Körber, Emil - Ölblatt - Drei Bitten am Buß- und Bettage.
(16. September 1877.)
Text: Jesaja 1, 2-31.
„Hört, ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, denn der Herr redet: Ich habe Kinder auferzogen und erhöht, und sie sind von mir abgefallen. Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt es nicht, und mein Volk vernimmt es nicht. O wehe des sündigen Volks, des Volks von großer Missetat, des boshaftigen Samens, der schändlichen Kinder, die den Herrn verlassen, den Heiligen in Israel lästern, weichen zurück. Was soll man weiter an euch schlagen, so ihr des Abweichens nur desto mehr macht? Das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt. Von der Fußsohle an bis aufs Haupt ist nichts Gesundes an ihm, sondern Wunden und Striemen und Eiterbeulen, die nicht geheftet, noch verbunden, noch mit Öl gelindert sind. Euer Land ist wüste, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure Äcker vor euren Augen, und ist wüste, als das, so durch Fremde verheeret ist. Was aber noch übrig ist von der Tochter Sions, ist wie ein Häuslein im Weinberge, wie eine Nachthütte in den Kürbisgärten, wie eine verwahrte Stadt. Wenn uns der Herr Sebaoth nicht ein Weniges ließe überbleiben, so wären wir wie Sodom, und gleich wie Gomorra. Hört des Herrn Wort, ihr Fürsten von Sodom; nimm zu Ohren unsers Gottes Gesetz, du Volk von Gomorra. Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern, und des Fetten von den Gemästeten, und habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr herein kommt zu erscheinen vor mir, wer fordert solches von euren Händen, dass ihr auf meinen Vorhof tretet? Bringt nicht mehr Speisopfer so. vergeblich. Das Räuchwerk ist mir ein Gräuel; der Neumonden und Sabbate, da ihr zusammenkommt, und Mühe und Angst habt, derer mag ich nicht. Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahreszeiten; ich bin derselben überdrüssig, ich bin es müde, zu leiden. Und wenn ihr schon eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen von euch; und ob ihr schon viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Bluts. Wascht, reinigt euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, lasst ab vom Bösen; lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten, schafft dem Waisen Recht und helfet der Witwen Sache. So kommt dann und lasst uns mit einander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist, wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden. Wollt ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen. Weigert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert gefressen werden; denn der Mund des Herrn sagt es. Wie geht das zu, dass die fromme Stadt zur Hure geworden ist? Sie war voll Rechts, Gerechtigkeit wohnte darinnen, nun aber Mörder. Dein Silber ist Schaum geworden und dein Getränk mit Wasser vermischt. Deine Fürsten sind Abtrünnige und Diebsgesellen, sie nehmen alle gerne Geschenke und trachten nach Gaben, dem Waisen schaffen sie nicht Recht und der Witwen Sache kommt nicht vor sie. Darum spricht der Herr Zebaoth, der Mächtige in Israel: O wehe, ich werde mich trösten durch meine Feinde und mich rächen durch meine Feinde; und muss meine Hand wider dich kehren und deinen Schaum aufs lauterste fegen und alles dein Sinn wegtun; und dir wieder Richter geben, wie zuvor waren, und Ratsherren, wie im Anfang. Alsdann wirst du eine Stadt der Gerechtigkeit und eine fromme Stadt heißen. Zion muss durch Recht erlöst werden und ihre Gefangene durch Gerechtigkeit, dass die Übertreter und Sünder mit einander zerbrochen werden, und die den Herrn verlassen, umkommen. Denn sie müssen zu Schanden werden über den Eichen, da ihr Lust zu habt, und schamrot werden über den Gärten, die ihr erwählet; wenn ihr sein werdet, wie eine Eiche mit dürren Blättern, und wie ein Garten ohne Wasser; wenn der Starke wird sein wie Werg und sein Tun wie ein Funke, und beides mit einander angezündet werde, dass Niemand lösche.“
