Quandt, Emil - Der Brief St. Pauli an die Philipper - V. Christus ist mein Leben.
Am Sonntage vor dem Totenfest.
Kap. 1, 21.
Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.
Amen.
Unter den vielen ergreifenden persönlichen Glaubensbekenntnissen, die wir im Neuen Testament von dem Apostel Paulus besitzen, ist das verlesene das kleinste und doch zugleich das größte. Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn, dieses kurze Doppelwort ist wie ein heller Blitz, der uns das innerste Gemüts- und Glaubensleben Pauli aufdeckt als das Leben eines Mannes, dem das höchste zuteil geworden ist, was ein sterblicher Mensch auf Erden erreichen kann. Mein Bruder, meine Schwester, gebenedeit bist du unter den Menschenkindern, wenn du das auch sagen kannst: Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn.
Als Paulus dies Wort seinen geliebten christlichen Freunden in Philippi brieflich sagte, befand er für seine Person sich, so zu sagen, zwischen Leben und Sterben. Die römische Staatsbehörde hatte den kühnen, freimütigen Botschafter Jesu Christi gefangen und gebunden; aber noch hatte das kaiserliche Gericht, das seinen Prozess verhandelte, das letzte Wort zu sprechen; ob es auf Freisprechung, ob es auf Todesstrafe lauten würde, war noch vollständig unentschieden. Der Apostel sieht dem einen wie dem andern Falle mit gleichmäßiger Seelenruhe ins Auge. Wird er freigesprochen und soll er noch länger unter dieser Sonne leben, es soll ihm recht sein, denn Christus ist sein Leben. Wird er verurteilt, und soll er sterben, es soll ihm auch recht sein, denn Sterben ist sein Gewinn. Mein Bruder, meine Schwester, gebenedeit bist du unter den Menschenkindern, wenn du für diese große erhabene Stellung des Apostels zum Leben und zum Sterben ein Verständnis hast und den guten Willen, ebenso zu stehen, beides, Leben und Sterben, dankend aus Gottes Hand hinzunehmen in dem seligen Bewusstsein: Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn.
Auswendig kennen wir diesen paulinischen Satz alle seit mehr oder minder langen Jahren. Wir haben ihn einst schon in der Schule oder doch sicherlich im Konfirmandenunterricht gelernt. Wir sind in unserer Bibel, in unserem Losungsbüchlein wiederholt auf diesen Spruch gestoßen. Wir haben ihn in mancher Predigt gehört und auch öfters in dem Gesange der Gräfin Stolberg: Christus der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn; ihm hab' ich mich ergeben, mit Freud' fahr' ich dahin. Wir haben den Spruch an manchem Kirchhofskreuz gelesen und ihn selbst vielleicht auf das Kreuz am Grabe dieses und jenes unsrer Lieben schreiben lassen. Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn, auswendig wissen wir das alle.
Inwendig dieses Wortes mächtig zu werden, soll unser Ziel sein wie heute, so heute über acht Tage. Heute über acht Tage, am Totenfest, wollen wir uns in den Satz versenken: Sterben ist mein Gewinn; heute wollen wir zur Vorbereitung auf das Totenfest den Satz betrachten: Christus ist mein Leben.
das heißt
Christus ist mein Leben
1. Christus ist die Freude meines Lebens,
2. er ist der Inhalt meines Lebens,
3. er ist die Kraft meines Lebens.
Neige dich zu uns, himmlischer Herr, wie der Gärtner sich zu seinen Blumen neigt. Was wir für dich, Herr Jesu, fühlen, ist unaussprechlich. Wenn wir dennoch von dir sprechen und Gesprochenes hören und bedenken, so willst du es, und du wirst es auch segnen. Amen.
1.
