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Keller, Samuel - Hebräerbrief

Keller, Samuel - Hebräerbrief

Kapitel 1

„welchen er gesetzt hat zum Erben über alles“
Heb. 1, 2

Wenn des Alltags müdemachende Enge uns niederdrückt, so kann man diesen Eindruck auf verschiedene Weise überwinden: dadurch, daß man sich fremder Not erinnert und etwas zu ihrer Linderung tut, oder daß man an frühere Großtaten Gottes in unserem Leben denkt und dadurch froh zum Dank gestimmt wird, oder daß man einen großen Blick in die Zukunft des Reiches Gottes tut. Die letzte Methode fiel mir heute Abend ein, als ich vorstehende Worte las. Was hat's denn zu bedeuten, wenn meine Lage jetzt eben dürftig und meine Erfolge klein und meine Stimmung gedrückt ist! Jesus ist doch schon von Gott zum Erben über alles eingesetzt: sein ist doch der endliche Sieg! In der unsichtbaren Welt feiern sie schon Siegesfest und freuen sich, daß Jesu alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. Nur uns hier unten kommt's bisweilen so vor, als ob der Regen zu lang dauert und als ob die Sache nicht von der Stelle käme und als ob wir zu klagen hätten über geringe Dinge. Das Licht der Zukunft bricht schon jetzt hell herein unter und hinter dem Gewölk, das uns jetzt noch seine Schauer sendet.

Dennoch, Herr Jesu, dennoch bist du Gottes Erbe und bekommst alles in deine Hand. Laß mich das heute von ferne spüren und ahnen, daß ich nicht schwach und traurig, sondern voll seliger Hoffnung schlafen gehen darf. Du siegst, du kommst bald! Ja, komm, Herr Jesu! Amen.

„er hat gemacht die Reinigung unserer Sünden durch sich selbst“
Heb. 1, 3

Von wievielen Gesichtspunkten aus man diesem Gedanken sich naht, es bleibt doch wie bei einer Hochalpe - etwas Schweres übrig, eine anstrengende, bemühende Steigung. Man muß mit dem gläubigen Herzen die Wirklichkeit der Gottesgeheimnisse erleben und kann sie als eine befreiende Kraft erfassen, aber verstandesmäßig läßt sich das Wunder der Versöhnung nicht fassen. Ohne Anstrengung, ohne Herzklopfen und Atemmangel kommt man nicht zur Höhe des Berges. So haben wir etwas durchzumachen, etwas dranzuwenden, bis der Glaube sein Ziel erreicht und die Gnade uns rechtfertigt. Jesus hat auch sein Ziel nicht spielend erreicht, sondern sterbend, unter Hingabe seiner ganzen Persönlichkeit, unter Einsetzen seiner reinen Seele. Sollten wir um des seligen Erfolges willen nicht auch etwas drangeben können? Vorurteile, Sündenliebe, Trägheit und Unentschlossenheit - das muß weg, wenn wir die Reinigung, die Befreiung von der Sünde erfahrungsgemäß unser eigen nennen wollen. Die Sache ist umsonst; nur der Weg dahin kostet uns etwas. Wer da sich nicht Gewalt antun mag, der bleibe im Tal, wo die Dünste der Sünde den Blick hemmen und wo man unter dem Druck der Schuld bleibt.

Nein, zieh uns, Herr Jesus! Treib uns auf aus der Schlaffheit und Selbstverliebtheit, die sich vor dem Gericht deines Reinigungswerkes scheut. Wir haben die Reinheit nötig. Hilf uns zum lebendigen Glauben und Nehmen deiner Gnade. Amen.

Kapitel 2

„Wie wollen wir entfliehen, so wir eine solche Seligkeit nicht achten?“
Heb. 2, 3

Kann diese Frage im Ernst noch an Menschen gestellt werden, die jetzt schon etwas von solcher Errettung genießen? Oder paßt sie nicht vielleicht nur auf solche, die, weil sie die Kraft und Wirklichkeit Jesu gar nicht erfahrungsgemäß einschätzen können, sich von der bloßen Heilsbotschaft geringschätzig abkehren? Müßte dann nicht die Fürbitte Jesu ihnen allen gelten: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Damit ein Schuldmoment hinzukomme, muß der Mensch doch wenigstens davon überzeugt werden, daß ihm mit diesem Evangelium eine große, herrliche, wichtige Gabe nahe kommt und daß er sein Heil von sich stößt, wenn er nicht darauf eingeht. Vielleicht paßt die Mahnung auch auf uns, wenn wir uns vom Gefühl des Augenblicks vortäuschen lassen, als wären Schmerzen und Sorgen von heute größer und schrecklicher als die gewisse Errettung von der Sünde durch Jesus. Prüfe dich, mein Herz, ob dir in jedem Augenblick die Größe deiner Seligkeit so deutlich vor dem inneren Sinn steht, daß daneben die kleinen Erdendinge auch wirklich so erscheinen, wie sie in der Tat sind - nämlich wirklich klein!

Herr, unser Gott, gib uns dankbare Herzen für die erlebte Errettung und laß uns groß erscheinen, was groß ist, daß wir davon einen richtigen Maßstab für all das andere hernehmen. Ist uns die Seligkeit gewiß, dann nimm den Erdendingen ihren Glanz und ihre Größe. Amen.

