Quandt, Emil - Große Liebe im kleinen Leben - Dritter Abschnitt. V. 8-12.
Die Bitte Pauli an Philemon, den Onesimus wieder anzunehmen.
Alles, was diesem Abschnitt in der Epistel vorangegangen war, war nur Rüstung und Vorbereitung für denselben gewesen. Der apostolische Gruß, der apostolische Dank, die apostolische Fürbitte hatten den Weg gebahnt für das, worauf es dem Apostel bei diesem Schreiben eigentlich ankam. In diesem Abschnitt nun spricht Paulus klar und unumwunden aus, was er mit diesem Brief bezweckt; wir haben denjenigen Abschnitt der Epistel vor uns, um derentwillen die ganze Epistel geschrieben ist. Im Namen der heiligen Liebe bittet Paulus den Philemon, er möge den ihm entlaufenen Sklaven Onesimus, der auf seiner Flucht ein aufrichtiger Jünger des Herrn Jesu und ein warmer Freund des Apostels geworden war, freundlich wieder aufnehmen. Onesimus tritt in diesem Abschnitte in den Vordergrund, seine Persönlichkeit wird uns nach ihrer dunklen Vergangenheit und nach ihrer lichten Gegenwart geschildert; wie denn auch dieser Abschnitt der einzige ist, in welchem Onesimus mit Namen genannt wird. Philemon, der im vorigen Abschnitte hervorragte, tritt hier mehr zurück. Dagegen offenbart Paulus sich in diesem Abschnitt wieder nach zwei neuen Seiten, nach der Seite wehmütig-ernster und nach der gutmütig-fröhlicher Herzensstimmung. Auf dem ganzen Abschnitt aber ruht etwas eigentümlich Feierliches und Geweihtes, wie goldener Morgentau auf den Lilien des Feldes; wir achten unsern Abschnitt für einen derjenigen, in denen die Schönheit der Heiligen Schrift auch für blödere Augen offen liegt.
V. 8. Darum, wiewohl ich habe große Freudigkeit in Christo, dir zu gebieten, was dir ziemt. Das Wörtchen darum verbindet die spezielle Bitte für Onesimus mit den allgemeineren Auslassungen, die vorangegangen waren. Darum, weil Philemon bisher sich so gütig und freundlich gegen die Heiligen bewiesen hat, darum ergeht nun an ihn die Bitte, auch gegen Onesimus freundlich und gütig zu sein. Doch ehe der Apostel die Bitte selbst niederschreibt, gibt er in diesem Verse zu erkennen, dass er große Freudigkeit in Christo habe, dem Freunde zu gebieten, was sich ziemt, dass er aber des Gebietens sich entschlagen wolle. Die Freudigkeit des Apostels, zu gebieten, was sich ziemt, umfasst ein Zwiefaches, einmal seine apostolische Gewalt und sodann die Zuversicht, mit der er von derselben hätte Gebrauch machen mögen. Paulus hatte das Recht, den Christen Befehle zu geben für ihr Verhalten; denn er war ein Apostel Jesu Christi, und von den Aposteln hatte der Herr gesagt: Wer euch hört, der hört mich; er war ein Botschafter Jesu Christi, und wie eines Königs Majestät auf seinem Botschafter ruht, so ruhte die Majestät des Königs der Könige auf Paulus; er war ein Mundbote des Herrn Christus, wie Luther das so schön ausdrückt, und weil Christus der Herr der Kirche ist, so sind seine Mundboten die Überbringer heiliger und unverbrüchlicher Befehle. Paulus hatte auch zuversichtlichen Mut, von seinem Rechte Gebrauch zu machen, er wusste 1. Kor. 4, 21., dass es ihm freistand, wo es nötig tat, auch mit der Rute zu kommen; denn Elymas gegenüber Apostelgesch. 13, 10. 11. hatte er bewiesen, dass er zur Strafe verstockter Sünder sein Wort mit Zeichen des Geistes und der Kraft bestätigen konnte. Freilich das apostolische Recht und die apostolische Zuversicht hatten Grenze und Maß; „ich hatte Freudigkeit in Christo“ sagt Paulus, und er bezeichnet damit seine apostolische Vollmacht nicht nur als eine abgeleitete - Christus hat sie ihm gegeben - sondern auch als eine begrenzte, sie reicht nur soweit, als Christus sie gegeben. Christus aber hat seinen Aposteln nicht Vollmacht gegeben, allerlei zu gebieten, was ihnen gerade in den Sinn kommt, sondern nur zu gebieten, was sich ziemt, das heißt, was dem Evangelio gemäß ist. Wie sehr Paulus dieser Schranke seiner apostolischen Vollmacht sich bewusst war, zeigt sein oft fast ängstliches Auseinanderhalten dessen, was der Herr durch ihn befiehlt, und dessen, was nur sein eigener Wunsch, Meinung und Rat ist z. B. 1. Kor. 7, 25.: Von den Jungfrauen habe ich kein Gebot des Herrn, ich sage aber meine Meinung. Weil Paulus, was er gebot und wenn er gebot, nur im Namen Jesu Christi gebot, so gebot er auch immer nur das, was sich ziemte; wer in Christo gebietet, der kann eben nichts Anderes gebieten, als was dem Evangelio gemäß ist. Der Herr aber hat nicht nur Apostel gesetzt, sondern auch Ephes. 