drückte der allerhöchste Gott des Himmels und der Erde das Siegel seiner väterlichen Anerkennung ihm auf die heilige Stirn: der Menschensohn wurde, während er sich zur Erfüllung aller Gerechtigkeit im Jordan von seinem eignen Herolde Johannes taufen ließ, in feierlicher Offenbarung vom Himmel her unter dem taubenartigen Niederschweben des Heiligen Geistes als derjenige genannt und gezeigt, auf dem das göttliche Wohlgefallen ohne Maß ruhe. Hatte sich der Herr Jesus damals vor achtzehn Jahren im Tempel, wo die Knospe seines Selbstbewusstseins zur Blüte aufbrach, selbst als den heiligen Christ tief innerlich erfasst und erkannt und anerkannt; nun war er im Jordan auch äußerlich durch den Vater und den Geist als der Heilige Christ anerkannt; und als der von oben her legitimierte Messias, der gesendet und gekommen war, der alten Schlange den Kopf zu zertreten und die durch Satans Verführung gefallene Welt zu erlösen, wanderte er nun in die Welt hinein. Wohin zuerst? In die Wüste!
Zu welchem Zweck geht er in die Wüste? Will er sich an einsamer Stätte einer stillen Feier seines gottmenschlichen Bewusstseins hingeben, wie ein zu großen Würden und Ehren berufenes Menschenkind, ehe es unter die Leute tritt, sich in stiller Kammer mit seinen übermannenden Gefühlen zurechtfindet? Oder will er in der Einsamkeit Vorbereitung halten für das große Werk der Erlösung, wie sich ein Prediger auf seinem Studier- und Bet-Zimmer auf den Gottesdienst in der Kirche vorbereitet? Oder will er als der zweite Adam den umgekehrten Weg des ersten Adam gehen, nicht durch das Paradies in die Wüste wie jener, sondern durch die Wüste ins Paradies? Man kann das ja Alles behaupten und höchst erbauliche Gedankenreihen daran knüpfen; die Schrift sagt nichts dawider, sie sagt auch nichts dafür.
Die Schrift sagt (bei Matthäus): Er ward vom Geist in die Wüste geführt, auf dass er von dem Teufel versucht würde.
Von dem Teufel? Ja so steht geschrieben. Vierzig Tage lang, so lange des Menschen Sohn in der Wüste war, wurde er nach Lukas vom Teufel versucht; und am Ende der vierzig Tage gaben sich, nach Lukas und Matthäus, die Versuchungen des Satans ihren kräftigsten Ausdruck in drei vornehmlich heftigen und gefährlichen Anläufen. Das Leben des Menschensohnes in der Wüste war eine geistige Wanderung durch satanische Versuchungen.
Biblische Geschichten, in denen der Teufel vorkommt, sind nicht nach jedermanns Geschmack. Es gibt unzählige Namenchristen heutzutage, die es geradezu für eine ausgemachte Sache halten, dass es einen Teufel nicht gibt und nicht geben kann. Wir wollen euch alles andere zugeben, was ihr uns aus der Bibel vorhaltet, so rufen sie uns zu, mutet uns nur das Eine nicht zu, dass wir den Teufel mit in den Kauf nehmen müssen. Sonderbare Menschen! Sie können nicht leugnen, dass sich ein dunkler Lavastrom des Bösen durch die Weltgeschichte und durch ihre eigne Lebensgeschichte ergießt, aber sie leugnen den feuerspeienden Berg, aus dessen Krater die Lava hervorquillt. Sie können nicht verkennen, dass auf Erden ein riesiger Giftbaum der Sünde steht, der seine Zweige und Äste über alle Lande breitet; aber sie wollen nichts davon wissen, dass dieser Baum eine Wurzel hat. Sagt man ihnen: Leugnet ihr den Teufel, so verlegt ihr die Quelle der Sünde in Gottes Wesen selbst - sie verbitten sich, dass man eine solche freche Gotteslästerung auf ihre Rechnung schreibe. Sagt man ihnen: Nun, wenn ihr das Böse weder vom Teufel, noch von Gott ableitet, so seht ihr denn in den Menschen selbst die letzten Urheber der Sünde: sie weisen diese Konsequenz noch entrüsteter ab; der Mensch sei viel zu edel und gut von Hause aus, als dass in ihm der Gedanke des Bösen seinen letzten Ursprung haben könne. Sagt man ihnen: Nun, wenn weder Gott noch der Mensch Quelle des Bösen ist, was bleibt dann übrig, als eben eine dritte, die satanische Persönlichkeit anzunehmen, wie sie die Bibel uns beschreibt als den Mörder von Anfang und den Vater der Lügen? so denken sie nicht mehr mit, so zucken sie mit den Achseln. Die Welt will einmal vom Satan nichts hören und mag es nicht verstehen, dass die Leugnung des Teufels entweder eine schaurige Gotteslästerung ist oder eine der allergemeinsten Beleidigungen des Menschen und der Menschheit.
