Lang, Paul – Wie sich im Bild des ersten christlichen Blutzeugen das Los aller Wahrheitszeugen Jesu Christi widerspiegelt

Lang, Paul – Wie sich im Bild des ersten christlichen Blutzeugen das Los aller Wahrheitszeugen Jesu Christi widerspiegelt

Predigt am Feiertag Stephanus
Von Diakonus Paul Lang in Ludwigsburg.

Ev. Matth. 23, 34-39. (I. Jahrgang.)
Darum siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte, und derselbigen werdet ihr etliche töten und kreuzigen, und etliche werdet ihr geißeln in euren Schulen und werdet sie verfolgen von einer Stadt zu der andern, auf dass über euch komme alles das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden, von dem Blut an des gerechten Abels bis aufs Blut Zacharias', Barachias' Sohn, welchen ihr getötet habt zwischen dem Tempel und Altar. Wahrlich, ich sage euch, dass solches alles wird über dies Geschlecht kommen! Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen werden. Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!

Geliebte in dem Herrn Jesu Christo! „Der Tod seiner Heiligen ist wert geachtet vor dem Herrn“, heißt es im 116. Psalm (Vers 15) und des zu einem Zeugnis hat die christliche Kirche den Gedächtnistag des ersten christlichen Blutzeugen Stephanus neben den hohen Festtag der Christenheit, das Weihnachtsfest, gestellt. Sogar der Gedächtnistag des Jüngers, den der Herr lieb hatte, der beim heiligen Abendmahl ihm am allernächsten saß, sogar der Gedächtnistag Johannis des Evangelisten hat vor dem Gedächtnistag des Mannes, der die Märtyrerkrone als Erstling trägt, zurücktreten müssen. Und neben das Geburtsfest Christi hat die christliche Kirche den Feiertag Stephani deshalb gestellt, weil die alte Kirche den Todestag eines Heiligen seinen Geburtstag nannte, ihn als den Tag des Eingangs zu einem neuen wahrhaftigen ewigen Leben ansah. Geliebte, der Herr hat, wie uns unser heutiges Evangelium aufs Deutlichste zeigt, es vorausgesehen und vorausgesagt, was seinen Wahrheitszeugen in dieser Welt und Zeit bevorstehe. Niemals hat er vor seinen Jüngern ein Hehl daraus gemacht, was sie werden leiden müssen um seines Namens willen. Er hat es vorausgesagt, dass sie getötet, gekreuzigt und gesteinigt, gegeißelt und von einer Stadt zur andern verfolgt werden. Der Märtyrer aber, dessen Gedächtnistag wir heute feiern, ist nur der erste einer ganzen Wolke von Wahrheitszeugen Jesu Christi, welche ihren Glauben mit ihrem Blut besiegelt haben. So lasst uns denn sehen

Wie sich im Bild des ersten christlichen Blutzeugen das Los aller Wahrheitszeugen Jesu Christi wiederspiegelt.

I.

Hierbei lasst uns fürs erste die Frage beantworten: Wer ist ein solcher Wahrheitszeuge? Unser Text gibt uns darauf die Antwort: Nicht derjenige, der in seinem eigenen Namen kommt, sondern der, der vom Herrn gesendet wird. „Siehe ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte“, sagt unser Heiland mit großem Nachdruck. Kaum an einer andern Stelle hat er es so deutlich ausgesprochen, wie hier, dass sein prophetisches Amt mit seinem Erdenleben nicht abgeschlossen ist, sondern für alle Zeiten fortdauert. Er sendet fortwährend, er sendet auch zu uns Propheten und Weise und Schriftgelehrte. Stephanus war ein Prophet, ein Weiser und Schriftgelehrter in außerordentlicher Vereinigung göttlicher Geistesgaben. Während seine Volksgenossen und Zeitgenossen in verblendetem Eigenwillen sich an das Alte anklammerten, wusste er es in prophetischer Erleuchtung, dass Gott durch Jesum von Nazareth für Israel aus dem Alten heraus etwas Neues schaffen wollte. Er war mit dem Geist der Weisheit begabt; denn, heißt es von ihm, Niemand von seinen Gegnern vermochte zu widerstehen dem Geist, der da redete, und noch im Sterben erglänzt sein Angesicht von der himmlischen Weisheit, in der er auch für seine Feinde beten konnte, wie eines Engels Angesicht. Er war ein Schriftgelehrter, nicht ein Mann des Buchstabens, wie es damals viele gab, sondern wie der Heiland es haben will, ein Schriftgelehrter zum Himmelreich gelehrt, der aus seinem Schatz Altes und Neues hervorbringt. Welch einen Spiegel hält dieser Mann seinem Volk vor, indem er seines Volkes Geschichte von den Zeiten der Erzväter bis auf Salomons Tempelbau mit ihnen durchgeht, indem er beständig auseinander hält, was Gott nach seinem weisen Ratschluss wolle, und was dagegen das Volk nach seinem törichten Eigenwillen wollte. Er ist vom Herrn gesendet. Deswegen nun, Geliebte, weil ein wirklicher Wahrheitszeuge von dem Herrn gesendet sein muss, haben wir, wie der Apostel sagt, die Pflicht, nicht einem jeglichen Geist zu glauben, sondern die Geister zu prüfen, ob sie aus Gott sind. Wie falsch und schief ist aber hierbei oft unser Urteil! Wie wollen wir oft, ähnlich den Juden, von den Wahrheitszeugen, die uns der Herr sendet, nur das für uns Angenehme, nur das, was unserer Eitelkeit schmeichelt, hören, und verwerfen die Wahrheitszeugen, wenn wir von ihnen getadelt, gewarnt und gestraft werden. Wie gern nehmen wir oft anstatt der göttlichen Ratschlüsse eitle, hochfahrende, menschliche Einbildungen an, wie oft schätzen wir die Klugheit, die von unten ist, höher als die Weisheit, die von oben ist; wie manchmal stellen wir die menschliche Gelehrsamkeit, die wie über alles, so auch über geistliche Dinge redet, als müsste es vom Himmel herab geredet sein, höher denn die edle Einfachheit, die sich demütig der heiligen Schrift zu Füßen setzt, um von ihr zu lernen, nicht aber um sie zu meistern: Lasst uns doch mit rechtem Ernst beherzigen, was der Herr uns ankündigt: „Siehe ich sende zu euch Propheten, Weise, Schriftgelehrte“ und lasst uns beherzigen, was er an einem andern Ort zu denen sagt, die er sendet: „Wer euch verachtet, der verachtet mich, wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat.“