4, 11. Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer, dass die Heiligen zugerichtet werden zum Werke des Amtes, dadurch der Leib Christi erbaut werde. Es haben darum auch die berufenen und verordneten Diener des Wortes in unsern Tagen, unsre Lehrer und Prediger, die Macht, einem jeden Gliede der ihnen anvertrauten und durch das Blut Christi teuer erkauften Herde zu gebieten, was ziemlich ist; und wenn sie das gebieten, soll man ihnen gehorchen und folgen, nicht aber durch Ungehorsam ihre Freudigkeit dämpfen, auf dass sie ihr Amt an uns nicht mit Seufzen ausrichten, denn das ist uns nicht gut. Andrerseits aber sollen diejenigen, denen das köstliche und doch so schwere Bischofsamt übergeben ist, niemals in ihrem eigenen Namen, sondern allein nur im Namen Jesu Christi mahnen, gebieten, strafen und lehren. So lange eines Fürsten Diener nur die Befehle des Fürsten verkünden und vollziehen und Alles, was sie tun, in seinem Namen und Sinne tun, so lange deckt sie der Glanz der fürstlichen Majestät. Aber wenn sie die Befehle ihres Fürsten überschreiten, reden, was er nicht geboten hat, tun, was er gar verboten hat, dann deckt sie des Fürsten Majestät nicht mehr, dann haben sie es sich selber zuzuschreiben, dass sie sich in missliche Lagen verwickeln, dass sie Sturm ernten, wo sie Wind gesät haben. Wenn nun aber Paulus, der große Apostel des Herrn, ängstlich unterschied zwischen dem, wozu er göttlichen Auftrag hatte, und dem, was nur seine eigene Meinung war, so sollen die Diener am Wort, die keine Apostel sind, noch ängstlicher Gottes Wort und ihre menschliche Meinung auseinanderhalten. Es würden der Christenheit manche innere Streitigkeiten, manche trübselige Spaltungen erspart geblieben sein, wenn diejenigen, die der Herr zu Hirten und Lehrern gesetzt hat, nur immer für Gottes Wort und nicht auch für die eigene Meinung gekämpft hätten. Gottes Befehle sollen sie treu ausrichten, und wehe dem, der aus Menschengefälligkeit sie beugt oder auch nur ihre Spitzen abbricht; aber gelehrte Meinungen dürfen nicht mit Gottes Wort gleichgestellt werden, sonst seigt man am Ende Mücken und verschlingt Kamele. Recht gebieten können eben nur diejenigen, die recht gehorchen gelernt haben; je mehr die Diener am Wort gehorsame Diener Gottes sind, desto befähigter werden sie, in Gottes Namen zu gebieten, was sich ziemt. Und das gilt denn ja nicht bloß von Hirten und Lehrern, sondern auch von Hausvätern und Hausmüttern und Allen, die Träger irgendeiner von oben stammenden Autorität sind: je tiefer sie sich unter Gottes Regiment beugen, desto kräftiger werden sie selber das Regiment führen können. Paulus war ein also gehorsamer Knecht Gottes, dass er „im Geist gebunden dahinfuhr“, darum konnte er umso freimütiger als apostolischer Gebieter auftreten. Und doch dem Philemon gegenüber tut er's nicht, sondern er sagt:
V. 9. So will ich doch um der Liebe willen nur vermahnen, der ich ein solcher bin, nämlich ein alter Paulus, nun aber auch ein Gebundener Jesu Christi. Obwohl Paulus dem Philemon zu befehlen das Recht und die Freudigkeit hat, will er ihn doch nur vermahnen; das Wort hat im Griechischen noch sanfteren Klang und muss genauer übersetzt werden: bitten. „So bitte ich dich doch eher“, lautet wörtlich der Anfang dieses Verses. Der Apostel bittet, wo er befehlen könnte; welch' ein Beispiel für solche, die nicht Apostel sind! Ein befehlshaberischer Ton zwischen Christen ist allemal vom Übel; und wo das „Sei so gut“ und „Sei so freundlich“ keine Redensart ist, da es ist eine Formel, die himmlischen Ursprung hat. Denn auch Gott im Himmel, da er befehlen könnte, bittet: Kehre wieder, du abtrünniges Israel! Es hat Keiner so bitten können, als unser Gott im Fleische, als Jesus Christus: „Kommt her zu mir, Alle, die ihr mühselig und beladen seid! Folgt mir nach!“ Um der Liebe willen bittet Paulus den Philemon, sowohl um der Liebe willen, mit der er, Paulus, den Philemon liebt, den er schon im ersten Verse als „den Lieben“, den von ihm Geliebten bezeichnet hatte, als auch um der Liebe willen, mit der sich Paulus von Philemon geliebt weiß und die er im 22. Verse selbst als eine Liebe bezeichnet, die für ihn betet, endlich aber auch um der Liebe willen, mit der Philemon alle Heiligen überhaupt umfasst und von der er so schöne Proben in seinem bisherigen Christenwandel gegeben hat. Bitten ist eben die Sprache der Liebe, während Befehlen die Sprache des Rechtes und des Gesetzes ist. Auch befehlen mag und muss der Mensch dem Mitmenschen im Namen Gottes, wo es gilt, den Trotz eines unartigen Herzens zu brechen und zu bewirken, dass wenigstens äußerlich geschehe, was recht ist. Aber der Christ dem Christen gegenüber - und so stellt sich hier Paulus zu Philemon nimmt eine andere Stellung ein, die brüderliche Stellung; Gott hat sich uns gegenüber seines Rechtes begeben und uns um Christi willen mit Liebe umfangen; da müssen auch wir unter einander nicht auf unser Recht pochen, sondern einander in bittender Liebe begegnen; die Liebe ist das Band der Vollkommenheit und des Gesetzes Vollendung. Paulus nun, indem er an Philemon seine brüderliche Bitte richtet, führt zur Unterstützung derselben dem Freunde sein eigenes Bild lebendig vor Augen. „Der ich ein solcher bin“ - so führt Paulus, offenbar in der Sprache herzlicher Bewegung und Rührung, seine eigene Persönlichkeit ein, als ob er spräche: du kennst mich ja, lieber Philemon; du weißt ja, dass der, der dich bittet, kein Unbekannter ist, sondern dein alter Bekannter! Und hat er so ganz im Allgemeinen seine Person angedeutet, so gibt er nun sofort drei Merkmale seiner Person an, als ebenso viele Mittel zur Verstärkung seiner Bitte: „nämlich ein alter Paulus, nun aber auch ein Gebundener Jesu Christi.“ Paulus nennt er sich, außerdem noch einen alten Mann, endlich noch einen Gefangenen Jesu Christi. Paulus schreibt an Philemon, Paulus bittet ihn. Nur Philemon hatte ja sicherlich im Leben manchen Brief empfangen und war mit mancher Bitte angegangen worden; der aber diesmal an ihn schreibt und diesmal ihn bittet, das ist Paulus, der Mann, der weiland ein Saulus war, dem aber nach seiner Bekehrung Gott durch die Bekehrung des Sergius Paulus glänzendes Zeugnis für seine apostolische Sendung und Würde gegeben, der wunderbare Mann, der aus einem glühenden Feinde Jesu Christi der glühendste Freund Jesu Christi geworden war; dieser Mann, Paulus, hat eine Bitte an Philemon; wahrlich man mag manche Bitte abschlagen müssen, aber wenn ein Paulus bittet, kann für einen Christen vom Nichterhören auch von ferne nicht mehr die Rede sein. Paulus - ein kleiner Name, und doch der größte unter allen Menschennamen, denn es ist der Name desjenigen Menschen, in dem Christus am umfassendsten Gestalt gewonnen und der für Christum mehr gearbeitet hat, als die andern. „Der ich ein solcher bin, nämlich Paulus“ es liegt in diesen Worten die Demut eines Knechtes und die Majestät eines Fürsten; Paulus nennt nur seinen Namen, aber dieser Name ist unter allen guten Namen der Menschen der beste. Ein alter Paulus, so redet der Apostel. Im Griechischen steht das Wort alt hinter dem Worte Paulus, und es hat eine größere Selbstständigkeit, es ist so viel als unser Deutsches: Ein alter Mann.