Für die evangelische Geschichte von der Wüstenreise des Menschensohnes, die den Teufel redend, handelnd, kämpfend und unterliegend einführt, ist daher von Weltleuten nicht das allergeringste Verständnis zu erwarten. Wer sich das einmal in den Kopf gesetzt hat, dass es schmutziges Wasser gibt ohne eine schmutzige Quelle, Sünde ohne Satan, dem muss ja über der Versuchungsgeschichte eine dicke Decke liegen, die ihm allen Segen verhüllt, der in der Geschichte niedergelegt ist. Das aber kommt auch vom Teufel her und ist seine besondere List, mit der er im neunzehnten Jahrhundert operiert, dass er den Leuten einredet, er existiere gar nicht, damit sie doch nur gar nicht ihre unsterblichen Seelen aus der Bibel erbauen, die so stark von ihm zeugt, allerdings nur, um wider ihn zu zeugen. Wir aber denken, dass diese Blätter solchen Christen in die Hände fallen, die, so viel auch immer ihnen noch dunkel und unerklärt an der biblischen Lehre vom Teufel sein möge, doch festhalten, dass Alles, was in der Bibel steht, wahr ist, also auch die so sehr gegen das moderne Vorurteil verstoßende Lehre vom Satan. Wer eben nur das alte Lutherlied „Ein feste Burg ist unser Gott“ von Anfang bis zu Ende noch von Herzen mitsingen kann, der wird auch Segen haben von einer Betrachtung der Wüstenreise des Herrn, in welcher „der alte böse Feind, der's mit Ernst jetzt meint,“ eine hervorragende Tätigkeit entwickelt. Die großen Anläufe, die der alte böse Feind in der Wüste auf des Menschen Sohn macht, finden sich in unserm eignen Leben wieder; der Teufel versucht alle Gläubigen, wie er den Anfänger und Vollender unsers Glaubens versucht hat, zum Zweifel, zur Schwärmerei, zur Weltförmigkeit; es ist daher für uns von höchstem Interesse, die Waffen kennen zu lernen, mit denen des Menschen Sohn die drei Angriffe siegreich zurückgeschlagen hat.
Vierzig Tage und vierzig Nächte hatte der geistgesalbte Mann von Nazareth in der Wüste gefastet. Die Seligkeit der wunderbaren Erfahrung, die er bei seiner Taufe gemacht, hatte ihn über alle irdischen Bedürfnisse emporgehoben. Aber am Ende der sechs Wochen machte die menschliche Natur ihre Rechte geltend. Ihn hungerte. Der Versucher hatte schon während der ganzen Fastenzeit im Hinterhalt gelegen, jetzt trat er frech und offen an den Heiland heran. Der Sohn Gottes muss hungern - darauf hatte er nur gewartet, das schien ihm die trefflichste Gelegenheit zu sein, um in dem menschlichen Fühlen und Denken des Herrn den Zweifel anzuregen, ob er denn auch wirklich Gottes Sohn sei. „Bist Du Gottes Sohn,“ so sprach er, wörtlich: „wenn Du Gottes Sohn bist, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Offenbar ist uns in diesem Worte nur eine Zusammenfassung der satanischen Einrede gegeben, und wir müssen sie uns in der Ausführung etwa also denken: „Du bildest Dir ein, Gottes Sohn zu sein, und wirst hier in der Wüste vom Hunger geplagt; siehe Hungerleiden und Gottes Sohn sein, das reimt sich schlecht zusammen; Deine Gottessohnschaft ist nichts weiter als eine glänzende Illusion und darum Dein Unterfangen, die Welt erlösen zu wollen, der Traum eines Toren. Du bist ein Zimmermannssohn, kein Gottessohn oder wenn Du es bist, dann beweise es doch erst vor Dir selbst, dann werde Dir selber darüber gewiss, indem Du von Deiner göttlichen Kraft Gebrauch machst zur Stillung Deines ungemein menschlichen Hungers. Gott der Vater ist allmächtig und hat die ganze Welt aus nichts geschaffen; wenn Du nun wirklich Gott der Sohn bist, so musst Du doch zum Mindesten ein paar Steine in Brot verwandeln können; sprich, dass diese Steine Brot werden!