Quandt, Emil - Die sieben pastoralen Sendschreiben der Offenbarung Johannis - Einleitung.
Die sieben Sendschreiben der Apokalypse, wie sie im 2. und 3. Kapitel derselben uns vorliegen, sind Pastoralbriefe in noch viel höherem Sinne, als die sonst mit diesem Namen genannten Briefe St. Pauli an Timotheus und Titus. Denn einmal ist es ein Höherer als Paulus, den diese Sendschreiben als Autor in Anspruch nehmen, nämlich der verklärte Menschensohn, der Herr der Kirche selbst, Jesus Christus, wie sich aus dem einleitenden Abschnitt 1,9-20 und aus dem ersten Satz jedes Sendschreibens ergibt. Sodann sind die Gemeindeverhältnisse, in Beziehung auf welche Weisungen gegeben werden, viel mannigfacher und viel typischer, als die in den Briefen an Timotheus und Titus berührten. Und endlich sind die Adressaten und Empfänger der Briefe viel mehr Pastoren, als jene Apostelgehilfen, die mehr einen missionierenden, als pastoralen Beruf hatten.
Am Anfang eines jeden der sieben Sendschreiben steht die Aufforderung, dass Johannes schreiben solle, was der verklärte Menschensohn sagt. Johannes, der Knecht Jesu Christi (Kap. 1, 1), der Bruder der Gläubigen in den sieben Gemeinden und ihr Mitgenosse an der Trübsal und am Reich und an der Geduld Jesu Christi (Kap. 1, 9) befindet sich auf der im ägäischen Meer südwestlich von Ephesus zwischen Samos und Naxos gelegenen Felseninsel Patmos, einer der Sporaden, die jetzt Palmosa heißt, und zwar um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu Christi willen (Kap. 1,9), offenbar nicht, um dort das Wort Gottes zu predigen, sondern weil er wegen seiner Predigt des Wortes Gottes dahin verbannt ist. Dass der Apostel Johannes mit diesem Johannes auf Patmos identisch ist, ist für die katholischen Theologen seit dem Tridentinum Glaubenssatz; die protestantische Theologie, soweit sie nicht ganz negativ ist und die Abfassung der Offenbarung einem Falsator1) zuschreibt, kämpft noch immer darüber, ob nicht statt an den Apostel Johannes vielmehr an den Presbyter Johannes zu denken sei, der doch vielleicht gar nicht einmal eine historische Person ist. Ist der Apostel Johannes denn der Verbannte auf Patmos, so legt der Inhalt des Buches es nahe, seinen Aufenthalt auf Patmos in das Jahr 68 als in das Todesjahr des Kaisers Nero zu sehen. In diesem Jahre trat das Ereignis ein, von dem Johannes Kap. 1, 10 schreibt: Ich war im Geist an des Herrn Tag. Der Tag des Herrn ist der Sonntag, wie er im Neuen Testamente zwar nur hier, aber von der Epistel des Barnabas und der Lehre der zwölf Apostel an immer heißt. Wir denken uns den Apostel an jenem Sonntag auf Patmos in der Stimmung der Braut des Hohenliedes, die des Bräutigams harrt. Da im Geiste, in prophetischer Entzückung hört er die Stimme des erhöhten Heilandes und schaut Ihn geistig, aber wirklich in symbolischer Gestalt mitten unter sieben goldenen Leuchtern, eines Menschen Sohne gleich, als einen Hohenpriester mit wallendem Talar, als König mit goldenem über die Brust gelegten Gürtel, mit silbernem Haupt und Haar als Zeichen der Ewigkeit, mit feuerflammenden Augen als Zeichen der Allwissenheit, mit Füßen wie Güldenerz, dem Zeichen der Allmacht, mit zweischneidigem Schwerte, dem Zeichen der richtenden Gerechtigkeit, das Angesicht wie die Sonne leuchtend zum Zeichen der lauteren Heiligkeit, sieben Sterne in seiner Hand, das sind die sieben Gemeinden. Und mit einer Stimme, die majestätisch rauscht, wie große Wasser rauschen, sagt ihm der Herr, wer Er ist: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige“ und womit Er ihn betraut: „Schreibe, was du gesehen hast, sowohl was da ist, als was geschehen soll danach; schreibe es in ein Buch und sende es zu den Gemeinden von Ephesus, Smyrna, Pergamus, Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodicea.“ Was geschehen sollte danach, die Entwicklung und Vollendung des Reiches Gottes, beschreibt Johannes vom 4. Kapitel des Buches an bis zum 22.; was da ist, die Gegenwart der Gemeinden und was für die Gegenwart ihnen nottut, das schreibt und beschreibt Johannes in den sieben Sendschreiben des zweiten und dritten Kapitels. Er schreibt, aber nicht aus seinen eigenen Gedanken, sondern aus den Gedanken des Herrn, den er im Geiste sieht und hört. Die sieben apokalyptischen Episteln wollen als Episteln des Herrn selber genommen sein, die dem Leser mit heiligem Ernste zurufen: Ziehe die Schuhe aus, hier ist heiliges Land!
