Quandt, Emil - Der Brief St. Pauli an die Philipper - X. Das Kind Gottes in zweierlei Gestalt.
Am ersten Weihnachtstag.
Kap. 2,5-7.
Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war, welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich sein; sondern äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Amen.
Weihnachten! Welch eine unendliche Fülle von Gedanken und Erinnerungen fasst dies eine Wort: „Weihnachten“ in sich! Erinnerungen und Gedanken an die schöne Zeit, von der man sagt und singt: O selig, o selig, ein Kind noch zu sein, an die schöne Zeit, da wir noch frisch und fröhlich und unbekannt mit den grauen Sorgen und schweren Rätseln des Lebens uns als träumende Kinder am Glanz des Christbaumes und an den kleinen Herrlichkeiten der Christbescherung erfreuten. Gedanken und Erinnerungen an die Zeit des ersten Nachdenkens und Zweifelns, an die Zeit, da wir keine Kinder mehr waren und den kindlichen Glauben nicht mehr hatten und doch den andern die Weihnachtsfreude nicht verderben mochten und unser Angesicht salbten vor den Leuten, aber hinterher im geschlossenen Kämmerlein trauerten, weil uns mit der Idylle der Kinderzeit auch der naive Weihnachtsglaube an den heiligen Christ entschwunden war. Erinnerungen und Gedanken an die wunderbare Zeit, in welcher uns, nach der langen Reise durch Irrtum zur Wahrheit, Erbarmung widerfuhr, Erbarmung, deren wir nicht wert, dass wir mit herzlicher Freude unseren eigenen Kindern den Weihnachtsbaum schmückten und im Glanz desselben mit ihnen fröhlich waren, als wären wir selbst noch Kinder. Weihnachten, ein Fest, geisterhaft umwebt von allerlei Gedanken und Erinnerungen, freudvollen und leidvollen und wieder freudvollen.
Für das deutsche, evangelische Einzelleben hat kaum ein anderer Tag im Jahre eine so gewaltige Bedeutung des Gedenkens und Erinnerns, als der Weihnachtstag.
Und doch geht darin die Bedeutung einer evangelischen Weihnachtsfeier auch nicht von ferne auf. Die wahre und eigentliche Bedeutung der Weihnachtsfeier ist weit erhaben über unsere persönlichen Lebenserinnerungen; die Weihnachtsfeier bedeutet vielmehr ihrem Kern und Wesen nach die höchste und größte Erinnerung der Menschheit und der Weltgeschichte, die Erinnerung an die menschliche Geburt des Sohnes Gottes von der Jungfrau Maria. Des Sohnes Gottes! du Menschenkind, was sind deine kleinen Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen gegen die Erinnerung der Menschheit an die Geburt Jesu Christi, von dem die ganze evangelische, ja die ganze christliche Kirche und jede christliche Seele mit Dr. Luthers Worten bekennt: „Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr.“ Die Erinnerung an Ihn, an das Kind Gottes, das als Kind der Jungfrau in der Krippe liegt, soll heute und morgen den Mittelpunkt unserer festlichen Betrachtung bilden, heute und morgen auf Grund des verlesenen Textes aus der Epistel St. Pauli an die Philipper.
Dieser Text ist uns bekannt als Anfang der Palmsonntagsepistel, die mit der Verheißung schließt, dass am Ende der Tage alle Zungen bekennen werden, dass Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes des Vaters. Wenn wir den Anfang der Palmsonntagsepistel heute und morgen zur Weihnachtserbauung verwerten, so leitet uns die Erwägung, dass derselbe nach zwei Seiten hin weihnachtliches Gepräge trägt, nämlich einmal in der Betonung der zweierlei Gestalt des heiligen Christ und zum andern in dem starken Hinweis auf die vorbildliche Demut des Mensch werdenden Sohnes Gottes.
Wir betrachten heute zunächst auf Grund unseres Textes das Kind Gottes in zweierlei Gestalt,
1. in göttlicher,
2. in menschlicher Gestalt.
Führ uns, Kind, nach Bethlehem, dich, den Heiland zu besehn,
wem geläng' es, wem, ohne dich zu dir zu gehn? Amen.
1.
Ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an - so schreibt Paulus den Philippern von dem heiligen Christ, und wir schreiben uns diesen Spruch an die Krippe von Bethlehem zum Zeichen und Zeugnis, dass wir heute den Geburtstag eines Menschen feiern, der, ehe er Mensch ward in der Zeit, von Ewigkeit in göttlicher Gestalt und Gleichheit war. Was für Geburtstage wir auch sonst immer feiern mögen, unseren eigenen Geburtstag oder die Geburtstage derer, die uns anverwandt und zugetan sind, wie Kaisersgeburtstag oder die Geburtstage der Reformatoren und anderer großen Geister, wir haben es immer nur mit Geburtstagen von gewöhnlichen Menschen zu tun, die in die Zeit traten, ohne eine Ewigkeit hinter sich zu haben, die in Knechtsgestalt, in menschlicher Gestalt, über die Erde gingen und gehen, ohne zuvor in göttlicher Gestalt gelebt, geliebt, gewirkt zu haben. Nur dieser Eine Jesus, der Erlöser der Menschheit, dessen Geburtstag wir heute feiern, war und lebte, ehe er geboren wurde, er hatte als göttliche Persönlichkeit göttliche Gestalt, ehe er in menschlicher Gestalt erschien. Weihnachten ist das Geburtsfest dessen, der von Ewigkeit her Gottes Kind war in göttlicher Gestalt. Wäre es nicht so, dann hätten wir gar kein Weihnachten, dann hätten wir gar keinen Erlöser. Kann doch ein Bruder niemand erlösen, noch jemand versöhnen; denn es kostet zu viel, ihre Seele zu erlösen, dass er es muss lassen anstehen ewiglich, ob er auch gleich lange lebt und die Grube nicht sieht. Gott hat die fleckenlose Welt erschaffen und derselbe Gott hat die sündenvolle Welt erlöst in Jesu Christo, seinem ewigen eingeborenen Sohne. Der in Knechtsgestalt auf Erden erschien, uns zu erlösen, war kein bloßes Menschenkind, war Gottes Kind, das nur die Knechtsgestalt eintauschte für seine ewige göttliche Gestalt.
Wir haben für seine göttliche Gestalt vor der Knechtsgestalt sein eigenes Wort. Er sprach zu den feindseligen Juden mitten im heißen Kampfe des Lebens: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, ehe denn Abraham war, bin ich.“ Er sprach scheidend zu seinen geliebten Jüngern: „Ich bin vom Vater ausgegangen und gekommen in die Welt; wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater.“ Er betete zu seinem Vater: „Verkläre mich, du Vater, bei dir selbst, mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe denn die Welt war.“ Wir haben für seine göttliche Gestalt vor der Knechtsgestalt das vielstimmige und doch einstimmige Zeugnis der Apostel und Evangelisten. Wie Paulus in unserem Texte davon redet als von etwas ganz Selbstverständlichem, so rühmt er an anderer Stelle die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, dass, ob er wohl reich ist, er doch arm ward um unsertwillen, und preist jauchzend an anderer Stelle das kündlich große Geheimnis: Gott offenbart im Fleisch. In demselben Tone wird in der Epistel an die Hebräer Jesus Christus als der Sohn Gottes verherrlicht, durch den Gott die Welt gemacht hat, dass er der Glanz der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild seines Wesens gewesen sei von Ewigkeit her. Johannes aber, der Jünger, der an Jesu Brust lag, der Apostel mit dem Zeichen des Adlers, beginnt sein köstliches Evangelium mit dem Bekenntnis: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort, und dieses Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Wir haben für Jesu göttliche Gestalt vor der Knechtsgestalt das Zeugnis der Kirche in ihren herrlichen Bekenntnissen und Liedern, sowohl das Zeugnis der alten als auch das der durch die Reformation erneuerten Kirche. Die alte Kirche hat die heißen Kämpfe für die Gottheit Christi siegreich durchgefochten und im Nicänischen Bekenntnis sich einmütig zu dem Herrn Jesus bekannt, als Gottes einigem Sohne, der vom Vater geboren ist vor der ganzen Welt, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott, welcher um uns Menschen und um unserer Seligkeit willen vom Himmel gekommen ist; und sie hat in tausend Hymnen den Völkerheiland und Gotteshelden verherrlicht als den, der vom Himmel her erdwärts seinen Lauf nahm, um nach vollbrachter Erlösung wieder himmelauf zu steigen. Die reformatorische Kirche hat diesen großen Hauptartikel des christlichen Glaubens an die ewige Gottheit Christi ganz und voll übernommen und zu Augsburg bekannt: „Erstlich wird einträchtig gelehrt und gehalten, dass ein einig göttliches Wesen sei, welches genannt wird und wahrhaftig ist Gott; und sind doch drei Personen in dem einen göttlichen Wesen, gleich gewaltig, gleich ewig, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist und dass Gott der Sohn sei Mensch worden, geboren aus der reinen Jungfrauen Maria.“ Die reformatorische Kirche hat in neuen wundervollen Liedern den heiligen Christ als den ewigen Sohn Gottes besungen; wir kennen ja alle solche Verse wie die: „Des ewigen Vaters einig Kind jetzt man in der Krippen findt; in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ew'ge Gut. Den aller Weltkreis nie beschloss, der lieget in Mariens Schoß; er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding' erhält allein.“