“ Es war eine ungeheuer listige Versuchung, die damit an den Herrn herantrat. Der Herr war ja wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, und nun war er hier in der Wüste ein hungernder Mensch, und doch sollte er glauben: Ich bin der, in welchem Gott und die Menschheit in Einem vereint, in dem alle vollkommene Fülle erscheint! Allerdings hatte Gott es ihm nur noch vor vierzig Tagen feierlich gesagt, dass er der Sohn des Wohlgefallens sei; aber wir wissen, Gott hatte dem ersten Adam auch gesagt, dass er sein liebes Kind sein und bleiben solle, falls er ihm gehorsam sei, und doch, als die alte Schlange den Zweifel hinwarf: Ja, sollte Gott gesagt haben? - da ließ der erste Adam sich nur allzu bald zum Zweifel verführen. Der zweite Adam, Christus Jesus, nicht also, Gott sei Dank, nicht also; er wurde zwar auch zum Zweifel versucht, aber nicht zum Zweifel verführt. Auch nicht der leiseste Gedanke kam ihm, an dem zu zweifeln, was Gott zu ihm gesagt hatte. Er nahm vollständig seine Vernunft, die menschlicher Weise in dem Hunger einen Widerspruch mit der Würde des Sohnes Gottes hätte sehen mögen, unter den Gehorsam des Glaubens an Gottes Wort gefangen. „Es steht geschrieben“ (nämlich 5. Mose 8, 3), so antwortete er: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Worte, das durch den Mund Gottes geht. - Gott hat in seinem Worte dem Menschen seine Lebenserhaltung nicht an Brot gebunden. Es steht ja wahrlich so: „Das Brot ernährt uns nicht; was uns im Brote speist, ist Gottes ew'ges Wort, ist Leben und ist Geist. Dass ich jetzt kein Brot habe, macht mich darum nicht irre an meiner Gottessohnschaft; der Vater kann mich ernähren auch ohne Brot!“ - Damit ist denn die Versuchung zum Zweifel zurückgeschlagen; der Glaube des Menschensohnes an Gott den Vater hatte die große Feuerprobe wohl bestanden.
Zum Zweifel werden noch heute die Kinder Gottes auf Erden so gut, wie weiland der Sohn Gottes auf Erden, vom Teufel versucht. Wenn wir uns im Glauben an das Neue Testament in Christi Blut als Menschen des Wohlgefallens erfasst und erkannt haben; wenn wir singen können: Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert; wenn wir durch den Glauben eingetreten sind in den Frieden, welcher höher ist, als alle Vernunft: dann werden auch wir vom Geiste nicht sofort in das Paradies geführt dem bekehrten Schächer fiel das Los so lieblich, aber er bildet eine Ausnahme sondern zunächst in Wüstensand auf raue Bahn, auf dass wir vom Teufel versucht werden. Viele Gläubige werden ja ganz buchstäblich so wie des Menschen Sohn in den Hunger hineingeführt, in den Hunger, von dem der Volksmund sagt: Hunger tut weh. Es sind das die armen Heiligen, die gläubigen Proletarier. An ihren Hunger knüpft der Satan sein Flüstern an: „Tor, du träumst, ein Erbe des Himmels zu sein, und es fehlt dir an Salz und Brot auf Erden! Leichtgläubiger Mensch, du lässt dir alle Sonntage etwas vorpredigen von Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit; eine schöne Gerechtigkeit, wenn der Eine alle Tage herrlich und in Freuden lebt und der Andere muss betteln gehen! eine schöne Barmherzigkeit, die es manchem Gottlosen in Scheffeln gibt und manchem Gottseligen den Brotkorb immer höher hängt!