Quandt, Emil - Sacharjas Nachtgesichte und Morgenklänge - Das zweite Kapitel.

Quandt, Emil - Sacharjas Nachtgesichte und Morgenklänge - Das zweite Kapitel.

Das dritte Gesicht des Propheten von dem Manne mit der Messschnur und von dem Engel des Herrn, der aus Jerusalem kommt.

Vers 1. Und ich hob meine Augen auf und sah, und siehe, ein Mann hatte eine Messschnur in der Hand. Die Eingangsformel: „Ich hob meine Augen auf“ vertritt die Stelle der Überschrift: „Ein neues, das dritte Gesicht.“ Das Wörtlein „und“ aber jetzt das dritte Gesicht in ganz engen Zusammenhang mit den beiden vorigen; es ist nämlich auch dieses dritte Nachtgesicht, gerade so wie das zweite ein Ergänzungsgesicht zum ersten. Hatte das zweite Gesicht das Wort des Herrn im ersten Gesicht 1,15: „Ich bin sehr zornig über die stolzen Heiden“ näher ausgelegt, so ist nun dies dritte Gesicht eine ausführliche Darlegung dessen, was der Herr mit jenem anderen Wort im ersten Gesicht 1,16 meint: Die Zimmerschnur soll in Jerusalem gezogen werden.

Es wird dieses Wort aus dem ersten Gesicht nun in ein besonderes Gesicht übersetzt. Der Prophet schaut in der Entzückung einen Mann mit einer Zimmerschnur oder Messschnur in der Hand. Diese Messschnur musste ja für den Propheten, eben nach dem Wort, das er im ersten Gesichte schon gehört hatte, von vornherein eine tröstliche und erfreuliche Erscheinung sein. Ohne jenes vorbereitende Wort hätte der Prophet bei der Messschnur allerdings auch an Gerichte, statt an Gnaden Gottes denken können. Denn die Messschnur war in der prophetischen Sprache ein sehr gewöhnliches Sinnbild des göttlichen Zornes. Wenn Gott 2. Kön. 21,13. droht: „Ich will über Jerusalem die Messschnur Samarias ziehen,“ so heißt das: „Wie ich Samaria verwüstet habe, so will ich nun auch Jerusalem verwüsten.“ Wenn Jesaias 34,11 weissagt: „Gott will eine Messschnur über Edom ziehen“, so weissagt er damit Edoms Verderben; es soll Alles glatt, der Erde gleich werden, wie es ist, ehe eine Stadt gebaut wird. Aber an unserer Stelle geht die Messschnur nicht auf eine regelrechte Zerstörung, sondern auf eine regelrechte Erbauung, gerade so wie das Hesekiel 40 der Fall ist, wo der Cherub mit der leinenen Schnur und der Messrute den Bau des neuen Tempels mit seinen Toren und Hallen ankündigt. Und gerade wie es bei Hesekiel 40 ein erschaffner Engel ist, der die Schnur in der Hand hat, so ist auch in diesem Gesichte Sacharjas der Mann mit der Messschnur nicht gleichbedeutend mit dem Mann unter den Myrthen im ersten Gesicht, nicht der unerschaffne Engel des Herrn, sondern ein gewöhnlicher erschaffner Engel, wie das aus Vers 3. ff. ganz deutlich zu ersehen ist; er steht auf gleicher Stufe mit denjenigen Engeln im ersten Gesicht, die der Bundesengel als seine Diener ausgesandt hatte, die Lande zu durchziehen.

Vers 2. Und ich sprach: Wo gehst du hin? Er aber sprach zu mir: Dass ich Jerusalem messe, und sehe, wie lang und weit sie sein soll. Der Standpunkt also, den Sacharja in diesem Gesichte einnimmt, ist nicht Jerusalem, sondern irgend ein verborgener Platz außerhalb der Stadt; so war ja auch das Myrthenwäldchen im ersten Nachtgesicht als außerhalb der Stadt Jerusalem befindlich zu denken. Der Mann mit der Messschnur, den Sacharja beim ersten Aufblick sich ganz nahe gesehen hatte, entfernt sich alsbald von ihm und geht auf Jerusalem zu; der Prophet redet ihn an und erhält auf seine Frage nach dem Zweck seiner Messschnur und seines Ganges die Antwort, dass er rings um die Stadt zu gehen habe, die Länge und Weite auszumessen. und so den Wiederaufbau Jerusalems vorzubereiten. Hiermit ist die Erscheinung des Mannes mit der Messschnur abgeschlossen; er wird im Folgenden nicht mehr erwähnt, sondern es kommt nun eine neue Erscheinung, nämlich die des aus Jerusalem kommenden Engels des Herrn.

