Kunel, Christian Klaus - In schwerer Zeit - Am V. Sonntag nach Trinitatis.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesu Christo! Amen.
Text: Luc. 19, 42.
Wenn du es wüsstest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient.
Geliebte Gemeinde! Uns allen ist das Herz aufs tiefste bewegt. In welche ernste, sorgenschwere Lage sind wir plötzlich und ungeahnt gekommen! Wohl hell und freundlich schaut Gottes Sonne vom Himmel auf uns nieder, und unsere Fluren prangen im reichen Erntesegen; aber es ist, als ob wir dafür kein Auge und kein Herz mehr hätten. Ein Gedanke ist es, der immer wieder schneidend und quälend durch die Seele geht, mit dem das Herz sich immer wieder abarbeiten und abkämpfen muss. Nach wenigen beunruhigenden Nachrichten, die anfangs von Vielen kaum beachtet wurden, ging plötzlich vorgestern von Mund zu Mund die Kunde: „der Krieg ist erklärt,“ und Jedem, der dies Wort hörte oder sprach, ward dabei das Herz zusammen gepresst, als ob eine Zentnerlast darauf gelegt würde. Wir wissen es ja, was das Wort „Krieg“ bedeutet. Wir haben erst vor vier Jahren all die Aufregung und Unruhe, all die Schrecken kosten müssen, die er in seinem Gefolge hat. Noch viele Wunden bluten, die er geschlagen hat. Noch Viele leiden unter den Verlusten und Opfern, die er gekostet hat. Und nun stehen wir wieder an der Pforte eines Krieges. Und welches Krieges! In drohender Eile zieht er wie ein wildes Wetter, wie ein Orkan heran. Schon ziehen sich die Feinde an unseren Grenzen zusammen, um über unser deutsches Land herzustürzen. Wir wissen nicht, was kommen wird, und all unser Sinnen und Berechnen ist bedeutungslos. Aber das wissen wir, dass dieser Krieg auch im besten Falle viele Opfer an Menschenleben kosten wird, dass er viele Bedrängnisse mit sich bringen wird. Und welche Ausdehnung kann dieser Krieg gewinnen! Er kann zum Brand werden, der, ganz Europa in Flammen setzt. Durch diesen Krieg kann die. ganze Zukunft unseres Volkes in Frage gestellt werden. Wir stehen an einem der ernstesten und verhängnisvollsten Wendepunkte, die je für unser Volk gekommen sind.
Was sollen wir nun tun? Nun das wisst ihr, dass mit Sorgen und mit Grämen nichts getan ist. Damit lässt sich nichts ändern, damit kann man nur sich selbst quälen, kann man nur sich und Andern alle Freudigkeit und allen Mut aus dem Herzen reißen. Gott sitzt im Regimente. Was auch unternommen und begonnen werden mag, zuletzt muss doch sein Wille geschehen, müssen doch seine Gedanken und seine Pläne ins Werk gesetzt werden. Und das sind seine Gedanken, das ist seine Art, dass er zuletzt auch das Schlimmste zu gutem Ende führt. „Ihr gedachtet es böse zu machen,“ spricht Joseph, „aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Und der Apostel spricht: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.“ Darum zu ihm den Blick und das Herz empor! zu ihm, der Alles in seiner Hand hat, der den drohenden Wogen ihr Ziel setzt, der Stärke gibt den Unvermögenden und durch Schwache Großes wirkt.
Aber merkt wohl darauf, meine Lieben: Denen sollen alle Dinge zum Besten dienen, denen, die Gott lieben; d. h. denen, die in Gott ihr höchstes Gut, ihren bleibenden Reichtum gefunden haben, und immer bereit und fertig sind, dem Gnadenrat und dem Wohlgefallen ihres Gottes zu folgen. Damit hat man die Stellung gefunden, die sicheren Grund bietet im Glück und im Unglück, im Leben und im Sterben. Und diese Stellung zu gewinnen, in dieser Stellung immer mehr gefördert und befestigt zu werden, dazu will uns Gott anreizen durch Glück und Freude, durch das milde Wort seiner Liebe, dazu will er uns aber ganz besonders auffordern durch den Ernst schwerer Ereignisse. Nun, meine Lieben, Schweres steht uns bevor, furchtbar ernst tritt uns unsere Zeit entgegen, so lasst uns denn auch auf den rechten Halt uns besinnen, den rechten Halt suchen, lasst uns im Blick auf unseren Text zu dieser unserer Zeit bedenken, was zu unserem Frieden dient. Ehe wir aber weiter gehen, lasst uns zuvor noch Herzen und Hände erheben und um den Segen des Herrn flehen in einem andächtigen Vaterunser.