Was will's bedeuten solchen wichtigen und wuchtigen Zeugnissen gegenüber, wenn der Wurm des Zweifels, der heutzutage alles Heilige benagt, auch an dem hochheiligen Artikel von der ewigen Gottheit des heiligen Christ herumnagt? Nicht der Zweifel, sondern der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet. Unsere Weihnachtsfreude soll kein Zweifel stören. Wir stehen vor der Krippe von Bethlehem im Glauben der Heiligen Schrift, im Glauben der Kirche und der Väter, im Glauben Luthers und Melanchthons und Paul Gerhardts und beten an vor dem Kinde der Zeit, das aus der Ewigkeit stammt, vor dem kleinen Menschenkinde, das in göttlicher Gestalt war, ehe denn die Welt war. Heute geht aus seiner Kammer Gottes Held, der die Welt reißt aus allem Jammer; Gott wird Mensch, dir Mensch zu Gute; Gottes Kind, das verbind't sich mit unserm Blute.
2.
Er äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden - mit diesen Worten zeichnet uns Paulus die andere Gestalt des heiligen Christ, seine menschliche Gestalt. Und wie gerne lauschen wir diesen Worten und vertiefen uns in dieselben am Weihnachtsfest! Denn darin wurzelt doch und gipfelt zugleich die christliche Weihnachtsfreude, dass Gott Mensch geworden ist, dass das Wort Fleisch geworden ist, dass der Heilige Christ eine menschliche Persönlichkeit geworden ist mit menschlichem Herzen und menschlichen Geschicken. Wär' es nicht so, dann hätten wir überhaupt kein Weihnachten; denn dann hätten wir gar keinen Erlöser. Hätte der erhabene Sohn Gottes seine Gottesgleichheit für einen Raub gehalten, hätte er seine göttliche Gestalt und Majestät als die unerlässliche Bedingung für seine Triumphe auf Erden erachtet, dann hätte er wohl in diese Welt hereinprangen können in aller seiner Herrlichkeit und sie zur Schau tragen können, wie ein römischer Triumphator seine Beute zur Schau trug, wenn er in die sogenannte ewige Stadt einzog; aber er hätte kein Blut gehabt, um es zur Sühne der Menschheit zu vergießen, denn die ewige Gottheit blutet nicht; und er hätte keine Wunden haben können, um unsere Krankheit zu heilen, denn die Gottheit kann nicht verwundet werden. Nicht in göttlicher Gestalt, sondern einzig und allein in menschlicher Gestalt konnte der Sohn Gottes unsere Krankheit tragen, unsere Schmerzen auf sich nehmen; nur in menschlicher Gestalt konnte er uns ein barmherziger Hoherpriester werden voll Mitleidens mit unserer Schwachheit und zugleich das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt und uns den Frieden gibt. Der Heilige Christ hat die Reinigung unserer Sünden durch sich selbst und die ewige Erlösung nur in menschlicher Gestalt vollbringen können und vollbracht. Darum schlagen heute bei weihnachtlicher Feier unsere Herzen höher bei dem paulinischen Wort: „Er nahm Knechtsgestalt an und ward gleich wie ein anderer Mensch!“
Gleichwie ein anderer Mensch! Weihnachten ist das Geburtsfest eines wirklichen und wahrhaftigen Menschen. Das Kind von Bethlehem ist vom Weibe geboren, von der Jungfrau Maria; wie es da in Windeln gewickelt in der Krippe liegt, ist es ein kleines Menschenkind, so zart und schwach und unscheinbar, wie wir selber waren, als wir das Licht der Welt erblickt hatten. In menschlicher Weise hat sich das heilige Kind dann weiter entwickelt. Es wuchs und ward ein Knabe, gerade wie andere Knaben sind, ein Knabe nicht nur dem Leibe nach, sondern auch dem Geiste nach, äußerlich und innerlich zunehmend und erstarkend bis hin zum Mannesalter. Ihn hat gehungert und gebürstet, er hat gegessen und getrunken; er hat gewirkt, so lange es Tag war, und ist müde geworden und hat sich ausgeruht; er hat gewacht, er hat geschlafen; er hat getrauert und hat sich gefreut; er hat gelitten, er ist gestorben und begraben, gleichwie ein anderer Mensch.