Es liegt in diesem Ausdruck, wie uns bedünken will, etwas unendlich Wehmütiges. Jesus Christus gestern und heute und derselbige in Ewigkeit; Jesus Christus in der Fülle männlicher Frische gestorben, auferstanden, gen Himmel gefahren und in alle Ewigkeit als ein jugendlicher Mann von 30 Jahren zur Rechten Gottes thronend. Aber seine Diener werden alt und grau; auch ein Paulus, der feurigste, gewaltigste Herold Jesu Christi, ist alt und grau geworden, und da er nun von Rom aus an Philemon schreibt, schreibt er als ein alter Mann! Blühen und verblühen, das ist das Los alles Menschlichen auf Erden, auch des Schönsten und Besten; es gibt nur eine einzige Immortelle1) auf dieser armen Erde, und die heißt Jesus Christus. Der ewig lebendige Christus und ein alter Paulus - welch' ein Gegensatz! Das wird sich erst auf der neuen Erde unter dem neuen Himmel ausgleichen; da werden alle im Glauben Vollendeten, sowohl die Jungen, als die Alten hinankommen zu dem vollkommenen Mannesalter Christi; es ist eine ewige Jugend vorhanden auch für uns Menschenkinder, sie ist begründet in der Kraft des Blutes Christi, aber sie tritt erst in die Erscheinung, wenn dies Stückwerksleben abgetan ist und die Vollkommenheit da ist. Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden, gleich sein - die richtigere und bescheidenere Übersetzung des Ausdrucks in 1. Joh. 3, 2. ist „ähnlich sein“. In jener Welt, der wir im Glauben und in der Hoffnung harren, wird es keine alten Paulusse mehr geben; hienieden aber unter dem Banne der irdischen Vergänglichkeit, dieser täglichen Mahnung an das verlorene Paradies, wird selbst ein Paulus alt. „Ein alter Paulus!“ Warum wohl der Apostel dem Freunde sich als einen altgewordenen Mann vor Augen malt? Sicherlich, damit der Freund seine Bitte mit desto größerer Sanftmut und Willigkeit hinnehme. Philemon war ja ein Christ; und das Christentum ehrt das Alter; es ist ein trauriges Zeichen des Verfalles eines christlichen Volks, wenn das Alter verachtet wird. Das Wort aus 3. Mose 19: „Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alten ehren“ gilt für die Kinder beider Testamente; die Bitte, die ein alter Mann an uns richtet, rührt und berührt unser Herz mehr als eine andre Bitte. Paulus aber sagt zur Empfehlung seiner Bitte noch ein Drittes von sich aus: „nun aber auch ein Gebundener Jesu Christi.“ Als solchen hatte er sich schon V. 1. eingeführt, und wir betrachteten schon dort, wie Paulus sich deswegen dem Philemon in seiner Märtyrergestalt vor Augen stellt, um seiner Bitte mehr Gewicht zu geben. Welcher aufrichtige Christ könnte einem um Jesu willen in Fesseln Geschlagenen eine Bitte abschlagen? Pauli Name, Pauli Alter, Pauli Fesseln - es waren drei Hammerschläge, einer immer wuchtiger als der andre, die das härteste Herz hätten öffnen müssen, wie viel mehr mussten sie Philemons Herz erweichen, der für die Stimme der Liebe allezeit ein aufmerksames Gehör gehabt hatte? Paulus, es ist wahrlich nicht not, dass du noch Weiteres hinzufügst; nun sprich nur aus, was du von Philemon forderst; er wird nimmermehr säumen, dir zu Liebe zu tun, was in deinen Kräften steht.
