Kunel, Christian Klaus - In schwerer Zeit - Am VI. Sonntag nach Trinitatis.

Kunel, Christian Klaus - In schwerer Zeit - Am VI. Sonntag nach Trinitatis.

(Kirchweihfest bei St. Jacob.)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesu Christo! Amen.

Text: Ps. 122.

Ich freue mich des, das mir geredet ist, dass wir werden ins Haus des Herrn gehen; und dass unsere Füße werden stehen in deinen Toren, Jerusalem. Jerusalem ist gebaut, dass es eine Stadt sei, da man zusammen kommen soll, da die Stämme hinauf gehen sollen, nämlich die Stämme des Herrn, zu predigen dem Volk Israel, zu danken dem Namen des Herrn. Denn daselbst sitzen die Stühle zum Gericht, die Stühle des Hauses Davids. Wünscht Jerusalem Glück: Es müsse wohl gehen denen, die dich lieben. Es müsse Friede sein inwendig in deinen Mauern, und Glück in deinen Palästen. Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen. Um des Hauses willen des Herrn, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen.

1.

Geliebte Gemeinde! Wir feiern heute unser Kirchweihfest, ein Dank- und Freudenfest. Aber ist jetzt Zeit zu Freudenfesten? Ach, wir feiern ja unser Kirchweihfest, wie eine Familie ihr Weihnachtsfest feiern würde, wenn der Vater oder die Mutter oder sonst ein teures Glied schmachtend auf dem Krankenlager läge, und sie mit dem Gedanken an den schmerzlichsten Verlust sich vertraut machen müsste. Eine peinigende Unruhe, ein geheimes Bangen, das sich nicht überwältigen, nicht abschütteln lässt, hält alle Herzen gefangen und umgarnt. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel niederzuckt, so sind wir plötzlich und unerwartet in einen Krieg verflochten worden, und in welch einen Krieg! Wenn Gott seine Gnade und seine Barmherzigkeit auch über all unser Bitten und Verstehen an uns groß macht, so werden die Folgen und Verluste dieses Krieges doch immer noch schwer und traurig genug sein.

Und wir haben von den Schmerzen, von den Opfern, die jeder Krieg im Gefolge hat, bereits etwas kosten müssen, und näher und näher tritt uns der furchtbare Ernst unserer Lage. Es war lebhaft auf unseren Straßen in diesen letzten Tagen. Aber es waren nicht fröhliche Festzüge, die durch unsere Tore kamen, wie wir es sonst so manchmal erlebten. Es war die kräftige männliche Jugend unseres Volkes, die zu den Waffen, zu den Fahnen gerufen wurde, um dem Landesfeind sich entgegen zu werfen, um Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, und vor seiner Gier uns, unser Land, unsere Städte, unsere Häuser, unser Hab und Gut und die Eigentümlichkeit unseres Volkes zu schützen.

Sie gehen getrost und mutig an ihren schweren Beruf, sie brennen vor Begierde und Begeisterung, uns endlich einmal Ruhe zu verschaffen vor den Plänen eines ehrgeizigen Tyrannen und seines wankelmütigen, reizbaren Volkes. Aber wir konnten der Abschiedstränen nicht vergessen, die sie eben vom Auge getrocknet hatten, und die um sie geweint wurden und noch geweint werden. Wie stille, wie traurig wird es in manchem Hause sein, wo noch vor Kurzem Freude und Glück wohnte! Wie manches Auge wird sich mit Tränen netzen, wie manche Hände werden sich still zum Gebet falten, wenn man des Sohnes, des Bruders, des Gatten, des Bräutigams gedenkt, der draußen die Lasten und die Gefahren des Krieges teilt!

Und mit welcher beklommenen Erwartung blicken wir den nächsten Stunden entgegen! Welche Nachrichten werden und können sie uns bringen! Schon stehen zwei große, gewaltige Heere diesseits und jenseits unserer Landesgrenzen einander gegenüber, und während wir hier im Haus des Herrn versammelt sind, kann die blutige Kampfesarbeit schon begonnen haben.