“ Wenn es nun doch eine unbestreitbare Tatsache ist, dass der breite Untergrund des modernen Völkerlebens zerfressen ist vom Zweifel an Allem, was heilig ist, dass in den unteren Volksschichten eine bittere Gesinnung gegen Gott und Menschen wie Feuer unter der Asche glüht; so ist das eben ein trauriger, tränenwerter Beweis, wie sehr der Versucher zu unsern Zeiten den Hunger ausgebeutet hat und in wie schrecklicher Ausdehnung ihm dadurch die Verführung zum Zweifel gelungen ist. Gott sei Dank, noch sind sie nicht Alle untreu geworden; Gott hat auch unter den Lazarusgestalten des neunzehnten Jahrhunderts, auch unter dem modernen Proletariat, noch immer seine Siebentausend, die trotz ihres Hungers und Elends am Glauben festhalten, im demütigen Aufblick zu dem großen Jesus Christ, der ihnen beides gibt, Vorbild und Kraft, der Versuchung des Teufels zu widerstehen. Wir Andern aber sollen unsre Hüte abnehmen vor einem armen Lastträger mit Schwielen in der Hand, vor einer äußerlich schmutzigen Gassenkehrerin, wenn sie trotz Last und Schmutz, trotz Fasten und Darben, trotz eines von der Wiege an begonnenen Aschenbrödellebens doch Glauben halten, doch Treue halten, doch das Bekenntnis festhalten: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. An dem, was wahrhaft glücklich macht, lässt Gott es Keinem fehlen; Gesundheit, Ehre, Gut und Pracht sind nicht das Glück der Seelen!“ Es gibt einen Adel der Armut, der Einem das ganze Herz hinnehmen kann; dieser Adel des armen Mannes ist die schlichte, demütige Gottseligkeit, die da glaubt ohne zu sehen, die selbst dann, wenn die Kinder nach Brot schreien und ist doch keins im Hause, festhält am Worte Gottes und seiner Verheißung, dass Gott die Seinen weder verlassen, noch versäumen will.
Mit dem Hunger der Ärmsten im Lande ist die Nahrungssorge unbemittelter Gebildeter und schließlich jede mit dem leiblichen Leben zusammenhängende Sorge, wie sie sich durch alle Stände zieht, eng verwandt. An diese Sorgen des leiblichen Lebens knüpft der Satan, bei wem er nur irgend kann, die Versuchung zum Zweifel. Es ging ein Mann lange im ungestörten Glauben dahin, da starb ihm ein Kind nach dem andern, sofort flüsterte ihm der Versucher ins Ohr: Ja, sollte ein Gott sein, würde er dich so grausam quälen? Oder es trifft den Menschen sonst eine Hiobspost nach der andern, und er sitzt weinend auf den Trümmern einer besseren Vergangenheit, sofort tönt ihm die Frage ans Ohr: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Ja segne Gott und stirb! Viele haben sich verführen lassen und denken und sagen: Es zwingt der irdische Gefährte den gottgeborenen Geist in Kerkermauern ein; er hindert mich, dass ich ein Engel werde; ich will ihm folgen, Mensch zu sein. Das heißt dann zweifeln und verzweifeln zugleich. Aber dazu ist des Menschen Sohn auch zum Zweifel versucht worden, auf dass wir in den Wüstenstunden unseres Lebens an sein Mitleid für unsre Schwachheit appellieren könnten. Gott Lob, seine Kraft ist uns Schwachen mächtig, und im Aufblick auf Ihn kann Jeder überwinden. Wir ziehen uns wie Er in die Festung des Wortes Gottes zurück und vertrauen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen, auch Hunger, Sorge und Verlust. Hat Jesus Christus, der eingeborene Sohn Gottes, auf Erden hungern und dürsten, wandern und weinen, leiden und sterben müssen und ist durchs Kreuz zur Krone gegangen, die Jünger sind nicht über ihren Meister, sie dürfen es nicht besser haben wollen, als er, sondern sie müssen kämpfen wie er, so werden sie auch mit ihm siegen.