Wenn die Menschen dies oder das im Leben als ihr Leben preisen, so wollen sie im allgemeinen damit sagen, dass ihnen dies oder das das Schönste im Leben sei, das, was ihnen die größte Freude im Leben gewähre und das vollste Genüge. In diesem Sinne sagt der Mammonsdiener: das Geld ist mein Leben; er kennt nichts höheres und besseres in der Welt, als das Geld. So nennen die Leichtsinnigen Spiel und Tanz und Reigen ihr Leben; ihnen ist
nur wohl, wenn sie alle Tage herrlich und in Freuden leben. Verständigere und edlere Menschen rühmen die Familie als ihr Leben oder die Arbeit oder die Wissenschaft oder die Kunst; und dies alles sind ja ohne Frage Dinge, die zur Köstlichkeit des Lebens viel beitragen. Aber Paulus und jeder rechte Christ mit ihm sucht und sieht die höchste Wonne des Lebens in Jesu Christo, unserm Herrn, und denkt und spricht: Wenn ich ihn nur habe, wenn er mein nur ist, wenn mein Herz bis hin zum Grabe seine Treue nicht vergisst, weiß ich nichts von Leide, fühle nichts als Andacht, Lieb' und Freude.
Christus ist mein Leben. Beachten wir wohl, meine Lieben, dass der Apostel nicht die Lehre Christi, sondern die Person Christi, sein Leben, seines Lebens höchste Freude nennt. Wenn einer warm für die Lehre Christi eingetreten ist, dann war es Paulus; er hat dieser Lehre Bahn gebrochen unter Juden und Heiden, in Asien und Europa und hat für dieselbe mit den Waffen geistlicher Ritterschaft gekämpft bis in den Tod. Aber was ihn im tiefsten Herzen glücklich machte, war nicht das Christentum, sondern Christus, nicht die Sache, sondern die Person. Der persönliche Christus war es, der, als sein Magnet ihn täglich mit Wunderkräften zog; es war ein Verhältnis von Person zu Person, auf welchem des Apostels Lust und Freude beruhte. Ein solches beseligendes persönliches Verhältnis eines Christen zu Christo wäre nun freilich die reine Träumerei und Torheit, wenn gewisse Gedanken, die heutzutage auf dem Markt des Lebens sich breit machen, wirklich ernst zu nehmende Gedanken wären, dass nämlich Christus zwar ein sehr lieber guter Mensch und weiser Lehrer gewesen wäre, aber eben nichts weiter, nicht der Sohn des lebendigen Gottes, nicht der Mittler zwischen Gott und Menschheit, nicht das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, nicht der Hohepriester und Fürsprecher im Allerheiligsten des Himmels, nicht der Richter der Lebendigen und der Toten. Kommt auch aus dem Tode das Leben? Kann an der Brust eines vor Jahrhunderten begrabenen Menschen das Herz eines Lebendigen erwärmen? Nein, geht mir doch mit diesen modernen nachträglichen Totengräbern Jesu Christi; sie sind nicht die Propheten, die unsrer Zeit, die unserm Volke aufhelfen, sondern unklare Verwirrer des christlichen Volksgewissens. Christus kann nur mein Leben sein, wenn er lebt; und Gott sei Dank, dass er lebt. Was wir überhaupt von Christo wissen, wissen wir aus dem Neuen Testament und wo predigt denn jemals das Neue Testament einen toten Christus? es predigt mit Posaunenstimmen den auferstandenen, den lebendigen Christus, der im Himmel ist, wo ihn die Engel umjauchzen, und der auf Erden ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, und der bei uns ist alle Tage bis an der Welt Ende. Dieser lebendige Christus, der sich ihm am Tage von Damaskus vom Himmel her offenbart hatte, war es, an dem die Seele Pauli mit Wonne hing, der ihm das A und das O, der ihm Ein und Alles war. Dieser lebendige, sich täglich unserm Herzen lebendig erzeigende Christus ist es, an dem auch unsere Seele mit Wonne hängt; in ihm haben wir tägliche Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit: in ihm haben wir den Himmel auf Erden, soweit ein Himmel auf Erden möglich ist.