V. 10. So ermahne ich dich um meines Sohnes willen, Onesimi, den ich gezeugt habe in meinen Banden. „Ich ermahne dich“, es ist unser: „ich bitte dich“, gerade so wie im vorigen Verse. Im Griechischen steht der Name dessen, für den Paulus mit seiner Bitte eintritt, erst ganz am Ende des Verses, und vor seinem Namen gleichsam als schützende Bollwerke die Bezeichnungen: Er ist mein Sohn; ich habe ihn in meinen Banden gezeugt. Paulus bittet Jemanden, den er Bruder nennt, für Jemanden, den er Sohn nennt; die ganze Verhandlung ist wie eine intime Familienangelegenheit, eine vertrauliche Sache, die Verwandte unter sich abmachen. Aber es ist nicht eine Verwandtschaft nach dem Fleische, sondern eine geistliche Verwandtschaft. Paulus nennt Onesimus seinen Sohn, weil er ihn in seinen Banden dem Herrn gezeugt hat. Was einmal Einer von dem Mönchsvater Antonius gesagt hat, das lässt sich in viel edlerem Sinne vom Apostel Paulus sagen: Er starb kinderlos, aber als Vater eines unzähligen Geschlechts. Seit Paulus selbst ein Kind Gottes war im Glauben an Jesum Christum, ist er nicht müde geworden, dem Herrn Seelen zu werben und sie als seine geistlichen Kinder dem Vater unsers Herrn Jesu Christi zuzuführen. Auch in Ketten und Banden hat Paulus das Missionieren nicht lassen können; auch als Gebundener Jesu Christi in Rom hat er durch Episteln, wie durch mündliches Wort für die Bekehrung armer Sünder gewirkt. Menschen konnten ihm den Leib binden und fesseln, das Wort, das Wort von Sünde und Gnade konnten sie ihm nicht binden, Paulus blieb, so erzählt Lukas in den beiden Schlussversen der Apostelgeschichte, zu Rom zwei Jahre in seinem eigenen Gedinge und nahm auf Alle, die zu ihm kamen, predigte das Reich Gottes und lehrte von dem Herrn Jesu mit aller Freudigkeit, unverboten. Unter denen nun, von denen Lukas summarisch sagt, „dass sie in Rom zu Paulo kamen“, war auch Onesimus. Wie der entlaufene heidnische Sklave dazu gekommen ist, zu Rom mit dem Apostel in Verbindung zu treten, ist uns nicht mitgeteilt, und wir sind in Betreff dieses Punktes auf bloße Vermutungen angewiesen. Wir denken uns den Hergang der Sache folgendermaßen. Von falschem Freiheitsdrange betört, entflieht Onesimus aus Philemons Hause und aus Kolossä, nachdem er seinem Herrn noch allerlei Geld und Geldeswert entwendet hat (V. 18.). Er flieht nach Rom, der großen Weltstadt, wie noch heutzutage Verbrecher sich gern in das Getümmel der großen Städte begeben, um sich dort in der zusammengedrängten Menschenmasse unbemerkt zu verlieren und vor der Entdeckung des Verbrechens sicher zu sein. Indem er sich nun in Rom planlos umhertrieb und keine Erwerbsquelle hatte, so zerrann sein ungerechter Mammon bald, gestohlenes Gut währt nimmer lange, und er geriet ins Elend. Und wie nun der verlorene Sohn im Elende an sein Vaterhaus gedachte, so mag nun der entlaufene, vogelfreie, vom bösen Gewissen geplagte Sklave an seine frühere friedliche Lebensstellung in Kolossä gedacht haben, die er durch eigenen Frevel verscherzt hatte. Sicherlich hatte er in Kolossä in dem Christenhause vernommen, dass Paulus zu Rom als ein Gefangener Jesu Christi schmachte; er wusste, wie hoch sein Herr Philemon von Paulus hielt; sollte eine Ausgleichung zwischen ihm und seinem Herrn angebahnt werden, es konnte keinen besseren Vermittler geben, als Paulus. So hat Onesimus denn den Apostel aufgesucht, und dieser hat ihn freundlich in seinem Gedinge aufgenommen und sofort Alles daran gesetzt, um den armen Sklaven aus seiner weltlichen Traurigkeit, die den Tod wirkt, herauszureißen und ihn zu der göttlichen Traurigkeit zu führen, die da wirkt zur Seligkeit eine Reue, die Niemand gereut. Durch die Predigt des göttlichen Wortes hat Paulus den Flüchtling von der Betrachtung seines auswendigen Elends zur Erkenntnis seiner großen inwendigen Schuld geführt, hat ihm in seinem wohlverdienten Geschicke die Gerechtigkeit Gottes gezeigt, dann aber auch Gottes vergebendes Erbarmen in Jesu Christo, der für Herren und für Knechte gelitten hat und gestorben ist, auf dass wir armen Sünder Frieden hätten und durch seine