Aber nicht allein das ist es, was die Herzen bewegt. Wie trüb gestalten sich angesichts des Krieges unsere Verhältnisse auch bereits in der nächsten Nähe! Die Geschäfte stocken, manche hören ganz auf. Bei der ungewissen Aussicht in die Zukunft wird Mut und Vertrauen verloren. So Mancher, der noch vor Kurzem ein schönes Geschäft und Arbeit die Fülle hatte, ist ohne Arbeit, mit Schmerzen musste er einen Arbeiter nach dem andern entlassen, und jetzt kann er müßig die Hände in den Schoß legen. Wie Mancher, der noch vor Kurzem ein schönes Auskommen hatte, muss nun fürchten, dass bald alle seine Mittel erschöpft sein werden, dass ihm bald das Nötigste für sich und die Seinen fehlen werde. O, da mag sich schon mancher schwere Seufzer dem Herzen entrungen haben! Da mag schon manchmal ängstlich gefragt worden sein: Was soll nun werden!

Und unter solchen Umständen wollen wir ein Freudenfest feiern? Ja, ein Freudenfest, wie es hier im Haus und unter dem Auge des Herrn gefeiert wird, ein Freudenfest, zu dem der volle Ernst gehört. Und ich meine, zu einem solchen Fest ist gerade diese gegenwärtige Zeit ganz besonders angetan. Ernste Zeiten stimmen ernst; ernste Zeiten sind der Pflug, der das Herz auflockert und empfänglich macht für den Samen des göttlichen Wortes. Das haben wir ja schon einmal erfahren. Als wir vor vier Jahren Krieg hatten, wie voll waren damals unsere Kirchen! Damals war es an jedem Sonntag, als ob wir Kirchweihfest hätten. Und man brauchte nicht zu fürchten, dass das Wort keinen Zugang zu dem Herzen finden werde. Es waren hungrige, heilsbegierige Hörer, die kamen, Hörer, denen das Evangelium der Gnade ein Himmelsmanna war. Und soll es jetzt nun anders sein? Soll sich nicht auch jetzt unser Volk mit allem Ernst und mit allem Eifer zu dem Herrn wenden? Wo bleibt uns denn noch eine sichere Zuflucht als bei ihm? Seht, da hebt unser Freudenfest schon an.

Durch die Not will der Herr uns näher und näher zu sich ziehen. Und wer zu ihm kommt, der kommt nicht vergebens. Ihr wisst ja, wie er zu trösten und zu erquicken weiß. Reichlicher noch als er unsere Fluren mit seinem Erntesegen geschmückt hat, will er unser Herz erfrischen und beleben mit dem milden Tau und dem warmen Sonnenschein seiner Gnade, will er uns ausrüsten mit Stärke von oben, dass weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes uns beugen und erschüttern kann. Und diese reichen himmlischen Güter, mit denen der Herr seine Gemeinde segnet, sollen nun heute am Kirchweihfeste unsere Freude und unseres Herzens brünstiges Verlangen sein. Und so lasst uns denn sehen, was unsere Kirchweihfreude und unsere Kirchweihfestwünsche sein sollen. Dies wollen wir tun nach Anleitung unseres Textes und unter dem Segen unseres Gottes, um den wir, ehe wir weiter gehen, flehen in einem andächtigen Vaterunser.

Was unsere Kirchweihfestfreude sein soll, darauf, meine Lieben, wollen wir zuerst den Blick lenken. „Ich freue mich des, das mir geredet,“ beginnt der Psalmist in unserem Text, ist, „dass wir ins Haus des Herrn gehen werden, und dass unsere Füße stehen werden in deinen Toren, Jerusalem. Jerusalem ist gebaut, dass es eine Stadt sei, da man zusammen kommen soll, da die Stämme hinauf gehen sollen, nämlich die Stämme des Herrn.“ Drei hohe Feste feierte das Volk Israel im Jahre, und wenigstens an einem derselben sollte jeder Israelit hinauf gehen nach Jerusalem, um im Tempel anzubeten und sein Opfer zu bringen. Und eines solchen Festzuges gedenkt der Psalmist. Er freut sich von Herzen auf den Tag, wo er wieder Jerusalem betreten wird, wo er in den Toren Jerusalems stehen wird, wo er die Stämme des Volks in langen Zügen und unter hellen Lobliedern wird durch die Tore wallen sehen, und er mit ihnen hinauf ziehen wird in den Tempel. Diese fröhlichen Festzüge zum Tempel des Herrn sind die schönsten Erinnerungen aus seinem Leben, die er kennt, daran zehrt er und. erquickt er sich daheim in der Stille seines Hauses, und innig sehnt er die Zeit herbei, wo er wieder wird daran Teil nehmen können.