Siegreich hatte des Menschen Sohn die Versuchung zum Zweifel abgeschlagen. Aber der Teufel ist unermüdlich, er nimmt einen zweiten Anlauf und versucht den Herrn zur Schwärmerei. Er führte ihn, so erzählen die Evangelisten, mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinnen des Tempels und sprach zu ihm: Bist Du Gottes Sohn, so lass Dich hinab, denn es steht geschrieben: Er wird seinen Engeln über Dir Befehl tun, und sie werden Dich auf den Händen tragen, auf dass Du Deinen Fuß nicht an einem Stein stoßest. Wie? Soll das eine Wanderung des Menschensohnes über die Wüste hinaus nach Jerusalem sein? Es ist kein Grund vorhanden, die alt-kirchliche Überlieferung anzuzweifeln, die die Wüste Quarantania als die Wüste bezeichnet, in welche der Geist Jesum trieb. Diese Wüste Quarantania, eine Gegend voll schroffer Felsen und tiefer Talschluchten, eine schauerliche steinige und von wilden Tieren bewohnte Einöde, liegt zwei gute deutsche Meilen von Jerusalem entfernt. Ist das nun so gemeint, dass des Menschen Sohn meilenweit mit dem Satan zusammen zum Tempel gewandert wäre? Es gibt eine gläubige Schriftauslegung, die diese Meinung verteidigt aus frommer Scheu vor dem Buchstaben der evangelischen Geschichte; und wem diese Meinung Gewissenssache ist, dem soll sie ja gelassen sein. Es gibt aber auch eine andere Schriftauslegung, die aus frommer Scheu vor der Majestät des Sohnes Gottes einen Tempelgang Christi in Begleitung Belials zu denken nicht im Stande ist und die Nötigung ihn zu denken auch in der evangelischen Berichterstattung nicht zu finden vermag. In die Wüste ward Jesus geführt, aus der Wüste ging Jesus nach den drei Versuchungen hervor; der Bericht des Markus scheint es unwiderleglich zu beweisen, dass des Menschen Sohn in der Wüste alle drei Versuchungen durchkämpfte. So lasse man ernstgläubigen Christen, denen die andre Meinung Gewissenssache geworden ist, diese andre Meinung frei: Die drei Reisen des Herrn durch die Versuchungen des Satans waren geistige Wanderungen, bei denen die Füße Ruhe hatten. Der Satan phantasierte in diabolischer Weise dem Menschensohn mitten in der Wüste als eine Fata Morgana die heilige Stadt und die Tempelzinnen und zuschauendes Volk vor und forderte ihn zu einem Schauwunder heraus. „Bist Du denn von diesem Glauben, dass Du der Sohn Gottes bist, nicht abzubringen, wohlan, ich will Dir Deinen Glauben lassen, aber tritt nun auch äußerlich und prächtig hervor mit Deiner Gottessohnschaft, beweise Dich vor den Leuten durch eine herrliche Tat als den heiligen Christ; stürze Dich von der Zinne in die Tiefe; die Bibel, auf die Du Dich berufst, sagt ja, dass Du Deinen Fuß an keinem Stein stoßen wirst; und wenn Du dann wohlbehalten unten ankommst, wird die große Menge staunen und Dich anbeten.“ Fürwahr, groß Macht und viele List sein grausam Rüstung ist. Der von Gott vorgezeichnete Weg, auf dem der Messias die Welt erlösen sollte, war ja ein langer und leidensvoller; der Teufel zeigt einen kürzeren, bequemeren; Ein Sprung, und die Anerkennung durch Tausende war da; und für die Rechtmäßigkeit dieses Sprunges weiß der Teufel selbst ein Bibelwort zu zitieren. Aber des Menschen Sohn steht fest wie ein Fels im Meer, an dem die drohenden Wogen abprallen und zerschellen; er lässt sich auch nicht durch ein Bibelzitat zur Schwärmerei verführen. Will man einen einzelnen Bibelspruch aus dem Zusammenhange herausreißen, wie das die Manie und Manier des Teufels ist, ja dann kann man auch die tollste Schwärmerei als schriftgemäß beweisen. Durch die Schrift muss man die Schrift auslegen, nur so bewahrt man sich vor hochmütigen Verirrungen. Das tut des Menschen Sohn, indem er sagt: Wiederum steht auch geschrieben: Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen. Damit ist die falsche Logik des Teufels vernichtet. Wie des Menschen Sohn nicht zu einem Zweifel an seiner göttlichen Würde zu bewegen war, so lässt er sich auch nicht im Mindesten zu einem schwärmerischen Missbrauch derselben hinreißen.