II.

Lasst uns nun fürs zweite sehen: Warum werden denn die Wahrheitszeugen, die der Herr sendet, verworfen? Deshalb, weil man die Wahrheit nicht hören will und nicht ertragen mag. Die Juden wollten von dem, was der Herr wollte, gerade das Gegenteil. „Ihr habt nicht gewollt.“ Diesen Vorwurf muss Jesus den Kindern Jerusalems machen. Er wollte die Kinder Jerusalems sammeln, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, denn er sah in prophetischem Geist schon die römischen Adler über dem verblendeten Volke kreisen, bereit, auf die wehrlose Beute herabzustoßen. Er wollte sie sammeln, aber sie zerstreuten sich, sie liefen dem nach und liefen jenem nach, suchten da ihre Hilfe und dort ihre Hilfe, wo keine Hilfe zu finden war, bis sie zuletzt zur Strafe dafür nach der Zerstörung Jerusalems zerstreut worden sind in alle Welt. Sie konnten eben seine Worte nicht hören, weil er ihnen die Wahrheit sagte. Sie hatten die Finsternis mehr lieb als das Licht, und hatten die Lüge mehr lieb als die Wahrheit.

Wo aber einmal das Geschlecht einer Zeit vom Lügengeist und Lügenwesen beherrscht ist, da gesellt sich auch gar bald der Mordgeist dazu, deshalb haben sie seine Wahrheitszeugen gekreuzigt und gesteinigt, gegeißelt und verfolgt. Diejenigen, die der Herr sendet, deren suchten sie sich zu entledigen, die sollten fortgeschafft werden, ging's nicht mit List, so sollte es mit Gewalt gehen. Sind wir besser, als die Juden, Geliebte? Dürfen wir selbstgerecht sagen: „Nun, das kommt aber bei uns nicht mehr vor, dass die Propheten und Weisen und Schriftgelehrten, die der Herr sendet, gekreuzigt und gesteinigt, verfolgt und getötet werden. Mag sein, dass Christi Wahrheitszeugen nicht beachtet, oder auch verhöhnt und mit giftigem Spott gegeißelt werden, aber weiter tut man ihnen doch im Grunde nichts zu leid.“ Dürfen wir also sprechen? Ich meine nicht. Siehe, der Herr will auch uns sammeln, indem er Propheten und Weise und Schriftgelehrte, indem er vor allem seinen heiligen Geist sendet. Wie oft aber tun wir von dem; was der Herr will, und von dem, wozu der Geist Gottes uns treibt, gerade das Gegenteil. Wie oft widerstreben wir seinem Willen, der uns sammeln will, wie oft haben wir für die Versammlung seiner Gläubigen, für die Gemeinschaft seiner Heiligen keinen Sinn und kein Verständnis, sondern gehen unseres eigenen Herzens eitlem Dichten und Trachten nach. O, lasst uns dafür sorgen, Geliebte, dass nicht auch wir unter das furchtbare Gericht des ernsten Wortes fallen: „Ihr habt nicht gewollt.“ Seht, der Lügengeist und der Mordgeist, der einst die vom Herrn gesandten Wahrheitszeugen verfolgt und gegeißelt, gesteinigt und gekreuzigt hat, geht auch in unserer Zeit und unter unserem Geschlecht um, und es gilt, sich mit allem Ernst vor ihm zu hüten. Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten.