Und was ist es nun, was ihm diese Festzüge so lieblich macht? Die Stämme des Herrn, sagt er, gehen hinauf, zu predigen dem Volk Israel, oder wie es eigentlich im Grundtext heißt, zum Zeugnis für Israel, und zu danken dem Namen des Herrn. Wenn die Stämme hinauf zogen nach Jerusalem und sich versammelten im Tempel vor dem Herrn, so war das dem Volk ein Zeugnis, dass es das erwählte Volk des Herrn ist, mit dem der Herr den Bund des Friedens geschlossen hat, dem er seinen Willen kund getan hat, und das er voll Gnade führen und leiten will wie ein Hirte seine Herde. Und auf dieses Zeugnis, mit dem der Herr zu seinem Volk sich bekennt, antwortete das Volk mit Lobliedern und Dankopfern, und bekannte sich damit zu seinem Gott. Und diese Gemeinschaft Gottes mit seinem Volke und des Volkes mit seinem Gott, die im Tempel zu Jerusalem so lieblich zur Erscheinung kam, war es, was den Psalmisten voll heiliger Sehnsucht an diese Stätte zog, und was ihn in einer anderen Stelle zu dem Ausruf bewegt: „Herr, ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser, denn sonst tausend.“

„Daselbst,“ fährt er dann fort in unserem Text, „daselbst sitzen die Stühle zum Gericht, die Stühle des Hauses Davids.“ Wenn die Stämme hinauf zogen nach Jerusalem, wurden zugleich die Streitigkeiten des Volkes unter sich geschlichtet in den Hallen des Tempels nach dem Wort des Herrn. Und so waren die Feste, die das Volk hinauf riefen in das Heiligtum und vor das Angesicht des Herrn, zugleich Friedensfeste für das ganze Volk. Den Frieden brachten sie von Jerusalem mit hinab in ihre Städte, in ihre Gemeinden und in ihre Familien.

Lieblich und erquickend waren dem Psalmisten die Festzüge hinauf nach Jerusalem. Es war wohl manchem Israeliten nicht möglich, auch nur einmal des Jahres an einem solchen Festzug Teil zu nehmen. Wie anders ist es nun unter uns, meine Lieben. Wir haben das Haus und den Tempel des Herrn nicht in weiter Ferne, wir haben es in unserer Mitte. Wir können die Freude dieses Festzuges täglich, oder wenn das nicht geht, wenigstens einmal die Woche mit der Gemeinde, mit dem Volk des Herrn genießen. Wenn am Sonntag die Kirchenglocken klingen, und die Christen, die mit dem Werktagsgewand auch für einen Tag die Werktagssorgen und die Werktagsmühen abgelegt haben, kommen, festlich geschmückt, Kinder mit den Eltern, Junge mit den Alten, hierher ins Haus des Herrn gezogen, ist das nicht auch ein fröhlicher und lieblicher Festzug? Ist es diesen Pilgern nicht vom Angesicht und aus den Augen zu lesen: „Heut ist der Sabbat des Herrn, und der Herr will Ruhe geben seinem Volk?“

Und wenn sie hierher kommen, ist nicht dieses Haus selbst ihnen ein Zeugnis, dass der Herr sich zu ihnen bekennt als zu seinem Volk und zu seiner Hausgenossenschaft, dass er sie auf seinem Herzen mit einer Liebe trägt, wie auch eine Mutter ihr Kind nicht auf dem Herzen tragen kann. Wenn sie dort auf den Altar blicken, so fällt ihr Auge auf das Bild des gekreuzigten Heilandes. Was sollen ihnen diese Schmerzenszüge des Sterbenden verkündigen? Was anders als das teure Evangelium: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass Alle, die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm würden die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Was will ihnen sein blasser, bleicher Mund sagen? Was anders als das Trostwort und den Liebesgruß: „Siehe, o Seele, ich habe dich je und je geliebt, und habe dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarmt über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“

