Quandt, Emil - Der Brief St. Pauli an die Philipper - XI. Die Demut das rechte Weihnachtskleid.
Am zweiten Weihnachtstag.
Kap. 2,5-7.
Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war; welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich sein; sondern äußerte sich selbst, und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch, und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Amen.
Das ist dieselbe Bibelstelle, die wir gestern in festlicher Betrachtung erwogen. Gestern hielten wir uns, um der Bedeutung des ersten Christtages gerecht zu werden, ausschließlich an die Tatsachen, die Paulus an dieser Stelle predigte, und die ja gerade zu Weihnachten gefeiert werden, nämlich, dass der Heilige Christ, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm. Gottes Kind in göttlicher und in menschlicher Gestalt, das war gestern der Mittelpunkt unserer weihnachtlichen Andacht. Aber wir berührten schon gestern, dass unser Text noch nach einer anderen Seite hin hohe weihnachtliche Anregung gewährt; nach dem Zusammenhang, in welchem der Text in der Epistel an die Philipper steht, redet der Apostel von der Menschwerdung des Sohnes Gottes als einem vorbildlichen Zeichen seiner Demut. Zur Demut hat der Apostel eben ermahnt, und wenn er dann unmittelbar weiter sagt: „Ein jeglicher sei gesinnt wie Jesus Christus auch war,“ so will er offenbar sagen: Christen, seid demütig, denn der Heilige Christ ist demütig. Das ist ein köstlicher Gegenstand für die Betrachtung am zweiten Christtag.
Die Demut ist das rechte Weihnachtskleid,
das erwägen wir heute nach unserem Texte,
1. im Blick auf den Erlöser,
2. im Blick auf die Erlösten.
Herr, vor dir nichts gilt, als dein eigen Bild. Amen.
1.
Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus gesinnt war, welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm und wurde wie ein anderer Mensch. Mit diesen Worten stellt uns der Apostel in erster Linie die Aufgabe, nachzusinnen über die Gesinnung unseres Heilandes, die ihn bewog und trieb, seinen Himmel zu verlassen und auf die Erde zu kommen, sich seiner göttlichen Gestalt zu entäußern und die Knechtsgestalt, die menschliche Gestalt, anzunehmen.
Wir kennen und lieben alle den Paul Gerhardtschen Adventsvers: „Nichts, nichts hat dich getrieben zu mir vom Himmelszelt, als das geliebte Lieben, damit du alle Welt in ihren tausend Klagen und großen Jammers Last, die kein Mund aus kann sagen, so fest umfangen hast.“ Paul Gerhardt soll ja sicherlich Recht behalten mit seinem Lobpreis des geliebten Liebens. Wenn die Gottheit, die über den Sternen thront, nicht die Liebe wäre, so hätte es niemals eine Erlösung geben können und gegeben für die nach Gottes Ebenbild geschaffene Menschheit, die das edle Gut der Freiheit gegen Gott missbraucht hatte und dadurch sündenvoll und leidevoll und todesvoll geworden war. Nach seiner Heiligkeit konnte Gott sich nur von uns Sündern abwenden, nach seiner Gerechtigkeit nur uns strafen. Von dem dreimalheiligen Gott heißt es: „Wer böse ist, der bleibt nicht von ihm“, und von dem gerechten Gott heißt es: „Gott droht zu strafen alle, die seine Gebote übertreten.“ Unsere Erlösung beruht vor allem auf der barmherzigen Liebe Gottes. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Wie hat er die Leute so lieb! Also hat der Sohn Gottes die Welt mit geliebtem Lieben umfasst, dass er sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, damit er uns errettete von dieser gegenwärtigen argen Welt nach dem Willen Gottes und unsers Vaters. Ihm sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Aber über dieser Liebe, die den Himmel zerriss und auf die Erde kam, um uns selig zu machen von unseren Sünden, dürfen wir die Demut nicht vergessen, die mit der göttlichen Liebe unseres Erlösers auf das allerengste verschwistert ist. Auf die demütige Gesinnung des Sohnes Gottes, die sich in seiner Menschwerdung bekundet, weist der Apostel mit Fingern hin durch seine Mahnung: „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war“, da er sie unmittelbar mit der vorangehenden Mahnung verbindet: „Durch Demut achtet euch untereinander einer den andern höher als sich selbst; und ein jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, das des Andern ist.