Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Thue mir auf!.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Thue mir auf!.

Achte Predigt

Hohelied Salomons 3, 2-3.
„Thue mir auf!“ - Ich habe meinen Rock ausgezogen, wie soll ich ihn wieder anziehn? Ich habe meine Füße gewaschen, wie soll ich sie wieder besudeln? - Aber mein Freund steckte die Hand durch's Fenster, und mein Leib erzitterte davor. Da stand ich auf, daß ich meinem Freund aufthäte. Meine Hände troffen mit Myrrhen, und Myrrhen liefen über meine Finger auf die Riegel am Schloß.

So entwickelt sie sich weiter, die innere Führungsgeschichte, die wir vor Kurzem zu betrachten angefangen. Von dem Stande, in den die Sulamith sich verirrte, haben wir gehandelt. Weil sie ein Leben fand in ihrer Hand, gerieth sie auf einen Galater-Weg. Sie war gewachsen, Christus hatte für sie abgenommen. Sie strotzte jetzt von geistlicher Schönheit in ihr selbst. Was soll aber einem Heiligungskinde ein Bürge und Mittler? Doch ist's gut, daß so nur einer Seits gedacht wird. Theilte der Bräutigam die Gedanken der Braut, die arme Heilige wäre ewig verloren. Aber eher vergißt eine Mutter des Sohns ihres Leibes, als Er der Schäflein eins in der Irre ließe, die ihm der Vater mit der Weisung gegeben hat, daß er von allen keins verliere. So erscheint er denn auch vor der Hüttenthür der Verblendeten, die auf selbstgestreutem Lager ruhet, aber ihr Herz wachet. „Meine Schwester,“ redet er mit der Zartheit sie an, womit er sie je und je geliebt; „meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene!“ Und wie nun weiter? Laßt uns hören. Wir betrachten:

  1. Die Aufforderung des Herrn.
  2. Die Antwort der Braut.
  3. Des Bräutigams ferneres Verhalten.
  4. Dieses Verhaltens Wirkung und Folge.

I.

„Thue mir auf!“ spricht der Herr, und wo Er das spricht, da wird Ihm aufgethan. Er spricht keine leeren, kraft- und erfolglosen Worte. Der arme Bettelmann, der, wie Ihn Manche schildern, von Thüre zu Thüre umgeht, und mit ungewissem Erfolg um Herzen bettelt, ist Er nicht. Er ist ein König, der mit erobernder Hand sich nimmt, was Sein ist. „Es wird dir schwer werden,“ hieß es dort, „wider den Stachel auszuschlagen.“ Wohl kann es den Schein gewinnen, als thäten wir Ihm auf, wenn Er sich selber aufthut. Das Göttliche, das Werk der freien Gnade, kleidet sich in die Form menschlicher Thätigkeiten. Daher denn auch zuweilen die herablassende, menschliche Redeweise: „Thue du mir auf! gib du mir dein Herz!“ als ob er nicht selbst die Herzen nehmen müßte. Doch merke, was oft wie Bitte aussieht, ist nur verhüllte Ordonnanz, Befehl und königliche Weisung. - „Aber es thut ihm die Braut ja doch nicht auf?“ - Ich meine doch. - „Aber auf der Stelle nicht?“ - Ich höre auch nicht, daß das der Herr geboten. Den Zeitpunkt des Aufthuns hielt Er geheim. Er spricht zu Manchem schon über seiner Wiege: „Thue mir auf!“ und der Mensch sträubt sich vielleicht ein halb Jahrhundert und will die Hand nicht an die Klinke legen. Endlich liegt der Widerspenstige doch zu des Herrn Füßen, und bekennt: „Du bist mir zu stark geworden, und hast gewonnen!“ und dies war der Moment, auf den das „Thue mir auf!“ bei seiner Wiege zielte. Es wird sich einmal finden: ein „Thue mir auf!“ aus seinem Munde ohne Wirkung gab es nicht. Es schwebt der Nachhall eines solchen „Thue mir auf!“ auch über Manchem unter uns, der jetzt noch sein Herz tagtäglich fester zu verrammeln strebt. Jenes „Thue mir auf!“ liegt wie eine Art vor des Menschen Thür. Sobald die von Gott bestimmte Stunde schlägt, hebt sie sich mit allgewaltiger Kraft, das Boll- und Barrikaden-Werk zerfährt in Splitter, und die Pforte steht für Jesum sperrweit offen. Man sollte meinen, wenn Er's auch nur kraftlos spräche, das „Thue mir auf!“ ja, sich zeigte nur, nur seinen Namen nennte, alle Welt würde dem Manne aufthun, den die reinste Retterliebe in's Thal des Todes trieb; aber wie findet sich das anders! Der Mensch, wie er von Haus aus ist, will nicht errettet sein, noch vertreten und versöhnt. Die Zumuthung: „Ich will dich erhöhen!“ dünkt ihm despectirlich und erniedrigend, und kränkt seine Eigenliebe. Darum haßt er Jesum, den Sünder-Bürgen, Jesum den sühnenden Mittler; und kein Mensch würde selig werden, wenn Jesus auf unser Aufthun warten wollte. Und hat Er einmal auch schon aufgethan, muß Er doch immer wieder auf's Neue öffnen. Die Herzensläden haben wir nicht so in unserer Gewalt, wie die Fensterläden an unsern Häusern. Diese stoßen wir mit leichter Mühe auf, wenn wir Sonne in der Kammer haben wollen; aber wie können die Läden unseres Innern geklommen sein, sei es, daß Gleichgültigkeit unser Herz beschlich; sei es, daß Zweifel und Unglaube uns erfaßten! Da kann man sich zerarbeiten in der Menge seiner Wege, und sitzt doch im kalten, unerleuchteten Hause, bis es Dem, der selbst die Sonne ist, wieder in Gnaden gefällt, sein allmächtiges: „Thue dich auf!“ wie ein zerschmetterndes Geschoß gegen das harte, gequollene Fugen- und Lückenwerk zu schleudern. Dann, holde Sonne, sei gegrüßt! Wir sehen dich wieder, und baden uns in deinem Wunderglanze!