Teure, im Herrn geliebte Gemeinde. Es ist ein ernster Tag, der uns heute in Gottes Haus versammelt, der große Landes-Buß- und Bettag. Da soll alles Volk zur Buße aufgefordert werden ohne Ansehen der Person. Es wird wohl an keinem Sonntag das ganze Jahr hindurch einem evangelischen Prediger so schwer auf die Kanzel zu treten, als gerade an diesem Tag. Denn einmal drückt und lastet das Gefühl der Sündenschuld auf dem eigenen Herzen. Wir Prediger gedenken heute vor dem Angesichte des heiligen Gottes an unsre Sünden und müssen uns selbst vor dem Allwissenden und dreimal Heiligen, der Augen hat wie Feuerflammen, tief beugen und demütigen und in den Staub niederwerfen. Bin ich auch immer ein treuer evangelischer Prediger und Seelsorger gewesen? so heißt es im Herzen. Habe ich, so oft ich auf die Kanzel trat, und in den vielen Andachtsstunden das Jahr hindurch stets das Wort Gottes rein und lauter gepredigt, ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, mit heiligem Ernst und brünstiger Liebe zu Christus und den Seelen, um sie zu retten und selig zu machen? Habe ich dabei nicht meine Ehre, sondern nur des Herrn Ehre gesucht? Und habe ich die evangelische Predigt und die teure Lehre Jesu Christi unsres Herrn auch stets mit einem evangelischen Wandel geziert in wahrer Gottesfurcht und Frömmigkeit, in Sanftmut und Demut, in Leutseligkeit und Menschenfreundlichkeit, in Glauben, Liebe und Hoffnung, so dass ich als Unterhirte des großen Erzhirten der Schafe in meinem kleinen und geringen Teil ein Vorbild der Herde gewesen bin? Habe ich mit Nichts meinen Wandel befleckt und Ärgernis und Anstoß gegeben? Habe ich die mir anvertraute Gemeinde stets auf betendem Herzen getragen? Ist mir die große Not der Kirche auch tief zu Herzen gegangen. und bin ich immer, soweit es meine Pflicht war, in den Riss gestanden? Bin ich in der Seelsorge bei Gesunden, Kranken und Sterbenden treu gewesen? Bin ich den Verirrten und Verlorenen unermüdet nachgegangen? Solche und ähnliche Fragen ernster Selbstprüfung steigen heute am großen Buß- und Bettag im eigenen Herzen auf. Und da können wir nicht anders als an die eigene Brust schlagen und ausrufen: So du willst Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen? Denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht. Geh nicht ins Gericht mit uns, sondern sei gnädig, sei gnädig! Herr, vergib die Schuld! Aber dann haben wir noch die schwere Aufgabe, auch Andern Buße zu predigen und dem Volk seine Sünden aufzudecken, ohne Furcht und Scheu, ohne Menschengefälligkeit und Ansehen der Person. Ach, das ist keine leichte Sache, zumal in unsrer Zeit, wo man im Großen und Ganzen von Buße nichts mehr hören will und Unzählige darüber spotten und lachen und davon reden als von einem längst überwundenen Standpunkt. Und doch ist es der einzig richtige Standpunkt, den wir fündige Menschen dem heiligen Gott gegenüber einnehmen können und einnehmen müssen, wenn wir anders einen gnädigen und barmherzigen Gott haben wollen. Denn wie viel Unrechtes und Böses, wie viel Sünde und Übertretung und Unterlassung kommt das ganze Jahr hindurch vor im einzelnen Menschenleben und im Großen und Ganzen des Volkslebens. Muss da nicht der Einzelne und das ganze Volk sich demütigen vor seinem Gott? Ja freilich. Wehe dem, der sich nicht demütigt; wehe dem, der sich selbst rechtfertigt; wehe dem, der sich in den Mantel seiner Tugend und Rechtschaffenheit oder in den. Rock seiner Rechtgläubigkeit einhüllen will und gleich dem Pharisäer spricht: ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute. Dagegen wohl dem, der dem Zöllner gleich von ferne steht, auch nicht wagt seine Augen aufzuheben gen Himmel im tiefen Bewusstsein seiner Schuld, sondern an seine Brust schlägt und spricht: Gott sei mir Sünder gnädig. So wollen wir's machen, meine Lieben, indem wir heute am großen eidgenössischen Buß- und Bettag drei Bitten vor Gottes Gnadenthron niederlegen:
I. Herr, tu uns unsre Sünden kund;
II. Und schenk uns Buß von Herzensgrund;
III. Erneure so den Gnadenbund.
Bevor wir aber weiter gehen und diese drei Bitten näher betrachten, lasst uns noch einmal ein Bußlied anstimmen und uns gemeinsam vor dem heiligen Gott demütigen. Wir singen aus dem Lied Nr. 95, den 2. Vers.
Die Schuld ist schwer und übergroß,
Und reuet mich von Herzen;
Derselben mach mich frei und los
Durch deine Todesschmerzen;
Nimm meiner dich beim Vater an,
Der du für mich genug getan.