„Wenn du es wüsstest, so würdest du auch zu dieser deiner Zeit bedenken, was zu deinem Frieden dient.“ Ihr wisst, meine Lieben, wann der Herr dieses einschneidende und erschütternde Wort gesprochen hat. Zum letzten Mal zog er nach Jerusalem ein, um mit Hinopferung seines Lebens und Vergießung seines Blutes sein Werk der Erlösung zu vollenden. Vor ihm lag die Stadt, so schön, so herrlich, wie es je eine gegeben hat. Stolz erhoben sich ihre Mauern und Zinnen, ihre Häuser und Paläste, und darüber thronte der Tempel Jehovas. Welches bewegte Leben in dieser Stadt! Welche blendenden Hoffnungen auf eine schöne, goldene Zukunft waren es, die die Einzelnen belebten! Und über ihr ruhte schon das Gericht Gottes. All diese Herrlichkeit war schon dem Untergang geweiht.
Nicht vierzig Jahre vergingen und welch ein anderes Bild bot diese Stadt! Sie war von Feinden umringt, die um sie eine Wagenburg geschlagen hatten. Sie ward an allen Orten bedrängt und geängstet, und in der Stadt wüteten Hunger, Parteiung und Aufruhr, bis zuletzt die Feinde ihre Mauern erstiegen, und ihre Häuser, ihre Paläste, ihr Tempel in Schutt und Asche sanken. Was von ihren Bewohnern nicht dem Hunger und dem Schwert zum Opfer gefallen war, ward gefangen fortgeführt. Und seitdem ist Israel nie mehr ein in sich abgeschlossenes Volk gewesen, hat nie mehr eine selbständige Regierung gehabt. Als Pilgrime wohnen seine Glieder unter den Völkern, wallen sie durch die Länder, ein redendes Zeugnis von der Wahrhaftigkeit Gottes.
Wie ist es mit dieser Stadt, mit diesem Volk dahin gekommen? Sie wollten zu ihrer Zeit nicht bedenken, was zu ihrem Frieden diente. Gott hatte dieses Volk aus allen Völkern zu seinem Volk sich erwählt, hatte ihm sein Gesetz gegeben, hatte ihm verheißen, dass aus seiner Mitte der Retter der Menschen kommen werde. Es sollte das Volk des Segens für alle Völker sein. Oft hatte es gestrauchelt, oft war es abgewichen von den Rechten und Geboten des Herrn. Aber immer hatte der Herr ihm wieder zurecht geholfen, hatte das gebeugte und gedemütigte Volk wieder erhoben, und seine Füße wieder auf den Weg des Friedens gestellt. Und nun war die Zeit angebrochen, auf die alle frommen Väter voll seliger Freude geblickt hatten. Nun wandelte der Verheißene unter ihnen, in dem alle Gottesverheißungen Ja und Amen sein sollten. Aber sie wollten nicht erkennen, was zu ihrem Frieden diente. Sie wollten nichts wissen von dem Friedefürsten, dem Heiland der Sünder, der die Herzen reinigt und sie mit Gott einigt. Ihn, ihren ewigen König der Gnade, schlugen sie ans Kreuz, und erwählten sich statt seiner Barabbam, den politischen Parteimann, den Mörder. Aber nun war auch Gottes Langmut über sie dahin. Die Gnade hatten sie verworfen, nun wurden auch sie verworfen. Gottes Gerichte brachen über sie herein, zermalmend und zerschmetternd; und noch liegen Gottes Gerichte auf diesem Volk.
Was war es doch, was dieses Volk die Zeit der Gnadenheimsuchung nicht erkennen ließ, es nicht erkennen ließ, was zu seinem Frieden diente? Es war seine fleischliche, verweltlichte Gesinnung. Das Leben wollten sie genießen nach ihrem Gelüsten, und dabei ein großes Weltreich gründen, dem alle Völker der Erde untertan sein müssten. Das war ihr Begehren, das waren ihre Träume. Und eben das war der Weg zu ihrem Verderben; denn Gott straft die abtrünnigen Völker durch ihre eigenen eitlen Pläne, durch ihre eigene fleischliche Klugheit und Weisheit. Berauscht von der Größe, zu der sie sich bestimmt glaubten, die sie erringen wollten, forderten sie Roms Heere wider sich heraus, die Jerusalem zertraten.