Vers 3. Und sieh der Engel, der mit mir redete, ging heraus. Und ein anderer Engel ging heraus ihm entgegen. Das Wörtlein „siehe“ macht auf die neue Erscheinung, für die der Anblick des Mannes mit der Messschnur nur Einleitung und Vorbereitung gewesen war, aufmerksam. So lange jener Anblick währte, hatte sich der dem Propheten beigegebene Engel still und stumm verhalten; kaum aber ist der Mann mit der Messschnur dem entzückten Auge des Propheten verschwunden, als auch sofort der Engel, den Sacharja auf seinem stillen Platz bei sich hat, denselben Weg einschlägt, den der Mann mit der Messschnur gegangen ist, den Weg nach Jerusalem. Und wie der Prophet, nunmehr allein gelassen, dem sich entfernenden Engel nachsieht, bemerkt er alsbald, dass demselben aus der Stadt heraus ein anderer Engel entgegenkommt. Dieser dritte, von Jerusalem her erscheinende Engel nun ist die Hauptperson im ganzen dritten Gesicht, es ist derselbe, der im ersten Gesicht auf rotem Rosse unter den Myrthen gehalten hatte, nämlich der unerschaffne Engel des Herrn, als welchen er. sich in seiner nachfolgenden Rede von Vers 4 bis Vers 13 mit gar nicht zu verkennender Deutlichkeit selbst bezeichnet.