So werd' ich los der Sündenlast,
Mein Glaube fasst,
Was du mir, Herr, versprochen hast.
I. Herr, tu uns unsre Sünden kund!
Das ist die erste Bitte, die heute aus der Tiefe unsrer Herzen zum Thron des heiligen Gottes emporsteigt. Seinem alten Bundesvolk hat der Herr oft und viel die Sünden kundgetan, aufgedeckt und gestraft durch den Mund seiner Propheten, die unerschrocken, furchtlos und treu im Dienste Jehovahs vor das Volk hingetreten sind. Ein merkwürdiges Beispiel davon haben wir in dem eben verlesenen Textkapitel. Die Bußpredigt, die da aufgeschrieben steht, ist vor etwa 2600 Jahren gehalten worden. Also eine uralte, ehrwürdige Predigt; die aber durchaus nicht veraltet ist, sondern auch bei uns den Nagel auf den Kopf trifft und gerade das enthält, was wir brauchen, gerade das sagt, was uns gesagt werden muss. Wer sich die Mühe nimmt und diese gewaltige Bußpredigt des Propheten Jesaja bis in ihre einzelnen Züge hinein studiert, der wird eine auffallende Ähnlichkeit mit unsern jetzigen Zuständen finden zumal in der Beschreibung der Sünde und des Abfalls, der jetzt wie damals alle Klassen und Schichten der Gesellschaft, das ganze Volk von oben bis unten ergriffen, durchdrungen und durchfressen hat. Darum finden auch die Gerichtsdrohungen Gottes in dieser alten Bußpredigt auf uns ihre Anwendung. Groß war damals die äußere Not. Der assyrische König Sanherib war ins Land gefallen und hatte ringsum alles verwüstet und verheert und Städte und Dörfer mit Feuer verbrannt. Nur die Hauptstadt, Jerusalem, die Tochter Zions war übriggeblieben, wie ein Häuslein im Weinberg, wie eine Nachthütte in den Kürbisgärten, wie eine verwahrte Stadt. Aber auch sie wurde von den Heerscharen Sanheribs, die zahllos wie der Sand am Meere waren, eingeschlossen und belagert. Da in dieser höchsten Not tritt Jesaja, der Sohn Amoz, im Namen. des Herrn Zebaoth auf und predigt dem Volk Buße. Draußen vor den Mauern der heiligen Stadt wiehern die feindlichen Rosse und zerstampfen mit ihren Hufen Äcker und Felder, draußen blitzen die Schwerter und Speere der Krieger und schallen die Kriegstrompeten und blutig rot färbt sich der Himmel von den Feuersäulen, die ringsum aus den angezündeten Städten und Dörfern aufsteigen. Da deutet der Prophet diese Zeichen dem Volk und predigt ihm Buße. Und mit welch' unerbittlicher Strenge tut er das. Wir müssen staunen über den Freimut und die Unerschrockenheit des Mannes. Wie tritt er festen Schrittes und ruhigen Auges, furchtlos und treu dem heiligen Gott, der ihn gesandt hat, hin vor alles Volk und sagt ihm ins Angesicht: Hört, ihr Himmel, und Erde, nimms zu Ohren, denn der Herr redet: Ich habe Kinder auferzogen erhöht, und sie sind von mir abgefallen. Ein Ochse kennt seinen Herrn, und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennts nicht und mein Volk vernimmt es nicht. O wehe des sündigen Volks, des Volks von großer Missetat, des boshaftigen Samens, der schändlichen Kinder, die den Herrn verlassen, den Heiligen in Israel lästern, weichen zurück. Was soll man weiter an euch schlagen, so ihr des Abweichens nur desto mehr macht? Das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt. Von der Fußsohle an bis aufs Haupt ist nichts Gesundes an ihm, sondern Wunden und Striemen und Eiterbeulen, die nicht geheftet noch verbunden noch mit Öl gelindert sind. Wie tritt der Prophet hin auch vor die Fürsten und Regenten des Volkes, wie einst Mose vor Pharao und später Johannes der Täufer vor Herodes getreten ist, und nennt sie geradezu Fürsten von Sodom, Abtrünnige und Diebsgesellen: „Hört des Herrn Wort, ihr Fürsten von Sodom; nimm zu Ohren unsers Gottes Gesetz, du Volk von Gomorra; ihr Fürsten seid Abtrünnige und Diebsgesellen, und nehmt alle gerne Geschenke und trachtet nach Gaben, den Waisen schafft ihr nicht Recht und der Witwen Sache kommt nicht vor euch.“ und endlich, wie tritt er hin vor die Heilige Stadt, und reißt ihr den heiligen Schleier herunter vom Angesicht: „Wie geht das zu, dass die fromme Stadt zur Hure geworden ist? Sie war voll Rechts, Gerechtigkeit wohnte drinnen, nun aber Mörder.“