Die sieben Gemeinden, denen die Episteln gelten, haben historisch so existiert, wie sie in den Episteln erscheinen, und zwar haben sie in der johanneischen Zeit so existiert. Es waren bestimmte Gemeinden in sieben Städten des prokonsularischen Asiens, die in einer Reihenfolge genannt werden, wie sie von Patmos aus die natürlichste ist, für die drei ersten in der Richtung nach Norden, für die vier andern in der Richtung nach Südost und Süden. Keine der sieben Gemeinden gleicht der andern; jede von ihnen hat ihr eigentümliches Gepräge; jede von ihnen erfährt auch in den Sendschreiben ihre besondere Behandlung, sowohl in der Charakteristik, als in der Zuteilung von Lob oder Tadel, von Mahnung, Warnung und Verheißung. Wir befinden uns also in den sieben Sendschreiben ganz und gar auf historischem Boden. Dass die sieben Gemeinden, an deren Spitze die in Ephesus steht, den Sprengel des Apostels Johannes gebildet hätten, ist nicht beweisbar, aber doch nicht unmöglich. Andrerseits weist schon die heilige Zahl Sieben, dann das feierliche Halten der sieben Sterne in der Hand des Herrn und schließlich der ganze Charakter der Offenbarung Johannes darauf hin, dass die historischen sieben Gemeinden zugleich typische Gemeinden sind und die Tragweite des Zwecks der apokalyptischen Briefe weit über die johanneische Zeit hinaus in alle Zeiten reicht. Freilich nicht so, als ob in den sieben Gemeinden sieben aufeinanderfolgende Perioden der Kirchengeschichte ab- und vorgebildet wären, in der Gemeinde zu Ephesus die apostolische Zeit, in der zu Smyrna die Kirche in der Verfolgungszeit, in der zu Pergamus die konstantinische Zeit usw.; diese kirchengeschichtliche Deutung vermag weder dem Text, noch der Geschichte gerecht zu werden.