Dort steht der Taufstein. So oft du, mein Lieber, auf ihn schaust, will er dir sagen: „Auch du, o Christ, bist in Christi Tod getauft, auch dich hat Christus besprengt mit seinem Blute und dich damit rein gemacht von aller Sünde, auch du bist wiedergeboren zu einem Kinde Gottes und zu einem Reichsgenossen des Herrn, und sollst nun, gleichwie Christus ist auferweckt von den Toten, mit ihm in einem neuen Leben wandeln.“

Und nun noch einen Blick auf den Altar dort! Ihr wisst, was ich meine; denn ihr seid schon oft an diesen Altar getreten als begnadigte Gäste des Herrn. Dort will der Herr die Seinen, die ihre Sünden bekannt und bereut haben, und von Neuem der Vergebung derselben versichert sind, speisen und tränken mit der rechten Speise und mit dem rechten Trank, mit seinem Leib und seinem Blut. Denn er will ganz eins werden mit den Seinen, er will sie heiligen nach Leib und Seele und will das Leben ihres Lebens sein. Dort am Altar will der Herr seine Jünger vollbereiten, will ihnen das rechte hochzeitliche Kleid anlegen, damit sie einst mit ihm als seine Gäste an seinem großen Abendmahl im Himmel sitzen können.

Ja, meine Lieben, in dieser Kirche predigt Alles, und wohin wir unser Auge werfen, überall tritt uns ein Zeugnis von der Liebe des Herrn zu uns und von unserer Gemeinschaft mit ihm entgegen. Und das Wort, das hier verkündigt wird, es geht immer von der erbarmenden Liebe des Herrn aus, und kehrt immer wieder dahin zurück. Die Liebe des Herrn ist die Quelle, aus der dieses Wort geboren wird, ist die Seele, die es durchatmet. Alles, was hier gepredigt wird, ist immer ein Wiederklang des Wortes: „Tröstet, tröstet mein Volk; redet freundlich mit Jerusalem, und prediget ihr, dass ihre Ritterschaft ein Ende hat, denn ihre Missetat ist vergeben;“ ist immer ein Wiederklang jenes Hirtenrufs aus dem Herzen des Herrn: „Kommt her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“

„Tröstet, tröstet mein Volk!“ das ist des Herrn Stimme, wenn er sein Volk in sein Haus rufen lässt. Und was er will, das vermag er auch. Wer will sie Alle zählen, denen hier der Herr durch das Zeugnis von seiner Liebe das Herz mit einem Trost und mit einer Freudigkeit erfüllt hat, von der sie früher gar keine Ahnung hatten? Mit großen Lasten auf dem Herzen kamen sie hierher, die Liebeshand des Herrn nahm sie hinweg. Sie fühlten sich einsam und verlassen, aber sie durften es erfahren, dass sie einen Freund haben, der sie nimmer lässt, der ihnen treu bleibt und ihnen hilft und sie aufrecht erhält im Leben und im Leiden und im Sterben. Sie mussten voll Scham auf sich selber schauen; aber sie wurden es selig inne, dass der Herr das zerstoßene Rohr nicht gar zerbricht und das glimmende Docht nicht gar auslöscht. Sie blickten voll Bangen auf die Bahn, die sie noch in der Welt zu durchmessen haben, aber sie konnten fröhlich hinaus gehen mit dem Gedanken: „Warum sollt' ich mich denn grämen? Hab' ich doch Christum noch; wer will mir den nehmen?“ Drohende Wetterwolken erheben sich wieder. Sollen wir verzagen? Zagen kann nur der, der den Herrn nicht kennt, nicht an den Herrn glaubt. Halte dich an ihn, er wird dich aufrecht erhalten, wenn Alles brechen und fallen will.