Nicht wahr, meine Lieben, das heißt dem Volk ohne Schminke seine Sünden aufdecken und furchtlos Buße predigen. Ach, möchten auch unter uns viele solche Bußprediger auftreten, die in Gottes Vollmacht getrost rufen und nicht schonen, ihre Stimme erheben wie eine Posaune und dem Volke sein Übertreten, unserm Geschlecht seine Sünden verkünden. Möchten sie mit dem Donnerwort eines Jesaja, mit dem Feuergeist eines Elias, mit dem Flammenauge eines Johannes des Täufers, und mit der brennenden Sünderliebe eines Paulus, der da spricht: die Liebe Christi dringt mich also möchten sie so hintreten vor unser Geschlecht, vor die sichern, leichtsinnigen, stolzen, trotzigen Kinder unsers Jahrhunderts und ihnen ihre Sünden aufdecken! Ja, um Zion willen, so will ich nicht schweigen, und um Jerusalem willen, so will ich nicht innehalten, bis dass ihre Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz und ihr Heil entbrenne wie eine Fackel. Ist nicht auch durch unser ganzes Volk von oben bis unten, zu Stadt und Land, die Sünde mit ihrem verwüstenden und verheerenden Fuße durch alle Lebensverhältnisse geschritten? Sind nicht auch wir ein von Gott abgefallenes Geschlecht? Muss nicht auch über uns der heilige Gott und Vater im Himmel wehmütig trauern und klagen: „Ich habe Kinder auferzogen und erhöht, und sie sind von mir abgefallen?“ Oder ist das kein Abfall von dem lebendigen Gott und seinem heiligen Wort, wenn der Staat, in dem doch weitaus die meisten Bürger getauft sind auf den Namen des Dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, mehr und mehr aufhört ein christlicher Staat zu sein, und in seiner Verfassung, in seinen Gesetzen und Anstalten immer weiter von Christi Geist und Wort sich loslöst und entfremdet; wenn der Staat kalt und gleichgültig, ja oft feindselig gegen die Kirche geworden ist und nicht mehr Schirmherr und Pfleger der himmlischen Güter sein will, sondern seine Aufgabe nur in dem armen, vergänglichen Diesseits sucht; wenn der Staat mit Hintansetzung des göttlichen Wortes und Entheiligung des Sonntags da und dort ein trauriges Beispiel gibt, und die Obrigkeit das Schwert, das ihr Gott der Herr scharf und zweischneidig in die Hand gegeben hat zur Rache an den Übeltätern und zum Lobe der Frommen, bleiern hat werden lassen? Ist das kein Abfall von dein lebendigen Gott und seinem heiligen Wort, wenn in unserer Kirche das alte, teure Glaubensbekenntnis nicht mehr zu Recht besteht, wenn der Unglaube mitten im Schoß der Kirche trotzig und frech sein Haupt erheben darf, ja Bürgerrecht, Sitz und Stimme erhalten hat, so dass die glaubenstreuen und frommen. Herzen über solche Verderbnis seufzen müssen und Manchen die Gewissensfrage sich aufdrängt, ob sie auch noch länger einer solchen Kirche als Glieder angehören können? Ach, wie sind Zions Mauern durchbrochen, wie liegt die Kirche des Herrn unter uns vielfach öde und wüste da! Großenteils gleicht unsere Kirche einer zerfallenen Ruine aus alter Zeit, aus der das Leben entflohen ist und in der der Tod seine Behausung aufgeschlagen hat! Ist das kein Abfall von dem lebendigen Gott und seinem heiligen Wort, wenn die Schule, diese liebe Tochter der Kirche, von ihr großgezogen und mit ihrem Herzblut genährt, großenteils dem Evangelium den Rücken gekehrt hat? Nur Bildung und immer wieder Bildung, Aufklärung und immer wieder Aufklärung, so schreien sie aus allen Ecken und Enden. Aber das Wort Gottes, diese wahre, großartige Bildungs- und Aufklärungsquelle sucht man mit allem Fleiß mehr und mehr aus der Schule zu verdrängen. Statt Glauben wird vielfach Unglauben oder ein