Die Versuchung zur Schwärmerei pflegt auch heute noch über Kinder Gottes zu kommen, wenn sie die Versuchung zum Zweifel in der Kraft des Heiligen Geistes abgewehrt haben. Steht die Seele im Glauben an Gottes Wort fest, dass sie eher an sich selbst, als an ihrem Gott und seinem Worte zweifeln würde, dann sucht der Satan, dem nichts heilig ist, aus Gottes Wort selbst ein Netz zu weben, um die Seele zu fangen. „Bist du denn ein auserwähltes Kind Gottes,“ so flüstert er der gläubigen Seele zu, „nun wohl, dann zeige auch, dass du mehr kannst als Brot essen, dann offenbare dich in deinem Glanze den Leuten, dann tritt hin vor die Leute mit dem blendenden Licht deines Gnadenstandes. Es steht ja geschrieben: „Du sollst dein Licht leuchten lassen“, so strahle du doch nun als ein Stern erster Größe in der Nacht dieser Welt.“ Das ist die Versuchung zum geistlichen Hochmut, da man sich auf die Tempelzinnen schwingt und mitleidig heruntersieht auf die andern Leute, die so tief unten stehen; eine ganz schreckliche Versuchung, der Mancher, Mancher erlegen ist, nachdem er die Versuchung zum Zweifel tapfer bestanden. Alle Sektiererei hängt mehr oder minder mit diesem geistlichen Hochmut zusammen. Es ist ja ein langer und mühseliger Weg, auf welchem nach Gottes geschichtlichem Walten die streitende Kirche, die da gegründet ist auf das ewige Wort Gottes, ihrem himmlischen Triumph entgegengeht; und es ist tausendmal kürzer und bequemer, die ganze Kirche trotz ihrer Reformation kurzweg für ein Babel zu erklären und sich kirchen- oder sektenmäßig daneben zu konstituieren, indem man irgend ein Wort der Schrift aus dem Zusammenhange reißt und ein Schibboleth daraus macht, sei es das Wort: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeine bauen“, sei es das Wort: „Er hat etliche zu Aposteln gesetzt“, sei es ein andres. Ach Gott, es geht gar übel zu; auf dieser Erd' ist keine Ruh'; viel Sekten und groß Schwärmerei auf einen Haufen kommt herbei. Hüte sich ein Jeglicher in dieser Zeit der Irrungen und Verwirrungen mit doppelter Hut! Es ist für die Kirche Jesu Christi noch nicht erschienen, was sie sein wird. Es sind ein für alle Mal Gottes Wege nicht, dass die Kirche auf Erden einen großen äußerlichen Schein und Gepränge haben solle; der Herr Jesus ging auf Erden in Knechtsgestalt einher, so ziemt der Kirche, seiner Magd, die Magdsgestalt auf Erden. Behalten wir sie lieb, die werte Magd Gottes, die teure Kirche der Pfingsten und der Reformation; wandeln wir in Christi Kraft als demütige Glieder derselben und lassen wir uns von Niemand das Ziel verrücken, ob er auch in Geistlichkeit der Engel einherginge. Denn das sollen wir wissen und wohl behalten: Jede Bibelauslegung, die in irgendeiner Weise den Hochmut währt, ist sicherlich nicht richtig, sondern führt zur Schwärmerei. Das Wort Gottes muss uns fein klein und demütig machen, das ist die schönste Theologie. Demütigen gibt der Herr Gnade, aber den Hoffärtigen gibt er sie nicht; und wenn wir keine Gnade haben, dann gehen wir armen Sünder ja verloren, und je höher die Tempelzinnen sind, auf die wir steigen, desto tiefer werden wir fallen, fallen, und kein Engel wird uns tragen. Es gilt um unsrer Seelen Seligkeit willen in der Nachfolge unsers erhabenen Herrn und Meisters beides weit abzuweisen, sowohl den Zweifel, Gott erhalte uns im Glauben, als auch die Schwärmerei, Gott erhalte uns in der Demut!