II.

„Thue mir auf!“ sprach der Herr in Eigenschaft des Bürgen vor Sulamith's Hütte; da erwidert sie seinen Gruß; aber mit welchem Bescheide! - „Nein!“ sagt sie. - Wie, nein? - Sie weigert ihm den Einlaß. In ihrer Ruhekammer, zum Friedenhaben, zum Vergnügtsein hat sie Ihn nicht mehr so nöthig. - So weit kann es mit Kindern Gottes kommen? Schon mit Manchen kam es so weit in verschiedenartigen Wegen. Dahin gedieh es mit ihnen, daß ihnen Der in höherem oder geringerem Maße wieder gleichgültig wurde, der mit seinem Blute sie erkauft, und aus der Obrigkeit der Finsterniß sie erlöset hatte. Sie verirrten sich, wie weiland Salomo, in den Zauberkreis der Welt zurück; oder sie verkamen geistlich in dem Schlendergange ihrer zeitlichen Handthierung, wie Eli, der Priester; oder sie wurden wie Manche zu Thessalonich und Colossä von dem Lügengeiste eines falschen Lehrsystems für eine Zeitlang wieder verblendet und gefangen genommen; oder endlich, sie fielen in den Strick ihrer vermeintlichen Heiligungsprogresse, und klommen auf den Sprossen ihrer Engel-Geistlichkeit, ihrer Thaborsgefühle und ihrer Liebesthätigkeiten zu Höhen hinan, von denen sie auf die Kreuz-, Bettel- und Armesünderschafts-Christen gar vornehm herabsahen: denn sie standen jetzt auf eigenen Füßen und Postamenten. In der letztgenannten Weise verlor, wie wir gesehen haben, auch unsere Sulamith die rechte Spur. „Aber das hatte ja wohl nichts zu sagen?“ Ei sehr bedauerlich war's, überaus beklagenswerth. Am Ende aber - wenn auch durch's Feuer - geht doch Alles wohl, und es dienen diese erbärmlichen Krebsgänge und Verirrungen nur dazu, der Treue des Herrn zu desto glänzenderer Selbst-Entfaltung Gelegenheit zu bieten. Uebrigens war es mit unsrer Sulamith nicht so bestellt, daß sie von dem Bräutigam ihrer Seele überhaupt nichts mehr hätte wissen mögen; sondern in der Eigenschaft nur, in der Er ihr erschien, als Blutbräutigam, war Er ihrem Herzen, ihrem Bedürfniß, ihrer Liebe fern getreten. Es ging ihr, wie den Christen in Galatien, die den Herrn Christum auch nicht gar verwarfen; denen aber Paulus schreiben mußte: „O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, daß ihr der Wahrheit nicht gehorchet! Im Geist habt ihr's angefangen, wollt ihr's nun im Fleisch vollenden? Ihr habt Christum verloren, die ihr durchs Gesetz gerecht werden wollt.“ Auch sie sprachen zu Dem am Kreuze, der mit seiner Gerechtigkeit ihnen schenkungsweise dienen wollte: „Nicht doch; wir werden schon in eigener Bemühung fertig werden!“ und wollten als Solchem Ihm nicht aufthun.