seichter Halbglaube in die Herzen der Kindergepflanzt, die Lämmer werden dem großen Erzhirten der Schafe entführt, und ein zuchtloses, unbotmäßiges, den Eltern, Lehrern und der Obrigkeit ungehorsames Geschlecht wächst heran. Ist das kein Abfall von dem lebendigen Gott und seinem heiligen Wort, wenn in unzähligen Häusern hin und her, zu Stadt und Land, der Hausaltar öde und verlassen steht, ja oft zerbrochen ist, wenn das Gebet in Hütte und Palast schweigt, wenn in so vielen Familien kein Lied mehr gesungen wird zur Ehre Gottes und zum Lob dessen, der uns mit dorngekröntem Haupt und durchbohrten Händen und Füßen teuer erkauft hat am blutigen Kreuzesstamm auf Golgatha, wenn seine Gebote mit Füßen getreten werden von Jung und Alt, und sein Evangelium in tausend und aber tausend Herzen keine Stätte mehr findet? Ja, das ist Abfall, ja, das ist Abfall! Und was ist die Frucht von all' diesem Abfall? Sünde über. Sünde, Unrecht über Unrecht, Lüge über Lüge, Betrug über Betrug, Laster über Laster, Leichtsinn über Leichtsinn, Augenlust, Fleischeslust und Hoffart des Lebens - Unglück, Not, Jammer, Elend, Herzeleid in tausend Gestalten. Ach Herr, tu uns unsre Sünden kund! Ja, unsre Sünden. Denn wer will sagen: ich bin rein! Wer will beim Blick auf das große Verderben seine Hände in Unschuld waschen? Ach Herr, tu uns unsre Sünden kund!
II. Und schenk uns Buß von Herzensgrund!
Dies ist die zweite Bitte, die wir heute in Demut niederlegen vor dem Gnadenthron des heiligen Gottes. Die Buße muss geschenkt sein von Dem, der uns Alles schenkt, von Dem, der uns Leben und Odem und Alles gibt. Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, vom Vater des Lichts auch die Gabe und Gnade der Buße. Sie wächst nicht auf bloß menschlichem Boden, sie wächst nicht aus uns selbst heraus. Kein Mensch kann den Tau bereiten, der das Erdreich feuchtet; kein Mensch kann das Licht schaffen, das Wärme und Leben verbreitet; kein Mensch kann Sonnenschein und Regen und fruchtbare Witterung machen. So kann auch kein Mensch für sich und aus sich die Buße schaffen. Gott der Herr muss sie uns schenken.
Er gibt Buße, Er gibt Glauben,
Hilft den Lahmen, Blinden, Tauben.
Aber er schenkt von Herzen gern Jedem die Buße. Er schenkt sie dir lieber heute als morgen, lieber in dieser Stunde als in der nächsten Stunde, lieber am heutigen Sonntag als am nächsten Sonntag. Er steht immer an unsers Herzens Tür und klopft an, bald leise, bald laut, bald freundlich und gütig, bald ernst und feierlich, und will immer die Gabe der Buße uns ins Herz hineinlegen, dass wir in Kraft seiner Gnade Buße tun können. Leider wollen Viele sie nicht annehmen, sondern überhören immer das Anklopfen des Herrn und weichen beständig aus. O, lasst uns sie aufnehmen, ja lasst uns bitten und flehen am heutigen großen Bußtag: Herr, schenk uns Buß von Herzensgrund, uns, die wir hier sind, und denen, die draußen sind, jedem Haus, jeder Familie, jedem Geschlecht, jedem Stand, dem ganzen Volk!
Aber was ist denn eigentlich die Buße? Was heißt denn Buße tun? Was verlangt Gott der Herr von uns, wenn er uns die Bußglocke läuten lässt, wenn er uns auf allen Blättern der Heiligen Schrift zur Buße auffordert? Soll etwa der Mensch seine Sünden abbüßen? Nimmermehr. Weder in der Zeit noch in der Ewigkeit, weder oben auf der Erde noch drunten in der Unterwelt, weder im Trübsalsofen noch im Fegfeuer, weder mit Bußtränen, noch mit Rührungen, noch mit guten Vorsätzen, noch mit Leiden und Schmerzen, noch mit Werken der Liebe kannst du deine Sünden abbüßen, sühnen und wieder gut machen. Nur Einer kann für unsere Sünden büßen und hat für sie gebüßt, nur Einer hat unsere Sünden gut gemacht, gesühnt und getilgt mit seinem teuren Blute, das auf Golgatha geflossen ist, Jesus Christus, der Sohn Gottes und Heiland der Welt. Er ist die Versöhnung für unsere Sünden.