O, wenn Israel zu seiner Zeit bedacht hätte, was zu seinem Frieden diente, welch einen ganz anderen Verlauf würde seine Geschichte genommen haben! Welche schwere Tage würden ihm erspart worden sein, und wie ganz anders würde es unter den Völkern da gestanden sein, deren Gastfreundschaft es erflehen musste, ohne doch je mit ihnen befreundet werden zu können. Wie die Aussaat, so ist auch immer die Ernte. Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich klein, ob aus Langmut er noch schonet, bringt mit Schärf' er Alles ein.
Warum weise ich aber heute hin auf die Tränen, die unser Herr über Jerusalem weinte, auf die Verstockung Israels und das Gericht Gottes, das es damit wider sich herausforderte?
Will ich angesichts der schweren Ereignisse, die uns drohen, zu Gericht sitzen über unser Volk? O, ich liebe mein deutsches Volk warm und innig, und ich möchte es gern stark, frei und glücklich sehen, möchte sehen, dass es die herrliche Aufgabe begreift und zu erfüllen sucht, die ihm Gott unter den Völkern gegeben hat. Und eben weil ich mein Volk von Herzen liebe, darum muss ich heute diesen ernsten Ton anschlagen. Es ist eben nötig, dass unserem Volk die Augen wieder dafür aufgetan werden, was die Grundlage für das Wohl und die gedeihliche Entwicklung eines Volkes ist, und auf welchem Wege es der Zerrüttung und dem Verderben entgegen geht. Und das kann uns am besten der Blick auf Israels Geschichte und auf den Untergang Jerusalems zeigen.
Wir stehen an der Pforte eines schweren Krieges. Oberflächlich betrachtet, könnte wohl Jeder von uns sagen: „Wir sind daran nicht schuld. Wir wollen keinen Krieg und wir verwünschen den Ehrgeiz, der ihn uns aufdrängt.“ Aber, meine Lieben, wir müssen einen andern Maßstab anlegen. Hätten wohl einst die Obersten Israels den Fürsten des Lebens zum Tode verurteilen können, wenn sie nicht ein Volk zur Seite gehabt hätten, das ihnen gleich war in verweltlichter Gesinnung, das mit wenigen Worten nach seines Herzens Gelüsten dahin zu bringen war, das „kreuzige, kreuzige ihn“ zu rufen. Darum blieb das Gericht Gottes nicht bei den Obersten stehen, sondern das ganze Volk wurde mit hinein gezogen, weil es mit in gleicher Schuld war.
Es ist allbekannt, dass es heut zu Tage für die Verhältnisse der Völker und der Staaten zu einander kein Recht mehr gibt, dass auf diesem Gebiet nur noch die Gewalt entscheidet. Darum kommen wir auch aus dem Schrecken nicht mehr heraus, und wenn eine Gefahr beseitigt zu sein scheint, ist sofort schon wieder eine andere im Anzug. Wie kommt das? Weil die Völker danach geartet sind; weil auch das freventlichste Beginnen seine Bewunderer und Anbeter findet.
Sehen wir auf unser Volk. Ist unser Volk noch, was es früher war? Nein. Es ist eine große Verwandlung mit ihm vorgegangen. Unser Volk ist zum großen Teil verweltlicht. Auf das Irdische ist das Sinnen und Begehren gerichtet. Recht viel Geld und Gut zu gewinnen und so mühelos und schnell als möglich reich zu werden, das gilt für die größte Kunst und für das höchste Ziel. Diese Richtung prägt sich selbst in unserer Gesetzgebung aus. Dabei strebt man begierig und heißhungrig nach Genuss und Vergnügungen, und selbst die unmündige Jugend glaubt schon zu kurz zu kommen, wenn sie sich nicht Alles erlaubt. Als Unterhaltung kommen dann noch dazu politische Träume, in denen man sich wiegt, Träume von einer unbeschränkten Freiheit des Einzelnen und von einer ungekannten Größe des Volkes. Mit einem Wort: ungebunden, ungeniert will man sein, von dem eigenen Belieben, von der eigenen Willkür soll Alles abhängen.