Wir sind dem Herrn vielleicht lange aus dem Wege gegangen, wie Paulus. Wir haben unsern Tag von Damaskus vielleicht später gehabt, als Paulus. Vielleicht ist uns der Vers aus der Seele gesungen: Ach, dass ich dich so spät erkannte, du hochgeliebte Liebe du, dass ich nicht eher mein dich nannte, du meiner Seele Freud und Ruh'. Vielleicht sind, namentlich unter den lieben Schwestern und Töchtern, den Frauen und Jungfrauen, manche hier, die eine Bekehrung nach der Weise Pauli nicht kennen, weil sie schon vom frommen Vaterhause her bekehrte Seelen waren. Aber darin sind wir alle eins: Der lebendige Christus ist nicht nur unser bester Freund im Himmel, sondern auch unser bester Freund auf Erden. Er geht uns voran auf der Lebensbahn. Sein Nahesein bringt süßen Frieden ins Herz hinein. Es ist uns wohl beim Freund der Seelen, wenn wir an seiner Seite ruh'n. Ich schlief vor vielen Jahren einmal in einer Kammer mit dem gottbegnadeten Dichter des Liedes: Lasst mich geh'n, lasst mich geh'n, dass ich Jesum möge seh'n. In der Nacht erwachte ich durch den Ausruf des gottinnigen Mannes, den er im Traume tat: O mein süßer Herr Jesus! So eng war der liebe Mann mit seinem Heiland verbunden. Wir streben danach, uns immer enger mit dem Heiland zu verbinden. Aber in aller Schwachheit, da wir ihn immer noch nicht so lieben, wie wir ihn lieben sollten, können wir doch schon heute rühmen: Christus ist mein Leben, meines Lebens Liebe, meines Lebens höchste Wonne und Freude.
2.
Christus ist mein Leben, so hat Dr. Luther den Satz trefflich verdolmetscht. Soll der Satz ganz buchstäblich im Deutschen wieder gegeben werden, so muss er lauten; Mir ist das Leben Christus. Und so, buchstäblich genommen, ergibt sich ja von selbst der Sinn: Mein ganzes Leben geht auf in Christus. Ich lebe mein Leben, und ich lebe Christum, das ist für mich dasselbe. Christus ist nicht nur meines Lebens Freude, sondern auch meines Lebens Inhalt.
Der Apostel hat diesem Gedanken öfters Ausdruck gegeben, am lebhaftesten Galat. 2, da er sagt: „Ich lebe, aber doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir; denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben.“ Mit diesem Spruch hat der Apostel ein Christentum zweiter Hand, so zu sagen ein sächliches Christentum, weit von sich abgewiesen, und das persönliche Christentum von sich ausgesagt, das in dem Glauben an die persönliche Liebe Christi wurzelt und in der persönlichen Hingabe an Christum besteht, so dass das Leben einer christlichen Persönlichkeit herauskommt, in der Christus lebt und wächst und das eigne Ich stirbt. Alles was uns von dem Leben des Apostels bekannt ist, passt zu diesem Bekenntnis, wie die Melodie zum Text. Wenn er mit dem Evangelium in der Hand von Land zu Land zog, was trieb ihn, was drängte ihn? die Liebe Christi. Wenn er predigte: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ - welche Stimme sprach aus ihm? die Stimme Christi. Wenn er klagte: O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht? was ist diese Klage anders als ein Wiederklang der Klage Jesu Christi: Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!? Paulus lebte Christum; ihn hat er im Staube geehrt, in seinem Dienste hat er sich verzehrt. Nachdem ihm die Erbarmung in Jesu Christo widerfahren war, lebte, lehrte, litt er und starb er im Dienste des gottmenschlichen Erbarmens. Gott war in Christo und Christus in ihm; Pauli Leben ein Leben in Christo und für Christum. Christus ist mein Leben, das heißt im Munde Pauli ganz vornehmlich: Christus ist der Inhalt meines Lebens.