Aber was verlangt Gott der Herr in der Buße von dir? Heißt etwa das Buße tun, wenn man zur Kirche kommt und die Predigt hört und einmal oder zweimal des Jahres zum Abendmahl geht? Manche kommen nur am Bettag in Gottes Haus oder sonst an hohen Festtagen und meinen, nun sei's wieder abgemacht fürs ganze Jahr und der religiöse Tribut sei pflichtschuldig bezahlt. Ist das Buße? Nimmermehr. Es ist recht, dass du ins Haus des Herrn kommst; du solltest alle Sonntage kommen und regelmäßig das Wort Gottes hören und das Abendmahl genießen, so oft es dargereicht wird. Aber Buße ist das noch lange nicht. Da wird dir nur Gelegenheit zur Buße gegeben und die Aufforderung zur Buße ergeht an dich. Oder heißt das Buße tun, wenn du hier in Gottes Haus ein wenig aufgerüttelt wirst aus dem Schlafe deiner Sicherheit und Trägheit, wenn's dir heiß wird ums Herz und du spürst, dass du anders werden solltest, wenn Tränen der Rührung über deine Wangen rollen und gute Vorsätze der Besserung in deinem Geiste aufsteigen, wenn ein schneller Schmerz durch deine Seele fährt, wie ein flüchtiger Hauch des Abendwindes durch die Wipfel der Bäume zittert? Ach nein, das ist auch noch keine Buße. Daraus kann, wenn's gut geht, die Buße werden. Aber mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert, haben unsre Alten gesagt, und Tränen der Rührung sind wohlfeil zu haben. Oder heißt das Buße tun, wenn du an allerhand christlichen Werken der inneren und äußeren Mission dich beteiligst und manches Opfer darbringst für die Sache der Kirche und des göttlichen Reiches? Das ist recht und gut. Aber das ist noch keine Buße. Das kann auch mit einem ungebrochenen, unbußfertigen, unbekehrten, unwiedergeborenen Herzen geschehen. Und von solcher bloß äußerlichen christlichen Geschäftigkeit, Werktätigkeit und Gottesdienstlichkeit, wo das demütige, bußfertige, zerschlagene Herz fehlt, spricht Gott der Herr in unserm Texte das vernichtende Wort: „Was soll mir die Menge eurer Opfer? Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fetten von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und der Böcke. Bringt nicht mehr Speisopfer so vergeblich. Das Räuchwerk ist mir ein Gräuel; der Neumonde und Sabbate, da ihr zusammenkommt und Mühe und Angst habt, derer mag ich nicht. Meine Seele ist feind euern Neumonden und Jahreszeiten; ich bin derselben überdrüssig, ich bin es müde zu leiden. Und wenn ihr schon eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen von euch, und ob ihr schon viel betet, höre ich euch doch nicht!“ Nun was heißt denn Buße tun? Worin besteht denn die rechte Buße? Hört die göttliche Erklärung. Sie steht geschrieben im 16. und 17. Verse. unsers Textkapitels und lautet also: „Wascht euch, reinigt euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, Lasst ab vom Bösen, lernt Gutes tun.“ Ja, das heißt Buße tun, das heißt sich bekehren. Ist das nicht deutlich, ist das nicht klar geredet, dass es auch die kleinen Kinder verstehen können? Weg vom Bösen, hin zum Guten! Weg von der Sünde, sie mag grob oder fein, offenbar oder geheim, auf der Oberfläche oder tief gewurzelt sein; und hin zu Gott dem Herrn, bis zum Heiland, hin zum Versöhner, mit demütigem, gläubigem Herzen. Siehe, das heißt Buße tun! Du musst gründlich umkehren, deinen Sinn ändern, ein neuer Mensch werden. Deine Sünden musst du erkennen, o Mensch, im Angesicht des heiligen Gottes und dich in den Staub werfen vor seiner himmlischen Majestät. Deine Sünden musst du bekennen dem, der Augen hat wie Feuerflammen und bis auf den Grund sieht, und wenn dich das Gewissen und der Geist Gottes treibt, auch den Menschen. Deine Sünden musst du herzlich bereuen, beweinen und Leid darüber tragen, dass du deinen treuen Schöpfer, Erlöser und Tröster so oft und viel beleidigt und erzürnt hast. Deine Sünden, auch deine Lieblings- und Schoßsünden, auch deine Temperamentssünden, auch die durch Jahre lange Gewohnheit eingewurzelten