Habe ich zu viel gesagt? Nun, so schaut nur hinein ins Leben, das wird euch davon noch eine viel bessere Zeichnung geben, als ich es vermag. Wie steht es um Treue und Glauben? Für die Meisten ist das ein leeres, eitles Wort. Es traut Keiner dem Andern mehr, weil eben Keiner dem Andern mehr trauen darf. Wo findet man freundliche gegenseitige Teilnahme? Die Meisten denken nur an sich; wenn nur sie einen Vorteil gewinnen können, Andere mögen darüber zu Grunde gehen. Ja, Manche spekulieren geradezu auf das Unglück Anderer, um auf ihrem Ruin ihr eigenes Glück zu erbauen. Wird nicht der schamloseste Wucher ganz offen geübt; werden nicht ganze Scharen Hilfloser und Bedrängter dadurch völlig zu Grunde gerichtet? Wie steht es mit der öffentlichen Sittlichkeit? Nun, es werden Sünden und Laster, die man früher gar nicht mit Namen nennen mochte, heutzutage ungescheut und öffentlich geübt, als ob das gar nichts auf sich habe, als ob das eigentlich so sein müsste. Besonders ist es die Jugend, die alle Schranken durchbricht und alle Fesseln von sich wirst. O, das Gewissen unseres Volkes wird weiter und weiter und immer mehr tritt eine heidnische Lebensweise an die Stelle christlicher Zucht und Ordnung.
Und die Quelle, aus der Alles das kommt? Das ist der immer mehr überhand nehmende Unglaube. Wir haben Viele unter uns, die an ihrem Konfirmationstag oder an ihrem Hochzeitstag das letzte Mal in der Kirche waren. Es gibt viele Häuser, in denen man nichts mehr weiß von Gebet und Gottes Wort, Häuser, in denen Gottes Name nur noch in einem Fluch oder in einem Schwur genannt wird. Man braucht keinen Gott und Heiland mehr, man ist sich selbst genug. Wenn Einer es an den Tag gibt, dass er noch fest hält am Glauben der Väter, so kann er gar leicht dem Spott verfallen; wenn aber Einer öffentlich das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele leugnet, wenn er den Menschen, nach Gottes Bild geschaffen, zum Tier herabzuwürdigen sucht, so wird sich nur selten Jemand finden, der ihm zu widersprechen wagt; er ist eben ein Mann, der auf der Höhe der modernen Zeitbildung steht. Seit der Gründung der christlichen Kirche ist noch in keiner Zeit so viel Feindschaft gegen das Evangelium zu Tage getreten, als in der unsrigen. Hat man doch schon Anschläge gemacht, aus den Schulen den christlichen Religionsunterricht zu verbannen.
Meine Lieben, habe ich nicht recht gesagt, dass unser Volk zum großen Teil verweltlicht ist? Und kann es mit einem solchen Volk, das mehr und mehr allen inneren Halt verloren hat, noch aufwärts gehen, muss es mit ihm nicht abwärts gehen? Macht sich ein solches Volk nicht allmählich reif zu den zermalmendsten und zerschmetterndsten Ereignissen? Und wenn es auch mit schweren Schlägen von außen verschont wird, wird es nicht aus seiner eigenen Mitte heraus sich heiße Anfechtungen gebären, wird es sich nicht zuletzt selbst gegenseitig zerfleischen und aufreiben? Es geht eine feste Regel, ein heiliges Gesetz Gottes durch die Geschichte der Völker. Gerechtigkeit erhöhet ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben. Die Völker erhalten ihre Frische und ihre Kraft, solange ihnen ein inniges religiöses Leben und eine aufrichtige Sittlichkeit zu eigen ist; sie altern und welken dahin, wenn sie dem Unglauben und der Sittenlosigkeit verfallen. O, dass unser Volk noch zur rechten Zeit bedenken möchte, was zu seinem Frieden dient!