Der Herr gibt hier Zeugnis seinem Volk, er bekennt sich zu ihm und sein Volk bekennt sich zu ihm. Das tut die Gemeinde, indem sie in ihren Liedern und Gebeten ihr Ja und Amen zu den Gnadenverheißungen des Herrn spricht und fröhlichen und ergebenen Herzens eintritt in den Bund mit dem Herrn. Und wie schön ist das! Wie erhebend ist es, wenn die Gemeinde mit dankbarem Herzen Gott lobpreist für alle seine Wohltaten im Leiblichen und Geistlichen, für Speise und Trank, für Ruhe und Wohlsein, für Lehre und Unterweisung, und wenn sie dann kindlich und ergeben sich seinem Schutz und Schirm übergibt, und von ihm Alles begehrt und erwartet, was nötig ist zu einem gedeihlichen und gottseligen Leben und zu einem fröhlichen Abscheiden von dieser Welt! O, wer sollte von diesem Bitt- und Lobopfer ferne bleiben können! Wen sollte es nicht drängen, auch mit ein Priester zu sein bei diesem Dienst des Herrn! Wo ist Einer, der nicht zu danken hätte, und wo ist Einer, der nicht zu bitten hätte!

„Und daselbst sitzen die Stühle zum Gericht, die Stühle des Hauses Davids,“ sagt unser Text. In den Hallen des Tempels zu Jerusalem wurde auch Gericht gehalten. Auch hier im Haus des Herrn wird gerichtet, meine Lieben; ja, hier ist die Hauptgerichtsstätte; hier wird mehr und schärfer gerichtet als irgendwo; aber hier wird gerichtet zum Frieden. Wie Manchen, der sich von Niemand in der Welt weisen lassen wollte, hat hier das Wort des Herrn wie ein Schwert getroffen und ist ihm durch Mark und Bein gegangen, dass er innerlich seufzen musste: „Mein Gott, was habe ich getan, und was soll aus mir werden!“ Wie Mancher, der in geheimen Sünden verstrickt war, ist hier plötzlich ausgerüttelt und erschüttert worden, dass ihm Zittern und Entsetzen über sich selbst ankam! Wie mancher ungerechten Handlung, die schon geplant und vielleicht schon im Gange war, mag hier ein „Halt“ zugerufen worden sein! Wie manches steinharte Herz voll unversöhnlichen, leidenschaftlichen Hasses mag hier der Hammer des göttlichen Wortes zerspalten haben! Aber was brauchen wir Einzelnes zu erwähnen! Wer von uns ist denn je hierhergekommen, und hat das Wort des Herrn auf sein Herz wirken lassen, ohne dass er nicht bald da, bald dort beschämt wurde und sich sagen musste: „Das trifft dich auch; da fehlt's bei dir auch; da muss es auch bei dir anders werden, und zwar sofort.“ Ja, hier wird gerichtet; aber es ist die Liebe des Herrn, die Gericht hält, und ihr Gericht ist ein Gericht zum Frieden. Jeder, der hier voll Beschämung und Betrübnis seine Sünde erkennen muss, kann auch sofort die Absolution gewinnen. Wer so aufrichtig wie der Zöllner spricht: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ der erhält auch in seinem Herzen die gnädige Versicherung: „Mein Sohn, meine Tochter, deine Sünden sind dir vergeben.“ Und wer aufrichtig danach verlangt, der Sünde abzusterben und der Gerechtigkeit zu leben, wem es voller, wahrer Ernst ist, zu wachsen an dem inwendigen Menschen, dem gewährt der Herr, was er begehrt. Hier wird gerichtet, aber zum Frieden und zum Segen.

Aber nun von der Kirchweihfestfreude! Darauf scheinen wir vergessen zu haben. Nein, davon habe ich eben geredet, meine Lieben. Wir haben gesehen, was der Herr uns hier in seinem Hause will finden und erfahren lassen. Und wer nun gerne hierhergekommen ist, und das gefunden und erfahren hat, wer Gott danken muss für den reichen Trost, den er ihm hier durch sein Wort beschert hat, für die Erhörung so mancher Bitte, die er Gott hier ans Herz gelegt hat, für die Förderung in seinem geistlichen Leben, die hier die rechte Nahrung fand, der ist heute an diesem Festtag unserer Gemeinde sicherlich fröhlich und freudig gestimmt. Wer aber im Haus des Herrn nichts gesucht und darum auch nichts gefunden hat, für den gibt's gar kein Kirchweihfest. Oder wenn der Eine und der Andere nur am Kirchweihfest zur Kirche kommt, so heißen wir ihn von Herzen willkommen und möchten ihn gerne für immer an das Haus des Herrn fesseln, aber von einer Kirchweihfestfreude könnte bei ihm nicht die Rede sein, die müsste erst noch kommen. Mit einem Wort: die Kirchweihfestfreude kann ich euch nicht ins Herz hinein predigen, die muss schon drinnen sein. Sie kann weiter nichts sein, als die Freude an dem Segen, den der Herr sie in seinem Hause finden ließ. Und wohl Allen, die diese Freude und diesen Segen haben!