und eingerosteten Sünden müsst du hassen und lassen, an Jesum Christum, den großen Sündentilger und Versöhner, von Herzen glauben und der Besserung des Lebens dich befleißen, allen Ernstes in einem neuen Leben wandeln. Ja, ins Leben hinein geht die rechte Buße, in den Wandel, ins Haus, in den Beruf, ins ganze Tun und Lassen, Denken, Reden, Wirken, Leiden und Dulden, und macht es zu einem Gott wohlgefälligen. O dass solche Buße bei uns Allen einkehrte. Ja, dass doch eine allgemeine Bußbewegung durch unser ganzes Volk ginge. Grund genug dazu wäre vorhanden. Denn der Herr predigt jetzt nicht nur durchs Wort die Buße. Er predigt im Osten durch den Donner der Kanonen, durch das Seufzen und Stöhnen von Tausenden, die als Kriegsopfer hingeschlachtet werden. Er predigt in Indien durch eine grässliche Hungersnot. Er predigt bei uns durch Geschäftsstockung und Arbeitslosigkeit, durch viel Unglück, das er zulässt, durch allerlei Not, die er hereinbrechen lässt, durch Wolkenbrüche und Hagel, die auch in diesem Jahr großen Schaden angerichtet haben. Alle diese Predigt lautet: Tut Buße und bekehrt euch, dass eure Sünden vertilgt werden. Als im vierzehnten Jahrhundert der schwarze Tod und anderes Unglück den furchtbaren Ernst der göttlichen Gerechtigkeit gezeigt hatte, ging eine mächtige Bußbewegung durch die Völker. Die Gemüter waren so tief erschüttert, dass große Gesellschaften sich bildeten, in denen Vornehme und Geringe, Greise und Jünglinge, ja Knaben lange Prozessionen veranstalteten, die von Ort zu Ort gingen, je zwei und zwei, bis auf den Gürtel entblößt, mit schwarz oder weiß verhüllten Häuptern, klägliche Bußlieder singend und mit Geißeln den entblößten Rücken schlagend, bis das Blut lief. Sie meinten nach den damaligen Begriffen auch äußerlich ihr Fleisch kreuzigen zu müssen. Diese äußere Selbstpeinigung müssen wir natürlich missbilligen und verwerfen als eine krankhafte Erscheinung, die gegen den Geist und das Wort Jesu Christi ist. Aber das können wir doch nur anerkennen, dass jene Büßenden den Anstoß gaben zu einer allgemeinen Bewegung, in der Viele allen Eitelkeiten entsagten, die leichtsinnigen Lieder verstummten, Betrüger, Räuber und Diebe das ungerechte Gut zurückgaben, Entzweite sich versöhnten, Männer und Frauen große Werke der Barmherzigkeit taten und Unzählige ihre Sünden bekannten und um Gnade zu Gott seufzten. Ach, dass eine solche allgemeine Bußbewegung auch durch unser ganzes Volk ginge! Durch das ganze Volk ist ja die Sünde und der Abfall gegangen, durch das ganze Volk muss darum auch die Buße gehen. Nur so können wir aus den unerquicklichen und tief zu beklagenden. Zuständen in Kirche und Staat, in Schule und Haus herauskommen, nur so kann dem tausendfachen Jammer und Elend, worein uns die Sünde und der Abfall von Gott gebracht hat, abgeholfen werden. Da hilft keine Verfassungsrevision; da helfen keine neuen Gesetzesparagraphen und Organisationen, keine Regierungserlasse, Verordnungen und Reglemente. Du, Volk, musst dein Herz und Leben revidieren, deinen Wandel in eine neue Verfassung bringen, und dich im Geiste des Gemütes erneuern. Da hilft keine Aufklärung, Bildung und Fortschritt. Du, Volk, musst dich bilden nach dem Bilde deines Gottes, dein Herz und Leben aufklären und helle machen im Gnadenschein Jesu Christi, deines Heilandes, und im Lichte seines Wortes, und fortschreiten auf dem schmalen Pfad, der zum Leben führt. Da helfen keine neuen Lappen auf das alte Kleid. Nur Eins kann uns helfen Buße, aufrichtige, demütige, herzliche Buße, Reue und Umkehr zu Gott, Umkehr zur Nüchternheit aus dem Schwindel, Umkehr zur Wahrheit aus der Lüge und Phrase, Umkehr zur Einfachheit aus dem übertriebenen, üppigen Wesen, Umkehr zur Gottesfurcht und Frömmigkeit aus der Gottlosigkeit und Gottesvergessenheit, Umkehr zur Demut aus dem Hochmut, Umkehr zum Glauben aus dem Unglauben, Umkehr zu dem lebendigen Gott von den toten Götzen dieser Welt.