Wunden geheilt würden. Und Onesimus hat sich sagen lassen; was seinem Herrn in Kolossä niemals bei ihm gelungen war, das ist durch Gottes Gnade dem gebundenen Apostel gelungen; der, der sich um Jesu willen hat binden lassen, obwohl er ein freier Mann war, hat dem, der seine Bande freventlich zerrissen, da er doch ein leibeigener Knecht war, den Herrn Jesum ins Herz gepredigt; und aus dem armen, blinden kolossischen Heiden ward so in Rom ein bußfertiger und gläubiger Bekenner Jesu Christi, der nun dankbaren Sinnes dem gefangenen Apostel als seinem geistlichen Vater in freiwilliger Gebundenheit diente. Welch' eine Freude für den Apostel, dass ihm in seinen Banden in Onesimus ein geistliches Kind geschenkt wurde; wahrlich auch in traurigen Zeiten gibt Gott den Seinen Stunden der lieblichsten Erquickung. So hat auch nachmals Gott manchem Märtyrer Jesu Christi die Gnade gegeben, dass noch Häscher und Schergen, die ihren gottseligen Wandel sahen, ihrem Glauben nachfolgten. - Die Weise, die von ihm bekehrten Menschen seine geistlichen Söhne zu nennen, hat Paulus übrigens auch sonst; 1. Korinth. 4, 15. ermahnt er die korinthischen Christen als „seine lieben Kinder“; Gal. 4, 19. sagt er zu den galatischen Christen: „Meine lieben Kinder, welche ich abermals mit Ängsten gebäre, bis dass Christus in euch eine Gestalt gewinne.“ Luther sagt davon: „Es ist das eine Allegorie. Jeder gottselige Lehrer ist ein Vater, der durch das Predigtamt zeugt und bereitet die rechte Gestalt eines christlichen Herzens. Denn gleichwie wir aus der natürlichen Geburt von den Eltern Gestalt der Leiber haben, also helfen die Apostel, fromme Prediger und auch Schulmeister dazu, dass unsre Herzen und Gewissen eine rechte Gestalt in uns gewinnen. Die rechte Gestalt aber, so ein christliches Herz haben muss, ist der Glaube oder Zuversicht im Herzen, dadurch wir Christum ergreifen, dem selbigen allein und sonst keinem andern Dinge anhangen.“ Es ist also biblisch und evangelisch, wenn bekehrte Menschen in den Lehrern, die ihnen das Wort Gottes gesagt haben, ihre geistlichen Väter verehren, wenn bei solcher Verehrung nur der Ehre dessen nicht zu nahe getreten wird, der der rechte Vater ist über Alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden. Gegen die papistische Verirrung, da man Menschen in abgöttischer Weise als Väter verehrt - „Papst“ heißt Vater zeugt das Wort des Heilandes Ev. Matth. 23, 9.: Ihr sollt Niemand Vater heißen auf Erden; denn Einer ist euer Vater, der im Himmel ist.
V. 11. Welcher weiland dir unnütze, nun aber mir und dir wohl nütze ist, den habe ich wieder gesandt. Es ist das einer derjenigen Verse in der Heiligen Schrift, die den Beweis geben, dass es auch für gläubige Christen nicht unanständig ist, im Umgangsleben bei gegebenen Umständen einen heiteren Ton anzuschlagen. Der Vers enthält nämlich ein Wortspiel; Paulus spielt an auf die Bedeutung des Namens Onesimus. Onesimus heißt „nützlich.“ Da sagt nun Paulus, in heiliger Freude mit dem Worte spielend: Der Nützliche war vordem das Gegenteil von dem, was sein Name sagt, er war ein Unnützlicher; ich aber schicke ihn dir nun als einen Menschen, bei dem sich Name und Wesen deckt, als einen nun in der Tat und Wahrheit Nützlichen zurück. Wer an solcher gutmütig-heiteren Christenrede noch Anstoß nimmt, tut es wahrlich nicht, weil er so sehr fromm ist, sondern weil er noch nicht fromm genug ist; sinnvoller Scherz, der wie hier bei Paulus, mit dem reinsten Ernste unauflöslich verschmolzen ist, ist in der Schrift mitnichten vergönnt; der Scherz, der Ephes. 5, 4. als den Heiligen ungeziemend verboten wird, ist die mit Schandbarkeit und Narrengerede Hand in Hand gehende gemeine Witzigkeit. Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe; und wenn ein gläubiger Mensch in seinem Herrn fröhlich und heiter ist, so ist das ein gar andres Ding, als wenn ein Weltmensch heiter ist; der Christ ist allezeit, auch in seiner Fröhlichkeit, gelassen, der Weltmensch ist ausgelassen. Paulus war ein Glaubensmann und darum ein fröhlicher Mann; im Glauben, wie in der Fröhlichkeit dürfte ihm Martin Luther am nächsten kommen; die alltäglichen Gespräche des deutschen Reformators, wie sie uns in seinen Tischreden aufbewahrt sind, waren ebenso erbaulich, als durch Mutterwitz ergötzlich. Wenn Paulus nun in Anlehnung an die Wortbedeutung des Namens sagt, Onesimus sei sonst unnütz gewesen, so ist klar, dass damit das Entwenden und das Entfliehen gemeint ist, dessen der Sklave sich schuldig gemacht hatte; wenn Paulus schreibt, jetzt sei er nütze, wohl zu gebrauchen, so geht das auf die Bekehrung des Onesimus; ist Einer ein wahrhaft bekehrter, gläubiger Mensch, dann ist er auch ein nützlicher Mensch; die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung nicht nur jenes, sondern auch dieses Lebens. Jeder Mensch, der sich vom eitlen Wandel nach väterlicher Weise zu dem Hirten seiner Seele bekehrt hat, ist ein solcher Onesimus, vor seiner Bekehrung unnütz, nach seiner Bekehrung nützlich. „Mir und dir nütze“, sagt Paulus von Onesimus; ihm war er nütze gewesen, dem Philemon sollte er nütze sein in der Zukunft. Worin war Onesimus dem Apostel nützlich gewesen? Nun vor Allem darin, dass er ihn durch seine Bekehrung erfreute, Kinder, auch geistliche Kinder sind eine gute Gabe Gottes; dann darin, dass er ihm in christlicher Treue diente, ihm durch allerlei Hilfsleistungen seine Bande erleichterte; endlich auch darin, dass er als Einer, der nun selbst der Gnade teilhaftig geworden war, den um des Evangeliums willen leidenden Apostel geistlich erquicken, aufrichten und stärken konnte. Worin sollte nach der guten Meinung, die Paulus hegte, Onesimus seinem alten Herrn nützlich sein? Nun in denselben drei Stücken: erstlich durch seine Bekehrung, Speise und Trank konnte ja Philemon nicht so erquicken, als die Kunde von der Umwandlung, die mit dem so lange widerstrebenden Knechte geschehen war; sodann durch die treueren Dienste, die der bekehrte Onesimus zu leisten versprach; ein gläubiger Knecht dient ganz anders als ein ungläubiger, nicht mit Dienst allein vor Augen, sondern um des Gewissens willen zu Gott; endlich auch durch Darreichung geistlicher Güter in Jesu Christo.
was ist doch die Bekehrung für eine Quelle, des Segens nicht nur für das ewige, sondern auch für dieses irdische Leben! Der Glaube an Jesum Christ gießt einen Glanz der Verklärung aus über Herz und Haus und Beruf. Wenn's doch alle Menschen wüssten, Jesu, wie Du freundlich bist und der Zustand wahrer Christen unaussprechlich selig ist; ach wie würden sie mit Freuden aus der Weltgemeinschaft gehen und bei Deinem Blut und Leiden fest und unbeweglich stehen! Den habe ich wieder gesandt - schreibt Paulus. Als Paulus das schrieb, hatte er ihn zwar noch nicht gesendet; aber die Alten versetzten sich in ihren Briefen immer auf den Standpunkt und in die Zeit des Briefempfängers; als Philemon den Brief las, stand Onesimus als Zurückgesandter vor ihm. Paulus sendet den bekehrten Flüchtling; er kommt also nicht in seinem eigenen Namen, sondern in Pauli Namen und mit Pauli Zeugnis versehen. Sicherlich hätte Philemon, auch wenn Onesimus von selber und ohne die apostolische Empfehlung reuig zurückgekehrt wäre, sich von der Liebe Christi gedrungen und gezwungen gefühlt, sich seiner zu erbarmen und ihn wieder anzunehmen; umso weniger konnte und durfte er jetzt die Annahme des Reuigen verweigern, da er ihm als ein von Paulus Gesendeter heimkommt. Menschen, die uns von hervorragenden Gottesmenschen als Brüder in Christo empfohlen werden, nehmen wir auf Treu' und Glauben als solche an, ob wir sie auch früher hin nur von ihren schlechten Seiten kennen gelernt haben. Ist doch Paulus selbst einmal von den großen Aposteln in Jerusalem, die ihn nur als Verfolger der Gemeinde kannten, als Bruder angenommen worden, weil Barnabas sich für ihn verbürgte. Was damals Barnabas dem Paulus leistete, das leistet nun Paulus dem Onesimus; er verbürgt sich für seine Gläubigkeit. Wir sollen solche Liebesdienste auch denen leisten, die wir als echte Jünger des Herrn erkannt haben, die aber bei andern Gläubigen noch verkannt sind; es gehört das zur christlichen Erfüllung des achten Gebotes.