Vers 4. Und sprach zu ihm: Lauf hin und sage diesem Knaben und sprich: Jerusalem wird bewohnt werden ohne Mauern, vor großer Menge der Menschen und Viehes, so darinnen sein wird. Der Engel des Herrn und der Engel Sacharjas treffen sich auf einem Punkt, der dem Propheten noch so nah ist, dass er hören und verstehen kann, was der eine zum anderen spricht. Was nun der Engel des Herrn zum Engel Sacharias in längerer Rede spricht, spricht er für Sacharja selbst; denn zu diesem schickt er seinen Engel zurück, er soll eiligst zu ihm geben, laufen, und ihm die gute Botschaft bringen. Es darf uns nicht stören, dass, da Sacharja die Rede des Engels des Herrn selber hört, die Überbringung der Worte durch den dienenden Engel wie überflüssig erscheinen will; dem Propheten wird dasselbe zweimal gesagt, damit es sich ihm recht einpräge. Ist er doch ein Knabe, dem wichtige Dinge nicht oft genug gesagt werden können! Man hat den Ausdruck „Knabe“ ganz allein sinnbildlich verstehen wollen und gesagt, es sei so viel als „unmündiger Jünger“, als „schwaches, armes Menschenkind“, als ein armes Wesen, auf das die Engel nur mit unendlicher Herablassung niederblicken; und Einige meinen sogar, die Engel der Gesichte Sacharjas hätten eine so kolossale Größe gehabt, dass dagegen der Prophet in seiner menschlichen Gestalt wie ein winziger Knabe ausgesehen habe. Allein wir vermögen nicht einzusehen, warum man an unserer Stelle von der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes „Knabe“ abgehen soll, nur dass wir dies Wort hier schicklicher verdeutschen: Jüngling, denn das ist hebräisch dasselbe Wort mit Knabe. Der Prophet zwar, wie wir das in unserer Erklärung zu Kap. 1,1 besprochen haben, gewiss noch ein ganz junger Mann, als er seine Offenbarungen empfing; diese seine tatsächliche Jugend aber schloss ja dann allerdings auch die Unmündigkeit ein, die jeder Mensch hat gegenüber den heiligen, mit himmlischer Weisheit ausgerüsteten Engeln und sonderlich dem Engel des Herrn gegenüber hat, in welchem beschlossen sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis. Jerusalem wird bewohnt werden ohne Mauern - mit dieser trostesvollen Verheißung hebt die Rede des Engels an. Jerusalem ist der Ort, um den sich in diesem Gesicht Alles dreht; nach Jerusalem geht der Mann mit der Messschnur, nach Jerusalem macht sich Sacharjas Engel auf den Weg, von Jerusalem kommt der Engel des Herrn; es ist eine große Bewegung im Jerusalem; jetzt in der Rede des Engels des Herrn kommt diese Bewegung zur Ruhe und das Rätsel zur Lösung. Jerusalem, so erklärt der Engel des Herrn, soll wieder von einer großen Volksmenge bewohnt werden. – Diese Weissagung begann sich sehr bald zu erfüllen, von der Ankunft Esras und Nehemias an vermehrte sich die Bevölkerung Jerusalems in rascher Zunahme. Aber dass Jerusalem ohne Mauern, wegen seiner großen Fülle von Einwohnern, bewohnt werden soll, ist eine Weissagung, deren Erfüllung Sacharja an dem räumlichen Jerusalem nicht sah, denn die Mauern der Stadt wurden gerade zur Freude des Volks unter Esra und Nehemia wieder hergestellt. Wir sind hier zum ersten Mal im Buche Sacharjas an einer Stelle, die sich nur bei der Erkenntnis erklären lässt, dass Sacharja nicht nur seine Zeitgenossen, sondern das rechte Israel alter Zeiten trösten soll. Das Jerusalem ohne Mauern ist nicht die jüdische Stadt in Palästina, sondern die geistliche Stadt der Kirche Jesu Christi, die durch jene vorbedeutet ist, aber nicht, wie jene, äußerliche Bollwerke nötig hat. Jerusalem, so haben wir den Sinn dieser Weissagung zu fassen, wird nicht nur jetzt aufs Neue aufblühen, sondern es wird sich auch aus ihm heraus, wenn die Zeit erfüllt ist, eine Stadt ohne Mauern, eine herrliche geistliche Stadt entwickeln, die Stadt des Herrn Zebaoth, die er ewiglich erhält Psalm 48,9, deren Mauern Heil und deren Tore Lob heißen Jes. 60,18. Die Gemeinde Jesu Christi aller Zeiten, die das Heil, das von den Juden kommt, im Glauben ergriffen hat, das Israel rechter Art, das aus dem Geist erzeugt ward, das ist diese Stadt ohne Mauern, bewohnt von vielem Volk, an der der Herr seine Lust hat, und von der wir singen: Auf, lasst uns Zion bauen mit freudigem Vertrauen, die schöne Gottesstadt; wenn wir ans Werk erst gehen, wird sie bald fertig stehen; wohl dem, der mitgebaut hat!

Vers 5. Und ich will, spricht der Herr, eine feurige Mauer umher sein und will darinnen sein und will mich herrlich darinnen erzeigen. Wir müssen nun bei diesem und allen folgenden Versen der weissagenden Rede immer im Auge behalten, dass zwar zunächst das örtliche Jerusalem der Gegenwart, dessen Einwohner zu trösten und zu ermuntern Sacharjas nächste Sendung war, gemeint ist, aber zugleich in, mit und unter dem selben das geistliche Jerusalem der Zukunft. Dass der Herr seiner Stadt eine feurige Mauer sein will, verbürgt ihr seinen mächtigen Schutz; wer von dem allmächtigen Gott behütet wird, ist sicherer, als wenn er hinter himmelhohen Mauern säße. „Ich will darinnen sein und will mich herrlich darinnen erzeigen“ ist genauer also zu übersetzen: „Ich will in ihr meine Herrlichkeit erzeigen“, nämlich die Herrlichkeit meiner wunderbaren Hilfe. Gott ist ein Gott, der den Elenden herrlich hilft Psalm 149,4; denn sein Rat ist wunderbarlich und führt es herrlich hinaus Jes. 28,29. Diese Herrlichkeit der Hilfe Gottes haben die Juden zu Sacharjas Zeit reichlich erfahren; am allerherrlichsten aber hat Gott als Helfer Israels und der Menschheit sich in der Fülle der Zeit erwiesen, da er, Gott offenbart im Fleisch, als der barmherzige Samariter auf Erden erschien, um dem unter die Mörder gefallenen Geschlechte Adams durch eine ewige Errettung zu helfen. Alle diejenigen aber, die sich seiner rettenden Gnade hingeben, erfahren fort und fort durch alle Zeiten des neuen Bundes, dass der Herr ein unerschöpfliches Meer von Hilfe ist und danken ihm für alle Hilfe, so auf Erden geschieht.