Noch eine dritte Versuchung hat des Menschen Sohn abzuweisen gehabt und hat sie abgewiesen, die Versuchung zur Weltförmigkeit. Zum dritten Male trat der Teufel an ihn heran und führte ihn mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm in Einem Augenblicke alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das Alles will ich Dir geben, so Du niederfällst und mich anbetest. Noch sonnenklarer als bei der zweiten Versuchung will es uns bei dieser dritten erscheinen, dass die Anläufe des Satans auf den Herrn als alle in der Wüste erfolgend gemeint sind und an eine Wanderung mit den Füßen nicht gedacht ist; denn ein Berg, von dem man alle Reiche der Welt samt ihrer Herrlichkeit und noch dazu in einem einzigen Augenblick sehen kann, ist weder in Kanaan, noch überhaupt auf Erden nachweisbar, ist gar nicht ein Berg irdischer Geographie, sondern nur ein Berg der satanischen Phantasie. Dies neue Phantasma soll den Herrn zur Weltliebe anregen, soll ihn bewegen, ein weltförmiges Gottesreich aufzurichten, ein Reich Gottes, das alle Reiche der Welt umspannt und alle ihre Herrlichkeit in sich schließt. Nur Einen Preis verlangt der Satan dafür, einen Preis, der von Tausenden für den hunderttausendsten Teil einer solchen Weltherrschaft täglich ohne Bedenken gezahlt wird, nämlich, dass der Gründer des Gottesreiches ihm, dem Teufel, huldige. Aber des Menschen Sohn war nicht gekommen, um ein weltlicher Messias. zu sein, wie Viele in dem damaligen Israel sich ihn wünschten und wie als ein solcher später Bar-Kochba, der Sternensohn, auftrat, der selbst vom Satan verführt, viel Volks verführte und ein Ende nahm mit Schrecken. Des Menschen Sohn war gekommen, nicht dass er ihm dienen lasse, sondern dass er diene, diene dem Gott und Vater, dem der Mensch allein dienen darf. Heiliger Zorn durchzuckt des Heilands Seele bei der satanischen Zumutung, Zorn gegen den frechen Usurpator, der es wagt, Majestätsrechte Gottes in Anspruch zu nehmen, und zürnend ruft er ihm ein letztes und entscheidendes Fort mit dir! entgegen. „Hebe dich weg von mir, Satan, denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten Gott deinen Herrn und ihm allein dienen.“ Die drei Geisterschlachten der Wüste sind gewonnen; die Waffen der geistlichen Ritterschaft des Menschensohnes haben den Sieg davongetragen; der Fürste dieser Welt, wie sauer er sich stellt, muss weichen; die Engel Gottes schweben hernieder und bringen ihm nach der großen Prüfung große Erquickung.
Auch zur Weltförmigkeit reizt der Versucher, wie das Haupt, so die Glieder. Hat er die Menschenseele nicht in den Zweifel hineintreiben können und auch nicht in die Schwärmerei, dann kommt er und lockt: „Nun wohl, du Menschenkind, bleib' bei deinem Glauben an Gott in Christo, bleib' bei deiner evangelischen Kirche. und ihren Schätzen der reinen Lehre und der schriftgemäßen Sakramentspendung; aber vergiss nun über dem Himmel auch der Erde nicht; man kann Alles, auch das Beste, übertreiben, und es wäre doch eine Übertreibung, wenn du das Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit so weit treiben wolltest, dass du, was diese Welt Liebliches und Lachendes hat, ganz bei Seite ließest. Nein doch, du hast ja den seligmachenden Glauben und brauchst darum nicht bange zu sein, wenn du stirbst; aber so lange du lebst, und du lebst doch eben nur einmal in dieser Welt, genieße nun auch dein Leben; allerdings kannst du dann nicht Gott allein dienen, so ganz strenge darfst du es nicht nehmen, sondern du musst auch mir ein wenig Tribut zahlen; umsonst ist einmal nichts in dieser Welt zu haben!