Ebenso wenig ist die endgeschichtliche Deutung haltbar, nach welcher die sieben Gemeinden Weissagung sind auf sieben Kirchen vor dem jüngsten Tage, wie z. B. der Irvingianismus in seinen sieben Londoner Gemeinden die Erfüllung der Propheten der Sendschreiben sah. Am allerwillkürlichsten ist die Deutung auf sieben Konfessionen der Christenheit, die zu misslichen theologischen Spielereien und törichtem theologischen Gezänke führt, wie denn der reformierte Theologe Ebrard das liebliche Philadelphia auf die reformierte und das hässliche Sardes auf die lutherische Kirche deutete, welche Deutung der lutherische Theologe Kliefoth als eine zynische bezeichnete. Die einzig richtige, weil einzig haltbare symbolisch typische Deutung der sieben Gemeinden ist die, dass man mit Bengel sagt: „Diese Sieben geben in ihrer Lage und Beschaffenheit ein Muster aller Gemeinden zu selbigen und folgenden Zeiten ab.“ Es stellen sich in den sieben apokalyptischen Gemeinden die Zustände dar, wie sie sich in der Kirche aller Zeiten finden und wie sie in ihrer Gesamtheit auch heute noch die Signatur der ganzen Kirche bilden. Wenn wir Pastoren die sieben Sendschreiben lesen und studieren, haben wir Besseres zu tun, als kirchengeschichtliche, eschatologische, konfessionelle Fragen zu ventilieren; wir haben uns selbst und die uns anvertrauten Gemeinden in dem Spiegel der Apokalypse Kap. 2 und 3 zu beschauen und die praktischen Fragen zu erwägen: Bin ich ein philadelphischer Pastor oder ein thyatirischer oder ein laodicenischer usw.? Was kann ich tun, um sardisches oder laodicenisches Wesen auszurotten? Was kann ich tun, um die erste Liebe wieder zu erwecken? Was muss ich tun, da der Herr mir eine offene Tür gegeben usw.? Nur wenn wir die sieben Sendschreiben in dieser Weise behandeln, werden wir sie richtig deuten und richtig anwenden.
Wir werden uns dazu umso mehr angetrieben fühlen, wenn wir uns klar gemacht haben, dass von allen Episteln der Bibel gerade die sieben im Lapidarstil geschriebenen kleinen und doch so großen Episteln des Herrn das Eigentümliche haben, dass sie so recht eigentlich Briefe an Pastoren sind. Denn so sehr auch der Inhalt jedes der sieben Sendschreiben jedes Mal der bezüglichen Gemeinde gilt und der Gemeinde nütze ist zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, so lautet doch der identische Anfang jedes Sendschreibens nicht: „Schreibe der Gemeinde“, sondern „dem Engel der Gemeinde schreibe!“ Dass diese sieben Adressaten nicht im Himmel zu suchen sind, nicht Engel im gewöhnlichen Verstande sind, bedarf keines Beweises oder wenigstens nur dieses einen: Die Engel, an die die Briefe geschrieben sind, werden vielfach zur Buße ermahnt, die heiligen Geister aber, die im Himmel leben, bedürfen keiner Buße. Dass die Engel der apokalyptischen Gemeinden ideale Abstraktionen der Gemeinden sein sollen, personifizierte Gemeindegeister oder wie man das nun sonst ausdrückt, ist doch nur ein modernes Fündlein; solche abstrusen Abstraktionen sind nicht nur der Bibel, sondern der ganzen Antike fremd. Die älteste Auslegung des Ausdrucks ist auch die richtigste und die für einen verständigen Menschen allein verständliche: menschliche Oberhirten, ein jeder an der Spitze einer Gemeinde, Bischöfe, sagen die Katholiken, Pastoren, sagen wir Evangelischen, sind gemeint, die geistlichen Vorsteher und Aufseher der Gemeinden, die sonst im Neuen Testamente Presbyter oder Episkopen genannt werden; dass sie in der poetischen Sprache des letzten und einzigen prophetischen Buches des Neuen Testamentes Engel genannt werden, korrespondiert vortrefflich mit der Sprache des letzten prophetischen Buches des Alten Testamentes; Maleachi 2,7 ist ja ein gesperrt gedruckter Bibelvers: „Des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, dass man aus seinem Munde das Gesetz sucht, denn er ist ein Engel des Herrn Zebaoth.