Vers 6. Hui! Hui! Flieht aus dem Mitternachtlande, spricht der Herr, denn ich habe euch in die vier Winde unter dem Himmel zerstreut, spricht der Herr. „Hui“ ist ein freudiges Ermunterungszeichen, dem wir mehr in der Schrift begegnen. Die Ermunterung ist an diejenigen Kinder Israels gerichtet, die in alle vier Weltgegenden zerstreut sind, sonderlich an diejenigen, die in dem Mitternachtslande, d. i. in dem nördlich von Palästina gelegenen Babylonien, wohnen; sie sollen nun kommen und einziehen in die heilige Stadt, denn die Zerstreuung soll ein Ende haben und Jerusalem soll ihnen offen stehen. Jerusalem soll also bevölkert werden mit Zionskindern aus allen Himmelsrichtungen; dies geschah zu den Zeiten Esras und Nehemias in etwa an dem Jerusalem mit Mauern; dies ist geschehen und geschieht fort und fort in viel größerem Maßstabe an dem Jerusalem ohne Mauern; in seiner geistlichen Stadt werden dem Herrn fort und fort Kinder geboren wie der Tau aus der Morgenröte, und es kommen von Morgen und von Abend, die hinter der feurigen Mauer ihres Heilandes Schutz und Sicherheit suchen.

Vers 7. Hui, Zion, die du wohnst bei der Tochter Babel, entrinne. Geht aus von Babel, flieht von den Chaldäern mit fröhlichem Schall - so hatte schon Jesaias 48,20 geweissagt. Diese und ähnliche alte Prophetensprüche werden nun wieder aufgenommen, denn nun hatten die Stunden sich gefunden, da die Hilfe der Errettung mit Macht anbrach. Die Tochter Babels sind die Babylonier, wie Vers 10 die Tochter Zions die Israeliten; das Volk ist als der Vater der Hauptstadt gedacht. Das Wohnen Zion bei der Tochter Babel war ja wahrlich kein angenehmes Wohnen; lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen, aber gar unlieblich, wenn Zionskinder in den Hütten der Feinde Gottes wohnen müssen. Wie unglücklich sich Zion bei der Tochter Babel fühlte, das zeigt unter Anderm der 137. Psalm: An den Wassern zu. Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten; unsre Harfen Hingen wir an die Weiden, die darinnen sind. So war es denn ein überaus süßer Schall, wenn Zion hören durfte, dass die Zeit des Entrinnens aus Babel nun vorhanden sei. Derselbe Schall ertönt noch immer jeder einzelnen Zionsseele, wenn ihr Stündlein vorhanden ist da der Herr sie abruft aus dem Babel dieser Welt. Wie oft seufzt ein Gotteskind unter dem Druck gottloser Umgebungen: „Es wird meiner Seele bange zu wohnen bei denen, die den Frieden hassen“ und wie sehnlich wartet sie auf den Tag der Erlösung! Kommt er dann nun und heißt es: „Hui, Zion, die du wohnst bei der Tochter Babel, entrinne“! dann seufzt die Seele fröhlich und singt: Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt; dein sündlich böses Leben durchaus mir nicht gefällt; im Himmel ist gut wohnen, hinauf steht mein Begier; da wird Gott herrlich lohnen dem, der ihm dient allhier.