2.

Und nun, meine Lieben, noch ein paar Worte davon, welches unsere Kirchweihfestwünsche sein sollen. „Wünscht Jerusalem Glück,“ fährt der Psalmist in unserem Texte fort. Das ist ein einfaches, aber gar liebliches Wort, das es so recht warm ausspricht, wie lieb ihm Jerusalem und der Tempel des Herrn ist. Und dieses Wort nehmen wir ihm nun aus dem Munde für dieses unser Gotteshaus. Wünscht ihm Glück! Über sechshundert Jahre steht dieses Haus des Herrn. Geschlechter um Geschlechter sind hier ein- und ausgegangen. Unsere Väter waren einst hier heimisch, wie wir uns jetzt hier heimisch fühlen. Was dem Kinde das Vaterhaus ist, das und noch weit mehr muss uns dieses Haus sein, wo unsere Väter einst ihre reichste Erquickung suchten und fanden. Wünscht ihm Glück, diesem Haus des Herrn! Möge dieses Haus, wenn schon lange seine Glocken uns zum letzten Mal mit ihrem Klange auf dem Weg zum Grabe begrüßt haben, unsere Kinder und Enkel und späte Nachkommen in seinen Mauern versammeln, und möge es, wenn sie Zeugnis empfangen von dem Herrn und seiner Liebe, auch eine Erinnerung sein an uns und unseren Glauben, die wir jetzt in diesem Hause ein- und ausgehen.

Wünscht Jerusalem Glück! Jerusalems Mauern und die Mauern des Tempels stehen nicht mehr; sie sind gestürzt, weil das Volk auf den Herrn nicht hören wollte und seinen Heiland ans Kreuz schlug. Nun wisst ihr wohl, was es bedeutet, wenn wir dem Psalmisten das Wort nachsprechen: „Wünscht Glück diesem Haus des Herrn, wünscht Glück dieser Gemeinde!“ Gott gebe, dass, wenn unser Mund schon lange verstummt ist, hier noch lange das reine Evangelium Jesu Christi gepredigt werde, und dass hier vor dem Herrn eine Gemeinde sich sammle, der das Wort vom Kreuz, wenn es auch Unzähligen zum Ärgernis und zur Torheit wird, göttliche Kraft und göttliche Weisheit ist. Wünschen wir dies aber, dann heißt dies zugleich für uns: „Nun tu auch du das Deine. Rufen die Kirchenglocken, bleibe nicht zurück, sondern komme! Und halte die Deinen nicht ab durch dein Wort und dein Beispiel, sondern weise sie zu dem Herrn mit allem Ernst!“ Ferne von dem Herrn ist doch nichts als Elend und Leid; bei ihm aber ist Alles Friede und Freude.

„Wünscht Jerusalem Glück,“ spricht der Psalmist, und fährt dann fort: „Es müsse wohl gehen denen, die dich lieben.“ Und dies Wort wenden wir nun auch auf uns an. Gesegnet sollen und werden sein Alle, die den Herrn und sein Haus lieb haben; ja gesegnet sollen Alle sein, die je in diesem Haus ein und ausgehen. Gesegnet sollen sein die Hörer, die, mögen sie Einheimische oder Fremde sein, je in diesem Haus erscheinen! Gesegnet sollen sein all die Kinder, die hier durch die heilige Taufe dem Herrn als sein Eigentum in die Arme gelegt werden! Sie sollen aufwachsen zur Freude der Eltern, zum Wohlgefallen Gottes und zum Segen vieler Menschen. Gesegnet sollen sein die Knaben und Mädchen, die hier ihren Taufbund erneuern! Gott gebe, dass sie alle ein gutes Bekenntnis ablegen, im Glauben beharren, und das Ende ihres Glaubens davon bringen, nämlich der Seelen Seligkeit. Gesegnet sollen sein alle Brautpaare, die hier ihren Bund der Liebe und der Treue für das Leben schließen! In ihrem Haus soll Christus wohnen mit seinem Wort, mit seiner Gnade und mit seinem Geiste. Es sollen gesegnet sein alle Beichtenden und Abendmahlsgäste! Der Herr erquicke ihre Seele und stärke sie aus der Fülle seiner Kraft!