“ Übrigens wird auch Johannes der Täufer Matth. 11, 10 als Engel Gottes genannt; und Paulus lobt die Galater (4, 14), dass sie ihn, den Prediger des Evangeliums, trotz der Anfechtungen, die er nach dem Fleisch gelitten, nicht verachtet, noch verschmäht, sondern als Engel Gottes aufgenommen haben. Dass in den Sendschreiben nur immer von einem Engel der Gemeinde die Rede ist, während wir doch z. B. aus der milesischen Abschiedsrede Pauli wissen, dass in Ephesus mehrere Ältesten oder Episkopen waren, erklärt sich entweder durch die Annahme, dass nicht der einzelne Älteste, sondern die Ältestenschaft, nicht der einzelne Prediger, sondern das Pastorat gemeint ist, oder durch die andre Annahme, dass, wo mehrere Älteste waren, schon früh einer von ihnen die höchste Leitung und das höchste Ansehen erlangte. Es ist kühn, wenn aus dem Ausdruck „Engel“ geschlossen wird, dass Amt und Auftrag der Pastoren nicht in der Gemeinde, sondern am Throne Gottes wurzelt und dass menschlicher Auftrag und menschliche Einrichtung ein von den Pastoren abzuweisender Sandgrund sei. Aber das muss doch stehen bleiben, die Pastoren könnten nicht Engel genannt werden, wenn sie nicht Boten und Botschafter Gottes wären. Das bringt ihnen Ehre, Herrlichkeit, Freudigkeit, aber auch eine ganz ungeheure Verantwortung und Demütigung; denn die sieben Sendschreiben fassen immer den Diener des Herrn und die Gemeinde des Herrn in eins, und ist die Gemeinde zu tadeln, so wird er an erster Stelle getadelt. Die sieben Sendschreiben sind wie Pastoralbriefe, so Pektoralbriefe in objektivem Sinne; sie sollen uns Pastoren zu Herzen gehen, damit sie durch uns den Gemeinden zu Herzen gehen.
Zum Schluss der Einleitung noch das Nötigste über die mehr oder minder gemeinsame Form der sieben Sendschreiben. Sie bestehen alle - aus dem Auftrag an Johannes zu schreiben von Seiten des erhöhten Herrn, der sich jedes Mal mit besonderen Prädikaten bezeichnet, die meistenteils aus der Kap. 1 geschilderten symbolischen Erscheinung genommen sind und zu dem Inhalt des betreffenden Schreibens in bedeutsamer Beziehung stehen. In 1 stellt Christus sich vor als den Herrn der 7 Sterne und wandelnd inmitten der 7 Gemeinden; in 2 als den Ersten und Letzten und Auferstandenen; in 3 als den Inhaber des Schwerts, den Richter; in allen dreien als den Menschensohn. In 4 stellt Er sich als den Sohn Gottes vor, allwissend und allmächtig; in 5 ist Er als solcher auch der Inhaber der Geister Gottes. In 6 steht Er als der Heilige und Wahrhaftige da, der wahre Davidssohn, und in 7 als der Amen auf alle Gottesverheißung, in dem die ganze Gottesschöpfung wurzelt und gipfelt, was den Begriff des heiligen und wahrhaftigen Davidssohns in seiner ganzen Fülle darstellt.
- Aus der Anrede an den mit der Gemeinde zusammengefassten Pastor der Gemeinde; demselben wird ein Zeugnis über das Verhalten der Gemeinde und eine Ankündigung dessen, was dem Verhalten gemäß nötig ist oder erfolgen wird, gegeben; - aus dem Verheißung und Mahnung umfassenden Schluss; in den drei ersten Sendschreiben geht die Mahnung der Verheißung voraus. In 1 verheißt Christus: Essen vom Baume des Lebens im Paradiese Seines Gottes; in 2: Nicht verletzt werden vom zweiten Tode; in 3: Essen vom verborgenen Manna, ein weißes (gutes) Los und einen neuen Namen darauf. Das zweite ist dem Sinne nach dem ersten gleich; das dritte geht ihm parallel. Die Urgeschichte der Menschheit im Paradiese und die Erhaltung Israels in der Wüste bis zur Verlosung des verheißenen Landes sind als bekannte Vorbilder vorausgesetzt. In 4 wird dann verheißen: Macht und Herrlichkeit; in 5: Heiligkeit und Gerechtigkeit; in 6: Bürgerrecht im neuen Gottesreiche; in 7: Sitzen mit Christo auf Seinem Throne.
Wir versenken uns nun in die sieben Sendschreiben selbst, um aus ihnen, als den Pastoralbriefen des himmlischen Erzhirten, uns belehren zu lassen für pastorales Amt und pastorales Verhalten.