Hört nun die Braut. „Ich habe meinen Rock abgelegt, spricht sie, wie soll ich ihn wieder anziehn? Ich habe meine Füße gewaschen, wie soll ich sie wieder besudeln?“ Da kommt ihre Gesinnung an den Tag. Im Allgemeinen will sie sagen: „Ich ruhe jetzt sanft und wohl; so laß mich ruhen! Ich habe den Grund gefunden!“ Ja, liebe Seele; aber wo? Du ruhest in morscher Bettstatt, und deine Kissen sind Wind und Wolken. „Ich habe meinen Rock abgelegt!“ Freilich hat sie das: den Rock der Demuth, den Bettelrock der Armensünderschaft, den ungenähten der Glaubensgerechtigkeit - Alles abgelegt und bei Seite gethan. Doch an diese Röcke denkt sie nicht. Sie meint den Rock, den Jesaias bei seinem „unfläthigen und besudelten Gewande“ im Auge hat, und auf den das Wort des Apostels Judas zielt: „Hasset auch den vom Fleisch befleckten Rock.“ Sie meint das alte Schwachheits- und Sündenwesen. „Ich bin nun schön,“ will sie sagen. „Ich habe das Unkraut ziemlich aus mir weggethan. Sollte ich nichts destoweniger noch des Bades bedürfen in seinem Blute, und seiner Gnadenbekleidung, so müßte ich ja erst den alten befleckten Fleischesrock wieder anziehn; wie aber dürfte ich dazu mich verstehen?“ - „Ich habe meine Füße gewaschen,“ fährt sie fort. „Ich ging vorsichtig einher. Es ist mir manches Liebeswerk gelungen. Seit lange wüßte ich eines sonderlichen Fehltritts mich nicht mehr zu entsinnen. Sollte ich Dir nun doch noch was zu waschen an mir geben, so würde ich vorab meine Füße wieder besudeln müssen. Wie aber mögte ich solches thun? Laß darum mich jetzt in meiner Ruhe!“ Das Alles, erbärmlich klingt es: aber es gibt einen Stand des inneren Irrsehens, da der Christ - zwar so nicht geradesweges spricht; aber so doch denkt, und so gestimmt ist. Da ist so Manches „mit Gottes Hülfe“ ihm gelungen; da treibt sein Schifflein auf einem Strom gottsel'ger Thätigkeiten, da glüht, um mit den Worten des Propheten zu reden, sein Herz vor Andacht, „wie ein Bäckerofen;“ da kommt vor allem gottseligen Gefühlsgewoge die böse Lust gar nicht zu Athem mehr; da fließen die heiligen Reden von seinen Lippen wie duftendes Salböl, und angestaunt und bewundert steht er unter seinen Brüdern, ein religiöser Eliab, eines Haupts länger, denn seine Gesellen, oder gar ein geistlich Gegenbild des großen Philisters. Aber das ist denn auch nur häufig der innere Stand, wie die Leute das Gleichgewicht verlieren, und an zu deliriren fangen; wo sie sich auf der sechsten, siebenten Heiligungsstufe glauben, und in sich selbst wohl so schöne Dinge, als in Christo finden; wo sie wunderliche Vollkommenheits-Systeme schmieden; wo ihr Leben unter dem Kreuz und im Element der Gnade mälig ein Ende nimmt, und sie ihre Hoffnungserndten heimlich nun von einem andern Felde mähen, als von dem blutbenetzten des Berges Golgatha. Doch wenn sie nur Kinder sind, die Verflogenen, nur wahre Kinder, dann bleibt auch der Moment nicht aus, da eine Stimme ruft: „Kehre wieder, o Sulamith; kehre wieder, daß Ich dich schaue!“ Und Sulamith kehret wieder.