“ Und dies satanische Geflüster, wie fällt's so einschmeichelnd ins Ohr; wie behagt es dem Fleische, das einmal ans Kreuz geschlagen, sich nur allzu gern wieder loszumachen sucht: und, ehe die Seele sich's versieht, ist sie in den Zweiherrendienst hineingeraten, und das weltförmige Christentum ist fertig. Das ist weltförmiges Christentum, da der Mensch sich sonntags den Becher des Heils reichen lässt und in der Woche den Becher der Lust mit Wonne kreisen lässt. Das ist weltförmiges Christentum, da der Mensch in den Zirkeln der Frommen die Sprache Kanaans geläufig und tadellos spricht, als hätte er nie eine andre gesprochen, und in den Vorhöfen der Welt den galiläischen Dialekt so gewandt zu verstecken und zu verdecken weiß, dass auch das feinste Ohr nicht merkt, wie dieser Mensch es doch sonst eigentlich mit dem Jesus von Galiläa hält. Das ist weltförmiges Christentum, da man sich einer Erlösung getröstet nicht durch vergängliches Silber, sondern durch den ungeheuren Preis von Christi Blut und Wunden, und doch für die Silberlinge dieser Welt alle Kräfte anspannt und das ganze Leben einsetzt. Das ist weltförmiges Christentum, wo das Wort Gottes lauter und rein gelehrt wird, wir aber nicht als die Kinder Gottes darnach leben. Das Urteil über dies weltförmige Christentum ist zu lesen dem Sendschreiben des Herrn Jesu an den Engel der Gemeinde zu Laodicea: „Ich weiß deine Werke, und dass du weder kalt, noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärst! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“
Du sollst anbeten Gott deinen Herrn, und ihm allein dienen. Dieses Schriftwort war die Waffe, mit der des Menschen Sohn die Versuchung zur Weltförmigkeit zurückschlug; mit dieser Waffe müssen auch wir gegen dieselbe Versuchung kämpfen Tag für Tag, wenn wir nicht trotz Gläubigkeit und Kirchlichkeit in das ewige Verderben fahren wollen. Wir sind viel zu groß angelegt und viel zu teuer erkauft, als dass wir einem Geringeren dienen dürften, als Gott, dem Allerhöchsten. Gott hat uns zu überschwänglich geliebt und zu viel an uns getan, als dass er es leiden könnte, dass wir neben ihm noch andern Göttern nachlaufen. Vor Gott gilt kein halbiertes Wesen, er krönet kein geteiltes Herz. Nicht als ob Gott es uns verwehrte, die Güter dieser Welt, Stand, Reichtum, Bildung, Talent oder was es sonst sei, zu gebrauchen; aber wir dürfen und sollen sie nur gebrauchen in seinem Dienst, zu seiner Ehre. Dagegen was in dieser Welt offenbar vom Teufel ist, die Augenlust, die Fleischeslust, das hoffärtige Wesen, das ist schleichendes Gift für den Christen, das sind verbotene Früchte, die wir schlechterdings nicht essen dürfen. Wir leben in der Welt, ja, aber wenn wir anders glauben und getauft sind, sind wir nicht von der Welt, sondern wir sind von Gott geboren; so muss auch unser ganzes Leben ein Gottesdienst sein, und wir müssen es nicht nur singen und sagen, sondern mit jedem Herzschlage unsers Lebens bezeugen, ja, wenn es sein muss, mit unserm Herzblute besiegeln: Allein Gott in der Höh' sei Ehr' und Dank für seine Gnade. Wir müssen nicht nur gläubig und demütig, sondern auch fromm sein; dann kann uns kein Teufel etwas anhaben, sondern alle guten Engel Gottes werden uns zu Diensten sein und am Ende unsre Seele tragen in Gottes Arm und Schoß.
Die Wüstenreise des Menschensohnes ruft uns die Versuchungen unsrer eigenen Lebensreise vor die Seele, die Versuchungen, an die bei uns sich so viele Verführungen reihen. Des Menschen Sohn ward versucht und nicht verführt; seine unverworrene Gläubigkeit, seine unerschütterte Demut, seine kristallreine Frömmigkeit decke alle unsre Sünden zu; all' Sünd' hast Du getragen, sonst müssten wir verzagen, erbarm Dich unser, o Jesu! Für die Lebensstrecke aber, die noch vor uns liegt, sei Er uns Vorbild und Kraft zugleich, auf dass uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betrüge, noch verführe in Missglauben, Verzweiflung und andre große Schande und Laster, und ob wir damit angefochten würden, wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten. Amen.