“ In der Tat, die Menschwerdung des Sohnes Gottes ist nicht nur der Ausfluss einer Liebe ohnegleichen, sondern auch der Ausfluss einer Demut ohnegleichen. Indem der liebende Heiland der göttlichen Gestalt sich entleerte und die menschliche Gestalt annahm, indem er den Anspruch auf die Majestät Gottes über seine Kreaturen daran gab, um den Menschen zu dienen als einer ihresgleichen, indem er sich nicht schämte zur Ausführung seines Liebesdienstes an Stelle der Gestalt des ewigen Herrn in unserm Fleisch und Blut zu erscheinen, ist er das leuchtende Urbild der Demut, die gering wird, um den Geringen zu helfen, die sich selbst erniedrigt, um die Niedrigen aus dem Staube aufzuheben. Ein merkwürdiger Gegensatz springt dabei in die Augen. Dadurch, dass sie sich von der alten Schlange zum Hochmut verführen ließen, dass sie sein wollten wie Gott, sind Adam und Eva gottlos und friedelos geworden und ist ihre Gottlosigkeit und Friedlosigkeit zu allen Menschen hindurchgedrungen. Dadurch, dass der Sohn Gottes von seiner wunderbaren Demut sich treiben ließ, zu werden wie ein Mensch und als Mensch der Menschheit zu dienen, ist die Versöhnung der Sünder mit Gott gekommen und Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen. Christi himmlische Demut hat wieder gut gemacht, was Adams irdischer Hochmut schlecht gemacht hatte. Durch Eines Sünde fiel die Welt, durch den Hochmut; Ein Mittler ist's, der sie erhält, durch seine Demut. blickt im Geiste hin auf seine Krippe! Das Kind, das in der Krippe liegt, hat alle andern Herrlichkeiten im Himmel gelassen, aber das herrliche Kleid der Demut hat es aus der Ewigkeit mitgebracht in die Zeit, und unter den armseligen Windeln, in die man es gehüllt hat, trägt es das himmlische Weihnachtskleid der Demut.
Und dieses Weihnachtskleid hat er immer getragen, auch noch unter dem ungenähten Rock, den sie ihm auszogen auf Golgatha. Wo er ging und stand, war er allewege der, der von sich sagen konnte: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“ Er hat niemals seine eigene Ehre gesucht, auch dann nicht, wenn er strafen und Wehe rufen musste; sondern, dass nur der Vater geehrt, und den Menschen geholfen werde, danach stand allezeit sein Sinn. Obwohl er sagen konnte: „Ich und der Vater sind eins; Philippe, wer mich sieht, der sieht den Vater,“ hat er es doch während seines ganzen Erdenlebens nie für ein Raub gehalten, Gott gleich zu sein, sondern frei und öffentlich bekannt: „Der Vater ist größer als ich; der Vater hat dem Sohne die Macht gegeben; vom Tage und von der Stunde des Weltgerichts weiß niemand, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater; was ich rede, das rede ich also, wie mir der Vater gesagt hat.“ Zum Vater betete er, dem Vater dankte er, zum Vater sah er auf in Freud' und Leid, den Vater verherrlichte er auf Erden, in des Vaters Hände befahl er sterbend seinen Geist. Es hat dem großen Gott und Vater gegenüber auf Erden nie ein demütigeres Menschenkind gegeben, als dies Gotteskind, das an Stelle der göttlichen Gestalt die Knechtsgestalt angenommen hatte. Nicht minder auch den Menschen gegenüber. Er drängte sich niemals in die Paläste der Könige, sondern suchte die Hütten der Armen auf. Es war ihm nichts zu schlecht, ihm waren alle recht; er aß mit den Zöllnern und Sündern, die alle Welt verachtete, so dass es zum Sprichwort ward im Lande: Jesus nimmt die Sünder an. Er ließ die Kindlein zu sich kommen und segnete sie; er neigte sich vergebend zur weinenden Magdalene. Er wählte sein Gefolge aus Fischern und ähnlichen geringen Leuten; und war unter ihnen, obwohl ihr Meister und Herr, wie der geringste Diener, der den Andern die Füße wäscht. Nehmen wir hinzu, dass er nicht wieder schalt, wenn er gescholten ward und nicht drohte, da er litt, sondern es alles seinem Gott und Vater anheimstellte, und dass er noch im Sterben für seine Feinde betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun,“ so müssen sich unsere Hände von selber falten, dass wir anbeten und sprechen: Herr, unser Heiland, wie herrlich bist du in deiner Niedrigkeit. Weil du klein geworden bist, bist du so groß; weil du das Kleid der Demut trägst, bist du der schönste unter den Menschenkindern. Jesu, Jesu, hilf mir dazu, dass ich demütig sei, wie du! Mit dieser Bitte machen wir den Übergang zu unserem anderen Teil.