Vers 8. Denn so spricht der Herr Zebaoth: Er hat mich gesandt nach der Ehre (wörtlich: nach der Herrlichkeit) zu den Heiden, die euch beraubt haben; ihre Macht hat ein Ende. Wer euch antastet, der tastet seinen Augapfel an. Der Anfang dieses Verses bringt eine höchst merkwürdige Ausdrucksreise. Der Engel, der mit dem Engel Sacharias redet, spricht von sich in der dritten Person und nennt sich den Herrn Zebaoth und setzt dann dennoch hinzu: Er - was wieder Niemand jetzt anders sein kann als der Herr Zebaoth - hat mich gesandt. Ebenso sagt der Engel, der sich den Herrn Zebaoth nennt, Vers 9 und Vers 11 ausdrücklich: Der Herr Zebaoth hat mich gesandt. Wir haben hier also einen persönlichen Unterschied in dem Einen göttlichen Wesen, nämlich einen sendenden Herrn Zebaoth, der im Himmel thront, und einen gesandten Herrn Zebaoth, der als erscheinender Bundesengel auftritt. Kaum anderswo im alten Testament finden wir eine so klare Gegenüberstellung des göttlichen Sohnes und des göttlichen Vaters, als hier bei Sacharja, die Ausprägung des zukünftigen Menschensohnes und Gesalbten rückt hier schon sehr in die Klarheit des neuen Testamentes hinüber. Wenn der Herr Zebaoth an unserer Stelle nun seine Sendung bezeichnet als eine Sendung nach der Herrlichkeit zu den Heiden, so verstehen wir dies so, dass Gott seinen göttlichen Boten aussendet nach der wiederherzustellenden Herrlichkeit Jerusalems, die seine eigene Herrlichkeit ist, dieselbe gleichsam, als geraubt von den Heiden, wieder einzufordern. Es war dies ebenso tröstlich für das damalige örtliche Jerusalem, wie es tröstlich ist für das geistliche Jerusalem aller Zeiten, Ihre Macht hat ein Ende, das ist zwar ein Einschiebsel von Luther und steht nicht im Urtext, ergänzt aber sehr richtig den Sinn; die Macht der Unterdrücker Israels, so groß und lastend sie zu Zeiten ist, ist doch eben nur eine zeitliche, darum endliche Macht, der Herr spricht zu dieser Macht immer rechtzeitig sein: „Bis hierher und nicht weiter“, denn er leidet es zwar, dass die Herrlichkeit Jerusalems verdunkelt, nicht aber dass sie vernichtet wird. Wer seine Auserwählten antastet, der tastet seinen Augapfel an - so ein herrliches Wort der göttlichen Gnade, eine sprudelnde Quelle unendlich beseligenden Trostes für betrübte Kinder Gottes. Der Herr hält seine Kinder so wert, wie der Mensch seinen Augapfel wert hält. Wer dem Menschen sein Auge verletzt, tut ihm in empfindlichster Weise wehe; so fühlt es der große Gott als eignen Schmerz, wenn seinen Kindern auf Erden ein Leides geschieht. Und wie der Mensch sich aufs Äußerste wehrt, wenn man ihm sein Auge beschädigen oder rauben will, so verteidigt Gott die Seinen, wenn der Feinde Macht und List ihnen nach dem Leben steht. Tastet meine Gesalbten nicht an, so hatte Gott Psalm 105,15 gesprochen; und wie sehr er ein solches Antasten seiner Kinder rächt, hatte er schon in alten Tagen an den ägyptischen Drängern bewiesen, die im roten Meer ihren jämmerlichen Untergang gefunden hatten, so dass Moses in seinem Lobgesang 5. Mose 32,10 singen konnte: Er behütete sein Volk wie seinen Augapfel, eine Schriftstelle, auf die unser Vers mit seinem Ausdruck zurückweist. Wie es in der Vergangenheit gewesen, so soll es eben in alle Zukunft sein; das rechte, wahre Israel wird immer des Herrn Augapfel bleiben, auf den er den sorgsamsten, achtsamsten Schutz hat; nur dass freilich auch die rechten Israeliten das Beten um diesen Schutz nimmer vergessen dürfen, sondern in jeder Not den Seufzer Davids (Psalm 17,8) gen Himmel schicken müssen: „Behüte mich, o Herr, wie einen Augapfel im Auge, beschirme mich unter dem Schatten Deiner Flügel!“