Gott hat an unserem Volke seine Barmherzigkeit groß gemacht und hat es ausgerüstet mit schönen Gaben. Unser Volk ward von jeher geachtet und geliebt um seines tiefen Gemüts, um seiner Zucht und Ehrbarkeit, um seiner Treue und um seiner Biederkeit willen. Ein deutsches Manneswort galt mehr als anderswo ein feierlicher Eid. Und in unserem Volk ließ Gott zuerst wieder das helle Licht des Evangeliums hervorleuchten und ließ es so zum Segen für viele Völker werden. Es ist seine ihm von Gott gewiesene Aufgabe, durch seinen Glauben, durch sein tiefes Gemütsleben, durch seine innige Familiengemeinschaft ein Salz zu werden für die Völker, mit denen es verkehrt, mit denen es im freundlichen Wetteifer vorwärts dringen soll. Wenn aber unser Volk sich selbst und seinem Gott untreu wird, was soll aus ihm werden? „Wo nun das Salz dumm wird,“ spricht der Herr, „womit soll man salzen? Es ist nichts hinfort nütze, denn dass man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten.“
Vor vier Jahren hatten wir einen Krieg. Damals schien es, als ob nun in unserem Volk ein Umschlag eintreten würde. Wie gefüllt waren damals unsere Kirchen! Wie begierig war man nach dem Trost des göttlichen Wortes! Das ist schon längst wieder anders geworden. Sowie die augenblickliche Not vorüber war, haben auch Viele ihres Gottes wieder vergessen. War es denn ein Nachteil, ein Schaden für sie, dass sie dem Worte Gottes ihr Herz öffneten? War es denn nicht ein Segen für sie, dass der Herr durch die Not sie zu sich gezogen hatte? Wieder stehen wir an der Pforte eines Krieges, und welch eines Krieges! Wie es jetzt von Gott gemeint ist, ob jetzt das Gericht über uns anheben soll, ich weiß es nicht. Aber das weiß ich, dass Gott, auch wenn er den Finger drohend zum Gericht erhebt, immer noch Gedanken des Friedens hat. Wenn wir uns zu ihm wenden, wenn wir reuig und demütig ihm in den Arm fallen, dann wird auch die Drohung zu einem Gnadenruf und zu einer Gnadenoffenbarung.
Über unser Volk ist schon manche schwere Zeit hingegangen, aber Gott hat ihm immer wieder heraus geholfen aus seinen Nöten. Aber unser Volk hat auch durch die Not sich immer wieder aufs Neue zu seinem Gott ziehen lassen. Die Deutschen waren nach den schweren Kriegen, mit denen sie zu Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts heimgesucht wurden, und die mit den Befreiungskriegen sich endigten, andre geworden, als sie zuvor waren. Der Glaube war in ihren Herzen wieder mit neuer Stärke erwacht, und wir dürfen sagen, dass die Befreiungskriege ein Werk dieses neuerwachten Glaubens waren. Und so hat ihnen Gott nach langer Drangsal den Sieg verliehen, und hat dann unser Volk mit einem fünfzigjährigen Frieden beglückt. Vor vier Jahren hatten wir zuerst wieder einen Krieg. Aber ist's nun seit diesem Krieg mit unserem Volk besser geworden? Nein, es ist schlimmer geworden. Der Unglaube, die Sittenlosigkeit hat sich nicht gemindert, sondern ist gewachsen. Nun stehen neue ernste Tage in Aussicht. O, nun ist es hohe Zeit, höchste Zeit, dass wir uns mit voller Wahrheit, mit voller Aufrichtigkeit zu dem Herrn wenden. Mein Volk, erkenne es, dass noch eine Zeit der Gnadenheimsuchung für dich angebrochen ist. Vielleicht ist es die letzte, vielleicht ruht hinter ihr schon das Gericht. Denn wenn alle milden Lockungen der Liebe, wenn alle herben Schläge nichts wirken wollen, dann wird es uns endlich ergehen, wie es Jerusalem und Israel ergangen ist. Das deutsche Volk, wenn es zu neuem Glauben, zu neuer Frömmigkeit erwacht, wird von Gott nicht verlassen, nicht verworfen werden. Nach der Zeit der Prüfung wird dann wieder eine Zeit des Heils und des Segens kommen, ja die Zeit der Prüfung selbst wird zur Zeit des Heils und des Segens werden. Verstockt sich aber unser Volk, dann ist es jetzt schon gerichtet.