Hören wir die Sulamith nun weiter, „so sprach ich,“ erzählt sie; denn sie berichtet diese Herzensgeschichte, nachdem sie wieder auf die rechte Spur gekommen ist, und voll beschämter Verwunderung über ihre einstige Thorheit berichtet sie dieselbe: „Ich habe meinen Rock abgelegt,“ so sprach ich: „da“ - fährt sie fort - „steckte mein Freund seine Hand durch's Fenster; und mein Leib erzitterte davor; oder: meine Eingeweide bewegten sich.“ Wie deuten wir uns diesen Zug? Zuerst stellen wir uns vor, es sei der Ruhenden vorgekommen, der Herr habe sie nach Hause holen wollen; und dann freilich ist uns ihre Gemüthsbewegung kein Räthsel mehr. Vor dem Schauerhauche des nahenden Todes mögen unsere Kartenhäuser nicht bestehen. Der Tod weiß mit seinem Stachel die Geschwulst unsrer Aufgeblasenheit wohl zu operiren. Wenn das Licht der Ewigkeit darein scheint, nehmen sich tausend Dinge plötzlich gar anders aus, als wir sie bisher gesehen haben. Die Sterbestunde führt ein Feuer mit sich, das, was etwa Gottes Kinder noch Eigenes zu besitzen meinten, vollends wegfrißt, und sie allein auf Christum setzet. Zogen sie das Zureichende ihrer persönlichen Heiligkeit nie noch in Zweifel: hier vergeht es ihnen, sich weiter auf Eigenes zu verlassen. Klang ihnen das Wort vom Blut des Lammes lange schon nicht mehr süß: neuen Wohllaut gewinnt es hier, hier wird es himmlische Musik. Versagten sie ihr ganzes Leben hindurch der freien Gnade die ihr gebührende Ehre; hier kommt es zu wehmüthigen Abbitten, zu deprecirenden Huldigungen. Hier steigt man sacht vom hohen Roß herunter, und zum zu Fuße Gehen wird sich hier bequemt, ja zum Rutschen auf den Knieen. Wie oft schon habe ich den Leuten ihre Leitersprossen unter den Füßen brechen sehen, wenn der Herr die Hand durch's Fenster steckte. Wie oft sah ich in solchen Momenten ganze Vollkommenheits-Systeme plötzlich in tausend Scherben zerfahren. Brüder, die von nichts Anderem zu sprechen wußten, als vom „vorsichtig Wandeln,“ vom „treu sein,“ von „Früchten, Früchten,“ wurden nun wie die Kinder froh, wenn ihnen ein Sprüchlein entgegenklang, wie das bei Hosea: „Ich will sein wie eine grünende Tanne; an mir soll deine Frucht erfunden werden!“ und fragten zitternd und mit Thränen, ob in der That das göttliche Erbarmen ein freies sei, an keine Bedingnisse geknüpft, und die Person nicht ansehend. Ja, dann hat's mit der losen Waare aller selbstgewobenen Gerechtigkeit ein Ende. Dann kommt das Lamm zu Ehren, das Lamm mit seinen Wunden. Selig Alle, denen früher schon nichts blieb, als Christi Blut! Ihnen wird das Erzittern mindestens erspart, wenn der Herr heut oder morgen die Hand durch's Fenster steckt.

III.

„Mein Freund,“ spricht Sulamith, „steckte die Hand durch's Fenster.“ Vielleicht that Er's mit aufgehobenem Finger, warnend, drohend. Erleben solches die Seinen immer doch, so oft sie sich in irgend einer Weise wieder von Ihm verirrten, und das rechte Gleis verließen. Wie ging's vor Kurzem Etlichen unter euch, da sie sich einmal wieder, was wohl so kommen kann, auf einen Lust- und Tummelplatz der Welt verloren hatten, dahin sie nicht gehörten. Nicht lange saßen sie auf diesen Bänken, da „steckte ihr Freund die Hand durch's Fenster, und ihr Leib erzitterte davor.“ Wie unheimlich ward ihnen plötzlich da, wie waren sie so froh, als sie das Haus der Eitelkeiten wieder hinterm Rücken hatten. Wie kann es Einem in weltlichen Gesellschaften oft ergehen, wenn man, ehe man sich's selbst versieht, in den herrschenden Ton mit einstimmt, mit den Leuten es in aller Weise kann, und Den, der uns mit seinem Blute erkaufte, ein um das andre Mal verleugnet. Eine Zeitlang mag es ungerügt so fortgehen; plötzlich steckt der Freund die Hand durch's Fenster. Wie wird man da mit einem Mal so stille; wie senkt man beschämt die Blicke auf die Brust; wie beginnen die Eingeweide sich in „Einem zu bewegen!“ Ward Er uns gleichgültiger wieder, der treue Herr, und es ist, aus welchem Grunde es immer sei, der Verkehr mit Ihm wie abgebrochen, und es heißt: „Aus den Augen aus dem Sinne!“ was begibt sich? Geschieht's nicht immer, daß Er auch dann, ehe man es denkt, die aufgehob'ne Hand durch's Fenster reckt, und ach! „unser Leib erbebt davor,“ und die Seele seufzt erschrocken: Wohin verirrte ich mich! In letzterer Weise widerfuhr's der Sulamith. Die Hand Mahnte sie an die kühle Herzens-Stellung, in welche sie zu ihrem Bräutigam hineingerathen war, und sie erbebte.