Darum ergeht heute der Ruf zur Buße an alle ohne Ausnahme, an jedermann ohne Ansehen der Person. Du liebe Gemeinde, du liebe Stadt Bern, du liebes Berner Volk, das wir in treuer, inniger Liebe umfassen, tue Buße! Demütige dich vor deinem Gott, den du beleidigt hast; kehre um zu deinem Gott, den du verlassen hast, dass er nicht mehr länger klagen muss: Ich habe Kinder auferzogen, und sie sind von mir abgefallen. Ach dass meine Stimme zu Tausenden dringen und sie zur Buße erweichen könnte. Tut Buße, ihr Regenten des Volkes, Großräte und Regierungsräte; tut Buße, ihr Bürger des Landes; tut Buße, ihr Prediger und Zuhörer, Lehrer und Schüler; tut Buße, Reiche und Arme, Vornehme und Geringe, Gesunde und Kranke, Junge und Alte, Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen, Meisterleute und Dienstboten; tut Buße, Gelehrte und Ungelehrte, Fromme und Gottlose, Bekehrte und Unbekehrte; tut Buße, dass eure Sünden vertilgt werden, auf dass da komme die Zeit der Erquickung vom Angesicht des Herrn. Ja, vom Angesicht des Herrn, der uns Buße schenkt von Herzensgrund und so allein mit uns
III. erneuert seinen Gnadenbund.
Den bußfertigen Herzen schenkt der Herr seine Gnade. So hat er's gehalten, so lange die Welt steht; und so wird er's halten, so lange die Sonne am Himmel auf- und niedergeht. Den demütigen, bußfertigen, reumütigen Sündern gibt Gott Gnade. Mit solchen Seelen erneuert er seinen Gnadenbund, den er schon in der Kindheit mit uns geschlossen hat durch die heilige Taufe, und spricht zu ihnen: „Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit, ich will mich mit dir vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit, ja im Glauben will ich mich mit dir verloben und du wirst den Herrn erkennen.“ Sie dürfen aus seiner Fülle nehmen Gnade um Gnade. Und wenn ihre Sünde gleich blutrot ist, so soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, so soll sie doch wie Wolle werden. Sie dürfen jauchzen in dem Gott ihres Heils und singen:
Die Gnade sei mit allen,
Die Gnade unsers Herrn,
Des Herrn, dem wir hier wallen,
Und sehn sein Kommen gern.
Auf dem so schmalen Pfade
Gelingt uns ja kein Tritt,
Es geh' denn seine Gnade
Bis an das Ende mit.
Auf Gnade darf man trauen,
Man traut ihr ohne Reu;
Und wenn uns je will grauen,
So bleibt's der Herr ist treu.
Dagegen wehe dem, der nicht Buße tun will. Er darf auf keine Gnade hoffen, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit. Für ihn bleibt nur übrig ein schreckliches Warten des Gerichts und des Feuereifers Gottes, der die Widerwärtigen verzehren wird. Ach mit welchem Entsetzen werden einmal die gleichgültigen, selbstgerechten, sicheren, leichtsinnigen, trotzigen Sünder, die da meinen der Buße nicht zu bedürfen und darüber spotten und lachen, drüben im andern Leben aufwachen, wenn sie vor den Richterstuhl Christi gestellt werden, um nach dem strengen Recht der göttlichen Gerechtigkeit und Heiligkeit ihr Urteil zu empfangen. Dann ist es zu spät zur Buße, ja zu spät! Dann geht es nach den Worten, die am Schluss unsres Textes geschrieben stehen: „dass die Übertreter und Sünder mit einander zerbrochen werden, und die den Herrn verlassen, umkommen. Denn sie müssen zu Schanden werden über den Eichen, da ihr Lust zu habt, und schamrot werden über den Gärten, die ihr erwählet; wenn ihr sein werdet wie eine Eiche mit dürren Blättern und wie ein Garten ohne Wasser; wenn der Starke wird werden zu Werg und sein Tun wie ein Funke, und beides mit einander angezündet werde, dass niemand lösche.“ Da ihr Wurm nicht stirbt. und ihr Feuer nicht erlischt. Herr, bewahr‘ uns in Gnaden vor solcher Verdammnis!
Herr, tu uns unsre Sünden kund,
Und schenk uns Buß von Herzensgrund,
Erneure so den Gnadenbund.
Amen.