O, so bedenkt denn zu dieser euerer Zeit, was zu eurem Frieden dient. Wenn an Anderen aller Ernst der Zeit und alle Mahnung der Liebe vergeblich ist, so bedenkt ihr's für euch. Noch wird euch das Heil in Christo verkündigt, und Gott ist es Ernst damit. Ihr seid Gottes Kinder, erkauft durch Christi Blut. Ihr sollt, ihr dürft jeden Augenblick dieses Kindesrechts euch getrösten. Und wenn ihr's tut, dann habt ihr Frieden, den Frieden, der über alle Vernunft ist. Doch das wisst ihr selbst; denn wo wäre denn Einer, der unter Christen herangewachsen ist, der es nicht wenigstens einmal erfahren hätte, wie süß, wie selig sich's ruht unter dem Flügel der göttlichen Liebe? Wenn ich nur dich habe,“ sagt der Psalmist, so frage ich nicht nach Himmel und Erde; und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist doch du, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ Ja, so ist's. Ein gläubiger Christ, in dessen Herzen die Liebe Gottes ausgegossen ist, und der der Kindschaft bei Gott gewiss ist, kann durch nichts völlig gebeugt werden; sein Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet und überwunden hat. Seinen Gott und Heiland kann ihm ja Niemand nehmen, und damit ist Alles gut und wird Alles gut. Auch im heißesten Feuer der Trübsal kann er sprechen: „Warum sollt' ich mich denn grämen? Hab' ich doch Christum noch, wer will mir den nehmen? Wer will mir den Himmel rauben, den mir schon Gottes Sohn beigelegt im Glauben?“
Nun, so zieht denn ein in euere feste Burg! Bis in die Arme der göttlichen Liebe hinein reicht keine Feindesmacht und keine Feindesgewalt. Und sucht in diese schützende Mauer alle die mit zu ziehen, an denen ihr arbeiten, auf die ihr wirken könnt. Wer sollte einen Armen darben sehen können, wenn er Brots die Fülle weiß? Welch ein Glück, wenn man ein Menschenleben retten kann! Aber wenn man einer verschmachtenden Menschenseele aus dem Tod zum Leben helfen kann, welch ein schöner Gewinn ist das!
Vor Allem aber sucht auf die Eurigen mit rechtem Nachhalt und mit rechtem Nachdruck zu wirken. Werdet nicht müde, sie zu dem Herrn und zu dem Frieden, den seine Liebe gibt, zu weisen! Prediget ihnen jeden Tag den Herrn und seine Freundlichkeit, und tretet jeden Morgen und jeden Abend betend mit ihnen vor den Herrn. Wenn sie es noch nicht erfahren haben, lasst es sie wenigstens jetzt erfahren, welch ein Ernst es euch ist um die Gnadengemeinschaft mit dem Herrn, und wie viel euch daran liegt, auch die Euren in dieser Gemeinschaft geborgen und beschützt zu sehen.
Schwere Stunden stehen Manchen von euch vielleicht schon in der allernächsten Zeit bevor. Die Liebe des Herrn soll sie euch weihen und versüßen. Eltern müssen den Sohn, Geschwister den Bruder von sich gehen lassen und sie wissen nicht, ob sie sich je auf Erden noch einmal wieder sehen werden. Nun, da erquickt und stärkt euch, ehe ihr euch die Hand zum Abschied reicht, noch einmal mit einander im Gebet vor Gott. Wisst ihr euch eins in dem Herrn, dann wisst ihr auch, dass euch nichts voneinander reißen kann, nichts Gegenwärtiges und nichts Zukünftiges. Und sagt es den Euren, wenn sie scheiden, dass ihr täglich ihrer vor Gott im Gebete gedenken werdet. Sie sollen es in der Mühe ihres Berufes und in der Hitze des Kampfes wissen, dass teure, liebevolle Herzen für sie zu Gott seufzen. Und wenn sie einsam draußen ihre Seele aushauchen, so sollen sie es wissen, dass die Gebete der Ihrigen sie aus der Zeit in die Ewigkeit hinüber geleiten.
Meine Lieben, eine ernste, schwere Zeit steht uns in Aussicht, eine Zeit, wie sie vielleicht noch Keiner von uns durchlebt hat. Wir brauchen Trost und Kraft. In Gottes Liebe finden wir sie; und dieser Heilsborn ist nicht auszuschöpfen; er fließt morgen so reich wie heute. O, so lasst uns zu dem Herrn wenden mit ganzem Herzen. Lasst uns zu dieser unserer Zeit bedenken, was zu unserem Frieden dient. Amen.