2.
Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war, so mahnt der Apostel. Dass das Weihnachtskleid der Demut auch unser eigenes Weihnachtskleid werde, dass wir von dem demütigen Heiland lernen und als demütige Leute durch das Leben wandern, das ist der letzte Sinn und das letzte Ziel unserer Textstelle. Aus keinem anderen Grunde erinnert der Apostel seine geliebten Philipper an das prunklose Kommen des Sohnes Gottes ins Fleisch, an seine Entäußerung und Knechtsgestalt, als weil er sie ermuntern will, selber der Demut nachzujagen und jede Streit- und Ehrsucht aufzugeben. So soll auch uns die doppelte Betrachtung unseres Textes den praktischen Gewinn bringen, dass wir allen Hochmut ausziehen und das Weihnachtskleid der Demut anziehen und in diesem Kleide vom alten Jahr ins neue ziehen.
Die Philipper, denen Text und Epistel vor allen zuerst galten, waren ja in keiner Weise hochmütige Weltleute, von denen immer einer dem andern den Rang ablaufen will, bei denen allen der Kampf ums Dasein eng verbunden ist mit dem Kampf um die Ehre. Nein, die Philipper hatten sich von dem törichten Wandel nach der Welt Weise gründlich zu dem Hirten und Herzog ihrer Seelen Jesus Christus bekehrt; sie gehörten sogar zu den vorzüglichsten Christen, zur christlichen Elite des apostolischen Jahrhunderts, also, dass Paulus Gott dankt über ihre Gemeinschaft am Evangelio und sie seine Freude und seine Krone nennt. Dennoch hält Paulus es für höchst nötig, sie zur Demut zu mahnen und ihnen zuzurufen: „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.“ Um wie viel nötiger wird dieser Zuruf für uns moderne Wittenberger Christen sein, die wir, was Glauben und Christentum anbetrifft, uns mit jenen bekehrten Philippern gar nicht messen können, die wir zwar gewiss auch alle gute Christen sein und selig werden wollen, aber doch nicht so entschieden mit der Welt gebrochen haben, wie jene alten Philipper! Bei uns ist ja die trübe Mischung von Weltsinn und Glaubenssinn vielfach so groß, dass Weltleute und Christenleute kaum voneinander zu unterscheiden sind; und auch ganz entschiedene Christen sind oft von dem Ehrgeiz und der Empfindlichkeit und der Hoffart der Welt bedenklich angekränkelt. Und wie steht's mit dir selbst, mein Freund; wie mit dir, meine Freundin; ach wie steht es mit mir? Trägst du, trage ich, das Weihnachtskleid der Demut? Ach, wir haben alle allen Grund, uns zur Demut mahnen zu lassen nach dem Vorbild des heiligen Christ!
Voran zur Demut vor unserm Gott und Herrn. Man sollte ja meinen, vor Ihm, der Himmel und Erde gemacht hat, sich in Demut zu beugen, müsste für uns alle leicht und selbstverständlich sein, die wir Erde und Asche sind. Und doch gibt's der Leute im deutschen Christenlande genug, die es nicht einmal fertig bekommen, ihre Knie vor dem Allmächtigen zu beugen, geschweige ihre Herzen; die es nicht fertig bekommen, den Feiertag zu heiligen und in das Haus Gottes zu kommen, geschweige zum Herzen Gottes. Und andererseits, wie viele von denen, die ihre Knie beugen vor Gott und Sonntags in die Kirche gehen, betreiben doch ihre irdischen Dinge ohne Aufblick zu Gott und beklagen sich im Unglück über den lieben Gott, dass er sie verlasse und versäume. Wahrhaftig, das ist nicht der Sinn Jesu Christi, sondern das Gegenteil davon. so lasst uns an diesem Weihnachten einen neuen Anfang der Demütigung vor dem großen Gott machen; und Gott selber, der uns das Wollen heute gibt, wird auch das Vollbringen geben. Jesus geht voran auf der Lebensbahn, und wir wollen ihm nachfolgen in der Beugung unserer Herzen, Sinne und Gedanken vor dem, der uns gemacht hat und unseren Odem erhält und einst, wer weiß wie bald, zu uns sprechen wird: Bis hierher und nicht weiter. Heute machen wir ein Bündnis, in der Nachfolge Jesu allezeit Gott vor Augen und im Herzen haben zu wollen und nur zu tun, was er will, zu leben, wie er will, zu leiden, wenn er will. Unsere Losung beim Übergang ins neue Jahr soll sein: Was Gott gebeut, das muss geschehn; das andre wird er selbst versehn.
Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus war, der nicht nur gegen Gott im Himmel, sondern auch gegen die Menschen auf Erden voll der demütigsten Gesinnung war, wie er durch seine Menschwerdung und durch sein ganzes Menschenleben gezeigt und bewiesen hat. Diese Mahnung, nach dem Vorbilde des heiligen Christ demütig zu sein gegen die Menschen, ist ganz besonders die, die Paulus einprägen will, da er kurz vorher gesagt hat: „Durch Demut achtet euch unter einander, einer den andern höher als sich selbst.“ Und diese Mahnung zum demütigen Verkehr mit den Menschen, unseren Brüdern, ist uns allen nötiger als nötig. Der Herr des ewigen Lebens stieg von seinem himmlischen Throne hernieder und stieg hinein in das Elend der Menschen, um ihnen zu helfen. Aber viele Herren und Frauen unserer Tage bleiben stolz und kalt auf ihren Stühlen und Polstern sitzen, ohne sich um das Elend der Armen und Notleidenden zu bekümmern; der ganze Jammer der Menschheit rauscht an ihrem Ohre vorüber, wie der Wellenschlag eines fernen Meeres. So soll's nicht sein, so darf's nicht bleiben; das wäre ja das gerade Widerspiel der Gesinnung Christi. Wir sollen und wir wollen, so große Leute wir auch in unseren eigenen und anderer Augen sein mögen, die kleinen Leute nicht verachten; wir sollen und wir wollen uns herunterhalten zu den Niedrigen in Leutseligkeit und Hilfsbereitschaft. Demütig war der Knabe und Jüngling von Bethlehem seinen Eltern untertan und wie viele Knaben und Jünglinge unserer Zeit, die nach dem Namen Christi den Christennamen tragen, machen diesem Namen Schande durch Ungehorsam und unehrerbietiges Benehmen gegen die Eltern; wie viele junge Dienstboten versündigen sich gegen ihre Herrschaften durch Anmaßung und Trotz. O sind hier Söhne und Töchter, so bereut eure Schuld und macht euren Eltern ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk, das ihnen das allerliebste sein wird, mit dem ehrlichen Gelübde des Gehorsams und der liebenden Hingabe. Und sind hier dienende Mädchen und dienende junge Menschen, o, statt darüber zu reden, welche Herrschaft das meiste Geld zu Weihnachten gibt, redet lieber darüber, wie ihr euren Herrschaften von Weihnachten an am besten dienen könnt. Demut ist der Mut zu dienen, treu und immer treuer zu dienen; erbittet euch diesen Mut von eurem himmlischen Vater als nachträgliche Weihnachtsgabe; wahrlich, er wird sie euch gern schenken, und sie wird für euch das schönste Weihnachtsgeschenk sein. Ich spinne diesen Faden nicht weiter; ich will nur noch sagen, auch für die Väter und Mütter, auch für die Herren und Frauen, für alle Stände und Berufsklassen, für die Studierten und die Unstudierten ist das Weihnachtskleid der Demut das allerschönste Kleid. Gott vom Himmel schenk' es uns! Unter alles mich zu fügen, mich der Stille still zu freu'n, ohne Worte, mit Vergnügen aller Knechte Knecht zu sein, nie mit Gaben stolz zu prangen, Menschenruhm nicht zu verlangen, diese Weisheit fleh' ich mir, hocherhabner Gott von dir.
Wir sind am Ende unserer Betrachtungen über das Kind Gottes in göttlicher und menschlicher Gestalt und über die Demut als das rechte Weihnachtskleid Christi und der Christen. Wir schließen mit dem Anfang unseres herrlichen Textes: „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus.“ Amen.