„Es müsse Friede sein,“ fährt der Psalmist fort, „inwendig in deinen Mauern, und Glück in deinen Palästen.“ Ja, Friede in diesem Hause, Gottes Friede mit Allen, die hierher kommen! Und Friede in unserer Stadt, Friede in unserem Lande! O, dass der Herr in seiner Gnade bald wieder den Lärm und den Schrecken des Krieges von uns wende, und uns wieder beglücke mit neuem Frieden! Und Friede in allen Häusern, Friede zwischen Gatten und Gatten, Friede zwischen Eltern und Kindern, und Kindern und Eltern, Friede zwischen Verwandten und Freunden! Wir können das nicht schaffen, aber der Herr will das schaffen und kann das schaffen. Sein Zepter heißt Friede.

„Um meiner Brüder und Freunde willen,“ schließt der Psalmist, „will ich dir Frieden wünschen. Um des Hauses willen des Herrn, unseres Gottes will ich dein Bestes suchen.“ Meine Lieben, Brüder sind wir, die wir Alle in einem Hause daheim sind, in dem Haus des Herrn, und die wir Alle das Angesicht und das Herz eines Vaters suchen, unseres Vaters im Himmel. Und darum müssen wir uns Friede wünschen und gegenseitig unser Bestes suchen. Liebe ist das Band zwischen dem Herrn und seiner Gemeinde, und Liebe ist das Leben in seiner Gemeinde. Was wäre das für eine Christengemeinde, deren Glieder einander gleichgültig zur Seite stehen oder gar wider einander sind! Liebe zu üben, dazu gibt es immer Gelegenheit, dazu wird aber ganz besonders diese gegenwärtige Zeit Gelegenheit bieten. Da wird es Arbeiter geben, die keine Arbeit und damit auch kein Brot haben. Da gibt es Frauen, deren Männer in den Krieg ziehen mussten, und die nun allein für sich und ihre Kinder sorgen sollen; da wird es Verwundete geben, die der Pflege und der herzlichen Teilnahme bedürftig sind. Nun gilt es zu beweisen, dass wir ein Volk von Brüdern sind. „Alle für Einen, und Einer für Alle“: so heißt es draußen im Felde, so muss es auch daheim bei uns heißen. Des Feindes kann man nur Herr werden durch treues Zusammenhalten, und auch der Not kann man nur Herr werden durch treues Zusammenhalten. O, werdet nicht müde, barmherzige Liebe zu üben.

In trüber Zeit feiern wir unser Kirchweihfest. Gottes Liebe ist unsere Zuflucht, wo wir sicher geborgen sind. Wenn auch das Schwerste über uns kommt, denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Wenn auch dieses Haus in Schutt und Asche sinken würde: unsern Glauben kann man uns nicht aus dem Herzen reißen, Gottes Liebe und unser Erbe im Himmel kann uns Niemand nehmen. Wenn es zum Sterben gehen soll: ist Christus unser Leben, dann ist Sterben unser Gewinn. Mit Gott: das ist unsere Stärke, unsere Hoffnung, unser Sieg.

Wie auch die Hölle braust,
Gott, deine starke Faust
Stürzt das Gebäude der Lüge.
Führ uns, Herr Zebaoth,
Führ uns, dreiein'ger Gott,
Führ uns zum Kampf und zum Siege.
Führ uns! Fall unser Los
Auch in des Grabes Schoß,
Lob doch und Preis deinem Namen!
Reich, Kraft und Herrlichkeit
Sind dein in Ewigkeit.
Hör uns, Allmächtiger! Amen.

Amen.

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