Vers 9. Denn siehe, ich will meine Hand über sie weben, dass sie sollen ein Raub werden denen, die ihnen gedient haben; dass ihr sollt erfahren, dass mich der Herr Zebaoth gesandt hat. Wie sich der Herr im vorigen Verse einen Augapfel zuschreibt, so in diesem eine Hand; und doch ist Gott ein Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Es sind ja daher freilich solche Ausdrücke bildlich zu fassen, dennoch aber dürfen sie nicht durch übertriebene Entkleidung des darin liegenden Menschenähnlichen verflüchtigt werden; denn Gott ist offenbart im Fleisch und, der da wahrhaftiger Gott ist, herrscht auf dem Throne des Vaters als wahrhaftiger Mensch. Aus der Rücksicht auf diese Menschwerdung Gottes und nicht bloß aus der Rücksicht auf unsre schwache menschliche Fassungskraft in göttlichen Dingen ist es zu erklären, dass dem ewigen Gotte in der heiligen Schrift Augen und Ohren, Hände und Füße beigelegt werden. Wo nun in der heiligen Schrift von der Hand Gottes die Rede ist, ist entweder seine Güte oder seine Macht gemeint, an unserer Stelle diejenige Machterweisung Gottes, nach welcher er die Feinde seines Volkes seine Strafe fühlen lässt. Denn weben ist so viel als „schnell hin und her bewegen“; Gott webt seine Hand über die frechen Antaster seines Volkes, d. h. Er schwingt sie kräftig zur Strafe über sie; geradeso wie es Jesaias 19,16 heißt: Zu der Zeit wird Ägypten sein wie Weiber und sich fürchten und erschrecken, wenn der Herr Zebaoth die Hand über sie weben wird. Die Weissagung, dass die Dränger Israels denen, die ihnen gedient haben, also den Israeliten zum Raube werden sollen, greift nun allerdings weit über die Gegenwart des Propheten Sacharja und seiner Zeitgenossen hinaus; denn nicht das damalige Israel ist zum weltbeherrschenden Volk geworden, wohl aber das geistliche Israel, das aus dem alten wie der Kern aus der Schale hervorgegangen ist; die Züchtigung, die Unterwerfung der Heiden in geistlicher Weise ist nicht durch die Juden, sondern durch die Christen vollzogen und vollzieht sich fort und fort und nicht am wenigsten in unsern Tagen auf den Gebieten der heiligen Mission. Die Heiden aber, die widerspenstig bleiben und sich vor der rufenden Gnade nicht beugen wollen, werden sich endlich der Macht beugen müssen; denn mit Feuer wird gesalzen, was milde Zucht verschmäht und was den Tau verachtet, mit Flammen übersät.

Vers 10. Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zions; denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der Herr. Zur Freude, ja zum Jauchzen („Jauchze, du Tochter Zion“, will der Anfang des Verses genauer übersetzt sein) fordert der Herr Jerusalem auf, indem er sein kommen und sein in Jerusalem Wohnung machen ankündigt durch den Engel an Sacharja, durch Sacharia an Israel. Dieser Freudenruf des Herrn: „Siehe, ich komme“ erging ja zunächst an das damalige Israel und erfüllte sich für dasselbe durch die Vollendung in der Weihe des neuen Tempels in vorläufiger Weise, bis es von Mariä Verkündigung an durch den Advent des Menschensohnes in unaussprechlich großartiger Weise zur Erfüllung kam. Derselbe Freudenruf des Herrn: „Siehe, ich komme“ ist ja dann in der Fülle der Zeit auch an die Heiden ergangen, denn die große Freude des Adventes Jesu Christi war nicht bloß dem Volke der alten Wahl, sondern allem Volke bestimmt, und der da kam zum Preise Israels, kam auch als das Licht der Heiden. Derselbe Freudenruf des Herrn: „Siehe, ich komme“ ergeht noch heute an jedes Christenherz, dass es die Gnade des Herrn erfahren soll, den der Vater gesandt hat in die Welt, die Sünder selig zu machen; die innere Einwohnung Christi durch den Glauben, die geistliche Erfahrung von dem Nahesein Christi im Herzen gibt und erfüllt auf Erden am tiefsten und nachhaltigsten die in unserem Vers verheißene Freude. Die ganze, völlige Erfüllung aber erfolgt erst droben am himmlischen Zion, wo ein ewiges, seliges Zusammenwohnen des Herrn mit seinem Volk, das sich hier unten nur abschattet und vorbildet, stattfinden wird.

So reicht denn der Inhalt dieses Verses von der Zeit Sacharjas durch die Seiten beider Testamente und drüber hinaus in die Ewigkeit der Ewigkeiten, von dem alten Jerusalem in Palästina bis auf das geistliche Jerusalem, das da ist die heilige christliche Kirche, und weit drüber hinaus bis auf das neue Jerusalem, das Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.