III.

Lasst uns fürs dritte noch sehen, welche Strafen der Herr denen verkündigt, die sich an seinen Wahrheitszeugen vergreifen. Er sagt dem Geschlecht seiner Zeit: „Über euch wird kommen all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden, vom Blut des gerechten Abels an, bis auf das Blut Zacharias, Barachias Sohn, den ihr getötet habt zwischen dem Tempel und Altar.“ Als Abel unter den Händen seines Bruders Kain sein Leben aushauchte, da sprach Gott zu dem Brudermörder: „Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul aufgetan hat, und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen.“ Abels Tod ist der erste Mord, der auf Erden geschehen, der erste Mord eines Unschuldigen, der in der Heiligen Schrift uns zur Lehre, Strafe, Besserung, Züchtigung in der Gerechtigkeit erzählt ist. Zacharias, Barachias Sohn aber, welchen der Heiland neben Abel nennt, war ein treuer Wahrheitszeuge unter dem jüdischen Könige Joas: ein Wahrheitszeuge, welcher den Hohen und Niederen seines Volks freimütig die Wahrheit sagte, und deshalb an heiliger, geweihter Stätte des Tempels erschlagen wurde. Dies ist die letzte Mordtat eines Unschuldigen, die in den heiligen Schriften des Alten Testaments erzählt ist. Das zweite Buch der Chronika nämlich, in welchem sie erzählt wird, war bei den Juden das letzte Buch in der Sammlung ihrer heiligen Schriften. Also, Geliebte, es gibt einen gerechten Gott, welcher Blutschulden rächt. Und zwar dem Geschlecht seiner Zeit droht Jesus die Strafe an für alle diese Blutschulden, von Abel bis auf Zacharias, Barachiä Sohn. Es gibt eben auf Erden eine Gemeinschuld, in die Jeder verstrickt ist, der sich nicht durch Jesum Christum, den Sohn Gottes, recht frei machen lässt von den Stricken und Banden des Mordgeistes und des Lügengeistes. Einer solchen Gemeinschuld gegenüber hilft es den Einzelnen nichts, wenn er sich nur äußerlich, selbstgerecht, scheinheilig lossagt, wie Pilatus, der bei Jesu Verurteilung seine Hände wusch und sprach: „Ich bin unschuldig am Blut dieses Gerechten.“ Innerlich war er ja doch verstrickt in die Gemeinschuld des jüdischen Volks, indem er sich in seinem Tun und Lassen durch Rücksichten gegen Hohe, Gleichgestellte, Niedere, nur nicht durch die Stimme göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit leiten ließ. O, wie schrecklich hat das ganze jüdische Volk die Drohung, welche Jesus in unserem heutigen Text ausspricht, bestätigt, indem es bei Jesu Verurteilung ausrief: „Kreuzige, kreuzige ihn, sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“

Weiter sagt der Herr den Mördern seiner Wahrheitszeugen: „Euer Haus soll euch wüste gelassen werden.“ Wo die Wahrheitszeugen Jesu verfolgt werden, da wird alles öde, wüst und leer. Wie eindringlich haben auch wir es schon erfahren, dass ein Geschlecht, welches sich gegen die Wahrheit der wahrhaftigen Zeugen Jesu Christi verschließt, in allen Beziehungen herunter kommt, wie es verarmt, verwildert und elend wird.

Und endlich sagt der Herr: „Ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis ihr sprecht: Hosianna dem, der da kommt im Namen des Herrn!“ Ja, Israel hat seinen Heiligen nicht mehr gesehen, nachdem es ihn verworfen hatte. Es half dem Volk im Großen und Ganzen nichts, dass es beim Einzug Jesu in Jerusalem ihm sein Hosianna entgegenjubelte, so dass die Pharisäer klagen mussten: „Alle Welt läuft ihm nach.“ Hat es doch den König der Wahrheit verworfen, und bis auf den heutigen Tag hängt diesem Volk, wie der Apostel Paulus sagt, die Decke vor den Augen.

Aber merkwürdiger Weise lauten die letzten Worte Jesu doch auch wieder so, als ob der Schimmer einer Gnadenverheißung, der Sonnenstrahl einer Hoffnung auf endliche Bekehrung und Errettung, wenigstens eines Restes von diesem Volke, darin eingeschlossen wäre. Und wir wissen ja auch sonst aus der Heiligen Schrift, dass mit der Gerichtsankündigung manchmal eine Gnadenverheißung verbunden ist.

Geliebte, es wird auch bei uns nicht besser, es kann bei uns nicht wahrhaft gut stehen, bis wir der Wahrheit die Ehre geben, bis wir dem Herrn Jesu unser „Hosianna“ aus aufrichtigem Herzen und mit reinen Lippen zurufen, bis Jesus Christus für uns der König der Wahrheit ist, und alle Zungen bekennen, dass Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters. Amen.

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