Bedenken wir übrigens, in welcher Gestalt der Bräutigam vor Sulamith's Hütte steht, so gewinnt die Vermuthung Grund, die Braut habe Ihn die durchgrabene Priesterhand durch's Fenster strecken sehen, und sei dadurch nur um so schmerzlicher daran erinnert worden, wie wenig ihre Anhänglichkeit an Ihn zu alle Dem mehr in Verhältniß stehe, was Er für sie gethan, und sie Ihm zu verdanken habe. Und allerdings, will er in Gleichgültigkeit entschlaf'ne Kinder wieder wecken, wie mag Er's erfolgreicher thun, als dadurch, daß er sich der Seele zeigt im Dornenkranz und mit den blutigen Wunden, und mit der Hand den Ungetreuen winkt, die um ihrer Sünden willen durchstochen ward. Solch Gesicht rückt's uns wieder vor die Augen, was es mit unsern Uebertretungen auf sich habe. Es schwächt unser Heiligungs-Bewußtsein, indem es uns wie in einem Spiegel vorhält, wie' überaus greulich und sündig vor Gott die Sünde sei. Es demüthigt unsern Stolz: denn wie verzweifelt böse mußte unser Schade sein, daß die Rettung eine blutige Vermittelung erfordert, wie diese. Es verleidet uns jeden Selbstruhm, jede Selbstbespiegelung; denn es zeigt uns in einer fremden, selbstvertretenden Bezahlung den einigen und ganzen Grund unsres Seligwerdens. Was wir von Erkenntlichkeit zu empfinden meinten, von Dank, von Gegenliebe, ach! wie so gar nicht der Rede werth stellt sich's jener blutigen Erscheinung gegenüber dar. Kurz, jene Erscheinung führt was moralisch Vernichtendes, zum Staube Beugendes, und zu Schanden Machendes mit sich; und daß auch unsere Sulamith von solchen Eindrücken nicht unberührt blieb, erhellt zur Genüge aus dem ferneren Verfolge ihrer Erzählung.

IV.