V. 12. Du aber wollest ihn, das ist mein eigen Herz, annehmen. Das ist denn nun die eigentliche Bitte, mit der nun endlich der Apostel hervortritt. Paulus sendet den Onesimus zurück, Philemon aber („du aber“) soll ihn annehmen, annehmen in seinen Dienst und in seine Liebe, annehmen ohne Zorn und ohne Murren; denn indem er Onesimus annimmt, nimmt er keinen Geringeren als Paulum selber an; ihn, das ist mein eigen Herz, sagt Paulus. Herz; es steht im Griechischen derselbe Ausdruck wie in V. 7. (Herzen der Heiligen), der buchstäblich Eingeweide bedeutet und dem Sinn nach unübersetzbar ist. Paulus will sagen, dass Onesimus mit seinem innersten Leben verwachsen ist, dass er sich mit ihm durch das Band der allerinnigsten Liebe verbunden weiß, so dass, wenn Onesimus leidet, Paulus mitleidet, und wenn jener herrlich gehalten wird, auch Paulus in tiefster Seele mit erfreut wird; da sehen wir, sagt Luther, wie Paulus sich des armen Onesimus annimmt und stellt sich nicht anders, denn als sei er selbst Onesimus. Paulus schämt sich nicht, den armen flüchtigen Sklaven sein Herz zu nennen, weil ihn die Liebe dessen beseelte, der, ob er wohl reich war von Ewigkeit, arm geworden ist um unsertwillen, und ob er wohl der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild seines Wesens ist, sich nicht schämt, uns arme sündige Menschen seine Brüder zu nennen. Paulus ist für Onesimus mit seiner eigenen Person eingetreten, damit Philemon ihn annehme; der Herr Jesus Christus ist für uns Sünder mit seiner heiligen Person eingetreten, damit der große Gott im Himmel uns zu Gnaden annehme. Die Korrespondenz zwischen Rom und Kolossä ist ein Schattenbild von dem, was zwischen dem Kreuz von Golgatha und dem Allerheiligsten des Himmels verhandelt ist. Das ist das Wunderbare an einem wahrhaftigen Christenleben, dass es auf tausendfache Weise von dem Bilde Christi durchwirkt ist, dass jeder Ton, den man in ihm anschlägt, an die Melodien von Bethlehem und Golgatha erinnert; es ist das Wunderbare an einem Christenleben und doch eigentlich das Natürliche; denn ist Einer ein rechter Christ, dann kann er eben auch mit Paulus das Bekenntnis ablegen: Ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir.
Blicken wir noch einmal auf das kleine Feld unsers kurzen Schriftabschnitts zurück, um eine Nachlese zu halten. Paulus und Onesimus sind die beiden Bäume dieses Feldes, eine alte königliche Eiche, die Vielen Schatten gewährt, und eine junge, zarte Efeuranke, die sich um den Stamm der Eiche windet. Paulus, ein freier römischer Bürger, trägt Bande; Onesimus, ein Sklave und ein Verbrecher, ist frei - wir merken, nicht Feder, der Ketten trägt auf Erden, ist ein schlechter Mann, und nicht Feder, der ein freies Leben führt, hat reine Hände. Der Apostel in der Weltstadt, der flüchtige Sklave in der Weltstadt - Weltstädte sind wie Meere, in die sehr verschiedene Flüsse strömen, Wasser des Lebens und Bäche Belials. Die schlichte Herberge Pauli in Rom, die geistliche Geburtsstätte des Onesimus, was kümmerte man sich damals in dem kaiserlichen Palaste Neros darum? was kümmern wir uns heute nach zwei Jahrtausenden darum, was in dem römischen Kaiserpalast vorging? aber in allen fünf Erdteilen und auf den Inseln des Meeres wird noch heute nach zwei Jahrtausenden gelesen, erzählt, betrachtet, gepredigt, was in der schlichten Herberge Pauli vorging! - wir merken, Manches, was in der Gegenwart groß ist, ist in der Zukunft sehr klein, und Manches, was in der Gegenwart klein ist, nimmt in der Zukunft riesengroße Dimensionen an. Paulus, der freie römische Mann, der große Gelehrte, der hohe Apostel nennt einen bekehrten Sklaven und Dieb sein eigenes Herz wir merken, das Reich Gottes ist die umgekehrte Welt; in der Welt herrscht die Hochmut, im Reiche Gottes die Demut, in der Welt regiert das Geld und die Geburt, im Reiche Gottes die Liebe und die Wiedergeburt, in der Welt misst man nach Stand und Würden, im Reiche Gottes misst man gar nicht, sondern als von Einem Stamme steht man auch für einen Mann in Christo. Amen.