Gleichwie ein anderer Mensch! Diese Aussage erleidet doch eine wichtige Einschränkung. Ist der Sohn Gottes auch erschienen in der Gestalt des sündlichen Fleisches, so ist er doch nicht als Sünder erschienen, sondern als der, der von keiner Sünde wusste, weder von einer angeerbten, noch von einer eigenen. Wohl sind die Versuchungen zur Sünde auch an ihn, ja gerade in stärkster Weise an ihn herangetreten; aber so oft der Versucher und die Versucher auch auf ihn eindrangen, sie haben ihn niemals überwunden, und sie haben verstummen müssen, als des Menschen Sohn in dem unmittelbaren Bewusstsein von der Reinheit seines ganzen Lebens die feierliche Frage tat: „Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen?“ Wir andern Menschenkinder sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir an Gott haben sollen; aber dieses Menschenkind, dessen Wiege die Krippe, dessen Thron das Kreuz ist, hat keine Sünde getan, und nie ist ein Betrug in seinem Munde erfunden worden; er war und blieb in seiner menschlichen Laufbahn von Bethlehem bis Golgatha der Mensch ohne Makel und Tadel, auf dem Gottes Wohlgefallen ruhte. Und eben weil er dieser eine reine, unbefleckte, unschuldige Mensch war, konnte er der Mittler sein zwischen der sündigen Menschheit und dem heiligen Gott, wie Paulus ein andermal sagt: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.“
Gleichwie ein anderer Mensch ist der Heilige Christ, nur dass er keine Sünde hatte. Aber ist denn in dem irdischen Leben unseres Heilandes wirklich nur Menschliches und nichts Gott gleiches wahrzunehmen? Indem Paulus von der Annahme der Knechtsgestalt dessen spricht, der zuvor in göttlicher Gestalt war, braucht er den tiefsinnigen Ausdruck: Er äußerte (entäußerte) sich selbst. Das kann nicht heißen: Er gab sich selber auf, er gab sein eigens und eigentlichstes Wesen weg, sondern das kann nur heißen: Er blieb zwar, was er war, Gottes eingeborener Sohn, aber er verzichtete für sein menschliches Erdenleben auf die ihm gebührende göttliche Herrlichkeit und Daseinsform. Nicht als der Allwissende, nicht als der Allmächtige, nicht als der Allgegenwärtige, sondern in der Art und Weise menschlicher Beschränkung verlebte er seine Erdentage. Es ist wahr, er tat Wunder und er weissagte; aber das taten die Propheten auch und waren nur Menschen, noch dazu sündige Menschen. Dennoch ist es ganz unleugbar, dass auch aus Christi Leben in Knechtsgestalt eine Herrlichkeit herausstrahlt, die wir bei Mose und den Propheten niemals finden, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit, eine Herrlichkeit, die weit über das Maß und die Macht eines Menschen hinausgeht. Die Entäußerung des heiligen Christ hat ihn nicht gehindert, auch Strahlen seiner göttlichen Majestät auf diejenigen, die an ihn glaubten, fallen zu lassen.
Wir haben von weihnachtlichen Geheimnissen geredet, gestammelt. Wir haben das Kind Gottes in zweierlei Gestalt betrachtet, in seiner göttlichen und in seiner menschlichen Gestalt. Wir schließen mit dem Dankgebet: Gelobet seist du Jesus Christ, dass du Mensch geboren bist. Amen.