Vers 11. „Und sollen zu der Zeit viele Heiden zu dem Herrn getan werden und sollen mein Volk sein; und ich will bei dir wohnen, dass du sollst erfahren, dass mich der Herr Zebaoth zu dir gesandt hat.“ Die Weissagung, dass Gott unter Israel wieder seine Wohnung nehmen will, wird in diesem Verse wiederholt, weil sie eben für das damalige tempellose Volk Israel den nächsten und notwendigsten Trost erhielt. Als ein neues Moment der Weissagung tritt in diesem Verse hinzu, dass viele Heiden zu dem Herrn getan und des Herrn Volk sein sollen -; dass diese Weissagung sich an dem irdischen Jerusalem nicht erfüllt hat, lag an der Untreue des bald wieder abfallenden Israels; au dem geistlichen Jerusalem hat sie sich herrlich erfüllt und erfüllt sich noch immer, auch vor unsern Augen; jede Heidenseele, die den, den Gott zur Rettung der Menschheit gesandt hat, mit Freuden erkennt und aufnimmt, wird zum Herrn getan und seinem priesterlichen Volk einverleibt. Jeder Missionssieg des Herrn Jesu aber ist seiner Kirche immer eine neue Bestätigung, dass er es ist, den der Herr Zebaoth gesendet hat. Die große weltgeschichtliche Erscheinung der Mission entschleiert ja oft selbst blöden Augen den Herrn Christum als Reichsherrn, der da herrscht mitten unter seinen Feinden. Wenn jener Hofprediger auf die Frage seines Monarchen: „Welches ist der kürzeste und schlagendste Beweis für die Wahrheit des Christentums?“ antwortete: „Majestät, die Juden!“ so hätte er mit nicht minderem Rechte auch antworten mögen: „Majestät, die Heiden!“ Denn der siegreiche Gang Immanuels durch die Lande der Finsternis und des Todesschattens zeugt in unzweideutigster Weise davon, dass dem erhöhten Menschensohne, den die Christenheit als ihren Herrn und Heiland anbetet, gegeben ist alle Gewalt im Himmel und auf Erden.

Vers 12. „Und der Herr wird Juda erben für sein Teil in dem heiligen Lande und wird Jerusalem wieder erwählen.“ Es ist als ob der Engel des Herrn an dem Lobgesang Mosis 5. Mos. 32 seine ganz besondere Freude hätte; wie er vorhin mit dem Satz: „Wer euch antastet, der tastet seinen Augapfel an“ auf denselben zurückgegriffen hatte, so spielt er auch in diesem Verse auf denselben an, nämlich auf 5. Mose 32,9: Denn des Herrn Teil ist sein Volk und Jacob ist die Schnur seines Erbes d. i. sein durch die Messschnur abgemessnes Erbstück. Wenn aber zu Mosis Zeit das ganze Volk Israel des Herrn Erbe genannt wurde, so wird jetzt zu Sacharjas Zeit nur Ein Stamm dieses Gottes mit diesem Ehrennamen genannt, nämlich der Stamm Juda, wie denn auch damals tatsächlich nur Juda aus der Gefangenschaft ins heilige Land zurückgekehrt war und zurückkehrte; wenigstens waren die Hauptbestandteile der kleinen aus Babel zurückehrenden Schar Reste des Stammes Juda, und der als Landpfleger an ihrer Spitze stand, Sesbazar oder Serubabel, war ein Stammfürst Judas und Sprössling des davidischen Hauses. Dennoch ist an dem damaligen Juda und seinem Fürsten die Weissagung unseres Verses nur auf annähernde Weise in Erfüllung gegangen; die wahre Erfüllung ist in der Erscheinung Jesu Christi, des Löwen aus Judas Stamm geschehen. Auf weist unser Vers in seiner Spitze; der Sohn Gottes in Engelgestalt weissagt hier von seinem Kommen in Menschengestalt, und sein prophetisches Wort hier im alten Testamente kommt überein mit seinem Erfüllungswort im neuen Testamente: Das Heil kommt von den Juden. In seinem Kommen als Menschensohn bekundete sich auch am glänzendsten die Wiedererwählung Jerusalems; denn der Sohn des Vaters lockte in den Tagen seines Fleisches die Kinder Jerusalems, wie eine Henne ihre Küchlein1) sammelt unter ihre Flügel. Freilich erfolgte auf diese glänzendste göttliche Wiedererwählung Jerusalems vom Tage von Golgatha an unmittelbar die furchtbarste göttliche Verwerfung Jerusalems darum, weil Jerusalem den verwarf und den Heiden zur Kreuzigung überantwortete, in welchem ihm die Fülle der Gottheit leibhaftig erschien, wie denn der, den sie verwarfen, selber klagte: Und ihr habt nicht gewollt.