Was bei dem Apostel eine Aussage ist, für uns ist es eine Mahnung. Denn wir sind uns wohl bewusst, dass bei aller Liebe zum Erlöser uns doch noch manches, manches fehlt zum ungeschminkten, ungeheuchelten Bekenntnis: Christus ist der Inhalt meines Lebens. Wenn ich hin und wieder einsam auf den Wittenberger Landwegen wandere, dann frage ich mich wohl, ob für die Entwicklung selbständiger christlicher Persönlichkeiten, die Christum nicht nur bekennen oder im Talare predigen, sondern die Christum leben in Gedanken, Worten und Werken, das antike Leben, das Paulus lebte, günstiger war, oder das moderne Leben, das wir leben. Ich bin mir nicht klar über die richtige Antwort. Aber das weiß ich wohl, dass Christus, der unsre Sonne ist, viel zu wenig aus unserm Leben Sonnenstrahlen wirft, und dass die Leute mit einem gewissen Schein des Rechtes sagen können: das Christentum hat keine Anziehungskraft für uns; es gibt da zwar wunderschöne Worte, die einem das Herz aufblättern können, aber die diese Worte predigen, leben doch eigentlich nicht anders, als wir Kinder der Welt. Meine Freunde, das moderne Leben drängt zur Entscheidung. Der Standpunkt, da man die Sozialdemokraten in die Hölle verdammt und gegen die Katholiken heftig schilt und dabei weder die Bibel liest, noch die evangelische Kirche besucht, wenn es die Verhältnisse nicht absolut verlangen, weder morgens frägt: „Lieber Herr, was willst du, dass ich tun soll?“, noch abends dankt für Gottes Güte in Christo, noch lebt nach Christi Gebot und Willen; dieser Standpunkt ist faul von der Wurzel bis zur Krone; und wenn dies faule Christentum die letzte Frucht der weltgeschichtlichen Wittenberger Bewegung wäre, dann wäre sie lächerlich und schrecklich zugleich; und die religiöse Zukunft Europas würde auf den Trümmern der Reformation nur noch den Kampf zwischen Aberglauben und Unglauben zu erleben haben. Noch besteht der protestantische Glaube; ich denke, wir selber hier huldigen alle dem Evangelium, der evangelischen Kirche, dem evangelischen Glauben. So wollen wir im Bewusstsein unsrer Mangelhaftigkeit in gefährlichen Zeiten beten: Herr, hilf unserm Unglauben! Herr, hilf, dass wir als die von dir Erlösten dir zum Ruhme leben; du bist die Freude unsers Lebens; hilf, dass du auch der Inhalt des Lebens seist. Mit dir alles tun und alles lassen, in dir leben und in dir erblassen, das sei bis zur letzten Stund' unser Wandel, unser Bund.
3.
Christus ist mein Leben - noch einmal, wenn auch ganz kurz, lasst uns auf dies Wort zurückkommen. Es bedeutet offenbar auch: Christus ist die Kraft meines Lebens.
Schon damit Jesus Christus unsers Lebens Freude und Wonne sei, bedürfen wir seiner Kraft. Kein Mensch würde die Sonne preisen, wenn sie ihm nicht leuchtete, nicht ihn wärmte. Kein Mensch könnte fragen und sagen: „An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd', was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert“, wenn Christus dem Menschen nichts gäbe, wenn er ihm nicht die Kraft gäbe, in seinem Licht das Licht zu sehen, in seinem Feuer warm zu sein. Und wer könnte Christum im Leben ausatmen, wiederspiegeln, lebendig darstellen, wenn Christus selber ihm nicht die Macht und Kraft dazu gewährte? Aber das tut der Herr eben; und das weiß der Apostel, er hat es erfahren und erfährt es täglich; wenn er sagt: Christus ist mein Leben, so meint er damit auch: Christus ist meines Lebens Kraft. Er sagt das in einem anderen Verse der Epistel, aus der unser Textvers entnommen ist, so deutlich, wie man es nur wünschen kann: Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.
Christus macht uns mächtig, meine Freunde; Christus ist die Kraft unseres Lebens. Wir wären ja gar keine rechten Wittenberger, wenn wir nicht an den Wittenberger Vers gedächten: Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren; es streit' für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du wer er ist? er heißet Jesus Christ. Aus seiner Fülle nehmen wir Gnade um Gnade. In aller unsrer Schwachheit genügt uns seine Gnade. Seine Kraft ist in uns Schwachen mächtig.
Er ist unsers Lebens Freude, Inhalt und Kraft. Wir fühlen es, mir bekennen es, wir wollen es immer mehr ins Leben tragen und übertragen. Er helfe uns und er wird uns helfen. Amen.