Als sie die Hand ihres Bräutigams erblickte, „da - berichtet sie weiter - stand ich auf, daß ich meinem Freunde aufthäte. Meine Hände troffen von Myrrhen, und Myrrhen liefen über meine Finger auf die Riegel am Schloß.“ Mo sie erhebt sich. Ihre süße, träumerische Ruhe ist dahin. Sie fühlt es: „Ja, ich stand nicht mehr zu Dir wie gestern und ehegestern!“ Sie muß sich anklagen, daß ihre Liebe zu ihrem himmlischen Freunde freilich abgenommen habe, ihr Herzens-Verkehr mit Ihm laxer und lauer geworden sei. Nein, wie früher, war er seit Kurzem nicht mehr der Mittelpunkt all ihres Denkens, Empfindens und Begehrens. Wenigstens hatte sie ihre Liebe zwischen Ihn, und sich selbst getheilt. An ihrer eigenen Heiligungs-Schöne hatte ihr Auge mindestens eben so wohlgefällig gehaftet, als an seiner Blutgerechtigkeit. Die Sulamith war es, in die sich ihr Herz vergaffte, als stünde sie nun auf eigener Wurzel, als dürfte sie in eigenem Schmucke jetzt vor den Richter treten. Sie sieht ihre Verirrung ein, doch nur der Oberfläche nach, und nicht bis auf den Grund. Sie denkt, woran sie es seit Kurzem habe mangeln lassen, das könne und wolle sie nun reichlich nacherstatten. Sie säumt auch nicht, ihre Anstalten dazu zu treffen. Sie beginnt, sich aufs Beste zu schmücken, öffnet ihre Nardenfläschlein, salbt sich Haupt und Hände, und taucht sich gleichsam ganz in Wohlgerüche ein. Ihre Finger triefen von Myrrhen, ihr Haar blitzt von Edelgesteinen und Perlen, ihre Gewänder duften wie einer Blumenkönigin, und aus ihren Zügen spricht nichts als Huldigung und Liebe. In dieser - laßt mich's einmal so nennen geistlichen Toilette gedenkt sie sich ihrem Freunde zu Präsentiren, und hofft ihn schnell wieder zufrieden gestellt und versöhnt zu haben. Ihr versteht das Bild. In einen religiösen Festschmuck wirft sie sich. Sie ölt sich selbst, setzt, so gut es gehen will, sich in Empfindung, zündet dem Herrn ein künstliches Andachtsfeuer auf ihren innern Altären an, und spannt Ihm zu Ehren die Saiten ihres Gefühls aufs äußerste. Ihre Myrrhen sind Rührungen; ihr Weihrauch schöne, Begeisterung athmende Gebete. Liebliche Gesänge zu Lobe des göttlichen Freundes strömen von ihren Lippen, und zu den hochklingenden Bekenntnissen seines Namens gesellen sich viel versprechende Gelübde. So aufgeputzt, legt sie die Hand an den Riegel und will dem Bräutigam entgegen. Aber das ist nicht der Staat, der dem Herrn gefällt. Diese Liebe aus Vorsatz und Berechnung und nicht aus Drang, hat geringen Werth in seinen Augen. Der Wein, der Ihm mundet, ist die Liebe nicht der Reichen, sondern der Armen. Das Bettlerkleid der Hülfsbedürftigkeit ist der Audienz-Schmuck, der an dieses Königs Hofe am liebsten gesehen wird. Mit den Gala-Gewändern einer eiteln Selbstpräsentation, wie sie schimmern und duften mögten, ist hier kein Glück zu machen. Die wenn auch noch so gute Meinung, Ihm dienen zu wollen, statt Seine Dienste zu begehren, ist Krankheit in seinen Augen, die seine ärztliche Pflege in Anspruch nimmt. Die Opfer, die Ihm behagen, sind ein gedemüthigtes Herz und ein zerschlagener Geist. Sulamith will sich durch das Geschenk ihrer Liebeshuldigungen dem Herrn gefällig machen, statt im Schmerzgefühl ihrer geistlichen Dürftigkeit nur des Bräutigams Begnadigung zu suchen; und eben das ist der faule Fleck ihrer gegenwärtigen Herzensstellung; das die eine Fliege, wodurch ihre ganze Salbe verderbet wird.

So kann es sich mit wahren Kindern Gottes ereignen, daß das in der Wiedergeburt ihnen verrenkte geistliche Hüftgelenk für eine Weile mindestens, und bis zu einem gewissen Punkte wieder heil wird. Sie stehen auf eigenen Füßen wieder. Die Zeit, da sie die Brosamlein nur begehrten, die von des reichen Herrn Tische fielen, liegt hinter ihnen. Sie laden jetzt, nachdem ihre moralischen Verhältnisse sich gebessert, den Herrn bei sich zu Tische, und brauchen denen, die ohne Geld und Zahlung nehmen müssen, sich nicht mehr beizuzählen. Doch lange, gebt nur Acht, fahren sie nicht in dieser hohen Bahn, so wird ihnen irgendwie ein Stock in die Speichen gelegt. Sie laufen fest, oder schlagen um und zerschellen. Jesus will Arme, an denen Er reich erscheine; Abhängige von seiner Hand, Gelehnte auf seine Schultern. Ueberall wird in der Schrift den Elenden, den Verarmten, den Kleinen Gutes angesagt; das Hohe soll erniedrigt, das Starke zerbrochen werden. Darum Muth gefaßt, ihr Seufzenden, die ihr klagt, eines andern Fortschritts, als in der Gnaden-Bedürftigkeit, euch nicht rühmen zu dürfen; die ihr meint, wenn Jesus euch in Einem nicht Alles sei, so sei dieser Jesus für euch zu wenig; die ihr in der Erwartung, es mögten eure Zustände sich endlich bessern, immer getäuscht, zu. eurer Rettung nichts als das eine Brett der freien Gnade mehr vor euch seht. Wisset: was euch widerfährt, bezeichnet die Schrift als Regel des Himmelreichs, als Zeichen geistlicher Gesundheit. Oder kennt ihr es nicht, das tiefe Wort Johannis des Täufers: „Ich muß abnehmen, Er aber muß wachsen.“ So nehmt denn ab, wie die Sterbenden, und findet euch nur in Christo auferstanden wieder. Amen.

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