Vers 13, „Alles Fleisch sei stille vor dem Herrn; denn er hat sich aufgemacht aus seiner heiligen Stätte.“ Ein feierlicher und erhabener Schluss des dritten Gesichtes Sacharias. Der majestätische Gott und Herr Israels, während der babylonischen Gefangenschaft seines Volkes nach menschlichem Bilde ein Ruhender, wird sich nun erheben und desto kräftiger sein Erbe sichern und verteidigen. Er hatte sich während jener Zeit gleichsam zurück gezogen in seine heilige Stätte im Himmel, in die Wohnung seiner Heiligkeit, davon 5. Mos. 26,15 spricht, und hatte - gleichsam und scheinbar nur! - die Dinge ihrem natürlichen bösen Lauf überlassen; jetzt aber tritt er hervor, um seine Herrlichkeit desto mächtiger zu offenbaren, um die Völker zu richten und über Zion sich zu erbarmen. Leise Anfänge dieses seines Sichaufmachens aus seiner heiligen Stätte waren es ja nur, die Sacharja und seine Zeitgenossen zu schauen gewürdigt wurden: die neue Sammlung und Mahnung des Volkes Israel, die Wiederherstellung der Mauern Jerusalems, die Gründung und Weihung des neuen Tempels. In Christo Jesu erst hat sich das Sichaufmachen Gottes in wahrhaft göttlicher Großartigkeit erfüllt, denn da ward das Wort, das Gott war, Fleisch und wohnte unter den Menschen, und die Menschen, die Augen des Glaubens hatten, sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Und dieses Sichaufmachen Gottes währt nun fort durch alle Zeiten des neuen Bundes, bis am jüngsten Tage Gott von Neuem sich aufmachen wird zum letzten Gericht. Allem Fleische aber geziemt es den Worten und Wundern des gewaltigen Gottes gegenüber stille zu sein, sich zu besinnen und der schwerwiegenden Bedeutung der Worte und Taten des sich offenbarenden Gottes ehrfürchtig nachzudenken, seine Gerichte über die Widerstrebenden, seine Gnaden über die Folgsamen sich zur Buße und zum Glauben dienen zu lassen. Zu derselben Stille Angesichts des sich aufmachenden Gottes fordert Habakuk 2,20 alles Fleisch auf, wenn er spricht: „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel (nämlich zu schauen; Er hat seinen Tempel geöffnet, um hervorzutreten zum Gerichte über die Heiden), vor ihm sei stille alle Welt!

Stille und immer stiller zu werden vor dem Gotte der Gnaden und Gerichte, ist Pflicht und Aufgabe jedes wahrhaftigen Israeliters, auch und zumal in unserer Zeit. Wirr und laut sind die Dinge, die in unsern Tagen sich draußen in der Welt begeben; möge das alte Prophetenwort eine Mahnung mehr für uns sein, die Dinge der äußeren Gegenwart geistlich zu richten, den Spuren des gnädigen und heiligen, des liebenden und zürnenden Gottes in ihnen nachzusehen und nachzugehen und trotz aller Stürme, die heutzutage durch Kirche, Staat, Gesellschaft und Familie brausen, doch mit dem frommen Sänger aus dem Grunde des inwendigen Gemütes heraus zu beten: „Man lobt Dich in der Stille, Du hocherhabner Zionsgott; des Rühmens ist die Fülle vor Dir, Du starker Zebaoth. Du bist doch, Herr, auf Erden der Frommen Zuversicht; in Trübsal und Beschwerden lässt Du die Deinen nicht. Drum soll Dich stündlich ehren mein Mund vor Jedermann und Deinen Ruhm vermehren, so lang' er lallen kann.“ Amen.

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Küken
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