„Denn wiefern er gelitten hat als einer, der selbst versucht worden ist, kann er denen, die versucht werden, helfen.“
Heb. 2, 18

Viele unserer nächstliegenden Versuchungen, die aus unserem verdorbenen Fleischesleben stammen, hat Jesus nie gehabt, weil sein Sinnenleben rein war. Seine schwersten Versuchungen, die sich auf seine freiwillige Berufspflicht bezogen, werden wir nie durchkosten, weil wir für sie kein hinreichendes Verständnis haben. Mögen so Art, wie Grenzen der Versuchung (nach oben und nach unten), bei Jesus und uns ganz verschieden sein, so liegt in der bloßen Tatsache, daß er versuchlich war und alle Versuchungen glänzend abgeschlagen hat, für uns doch Trost und Hilfe genug. Wie nah ist er uns dadurch geworden! Wie versteht er unsere Schwachheit und wie viel Mitleid hat er mit uns! Jetzt wird es erst zur doppelten Verschuldung, wenn wir angesichts eines solchen Hilfsmittels dennoch fallen. Jetzt müssen wir doch, sobald uns die Gefährlichkeit einer Stunde zum Bewußtsein kommt, uns an seine nahe Hilfe wenden! Tun wir das, so strömt der Frieden seiner Nähe wie Öl auf die erregten Sinne oder Nerven, und die böse Spannung ist behoben. An ihm liegt's nicht, wenn seine Leute in einen Betrug der Sünde willigen.

Ja, Herr Jesus, du kannst uns helfen. Du willst uns helfen! Du streckst schon die Hand dem Sinkenden entgegen. Erbarme dich unser und halte selbst dein schwaches Kind. Erinnere mich an dein: bewahrende Gnade und hilf mir hindurch, daß ich deinen Sieg erlebe und dir Dank sagen darf. Amen.

„Denen, die versucht werden.“
Heb. 2, 18

Ist das nicht eine erschütternde Beschreibung von uns! Was ist bezeichnender für unsere Erdentage, als daß wir aus einer Versuchung in die andere geworfen werden. An einem Tage kann es eine ganze Reihe der verschiedensten geben: fleischliche, nervöse, feine, seelische, fromm dreinblickende, rein geistliche Warum das alles? Ächzt nicht mancher verzweifelt: „Wäre die Versuchung nicht gekommen, wäre ich noch rein!“ Aber sei doch gerecht: jedes Ding wird erst erkannt an seinem Gegensatz. Ohne Versuchung gäbe es keine sittliche Freiheit, keine Offenbarung des Guten, keine Bewahrung. Auch die geistlichen Muskeln können nicht anders gestärkt werden als durch Anspannung bis aufs äußerste. Wir sind ja außerdem nicht allein mit unseren Versuchungen: Jesus ist dazu versucht worden, damit er nicht nur für sich in ihnen allen ein Sieger bleibe, sondern damit er nun Mitleid mit uns haben und helfen könne denen, die versucht werden. Das ist doch eine der starken Bezeugungen seines Lebens und seiner Barmherzigkeit, daß er in jeder Versuchung bei uns steht und uns seine Hilfe anbietet. Wenn wir nur dann uns zu ihm flüchten, kann er dem Feuerpfeil der abgefeimtesten satanischen Versuchung die Spitze abbrechen.

Dann laß mich nie allein, Herr Jesu! Ich sehne mich nach deiner täglichen Bewahrung; ich traue mir nichts, dir alles zu. Hilf mir hindurch, bis alle Versuchung zu Ende ist. Amen.

Kapitel 3

„des Haus sind wir, so wir anders die Freudigkeit und den Ruhm der Hoffnung bis ans Ende fest behalten.“
Heb. 3, 6

Die christliche Hoffnung ist eine Art Stiefkind; viele Zeitgenossen wissen nichts Rechtes mit ihr anzufangen. Allenfalls läßt man sich ein Wort der Hoffnung an Sarg und Grab gefallen. Die Apostel standen anders zur Hoffnung. Sich von ihr jetzt Freudigkeit in allen Schwierigkeiten geben zu lassen und sich mitten in seiner Armut der Hoffnung auf den Reichtum Christi zu rühmen, ist eine Kunst, die nicht viele können. Man muß aber beides - Freudigkeit durch die Hoffnung und Ruhm (über die Gewißheit solcher herrlichen Aussicht kommt uns das Rühmen des Herrn, wenn auch die Herrlichkeit noch zukünftig ist!> erst wirklich haben, wenn die Mahnung einen Sinn haben soll: bis ans Ende fest behalten. Hast du solche Hoffnung nicht, mußt du sie dir durch den Glauben reichen lassen. Kennst du sie schon, hältst du sie als köstliches helles Licht fest in beiden Händen, dann hebe das Licht beim Durchschreiten deiner täglichen Stimmungen und Nöte über diese dunklen Wasser heraus, damit es nicht naß wird und erlischt. Je fester wir an solcher Hoffnung halten, desto leichter kommen wir über Zeiten der geringen Dinge im Alltag hinüber.

Herr, wir hoffen auf dich und möchten das noch immer besser lernen, damit der Kleinglaube und die Kurzsichtigkeit von heute verscheucht werde durch der Hoffnung Hauch. Deine Zukunft ist gewiß; laß unsere Hoffnung darauf ebenso gewiß werden. Amen.

„Daß nicht jemand unter euch ein arges ungläubiges Herz habe, das da abtrete vom lebendigen Gott.“
Heb. 3, 12

Wie kann es dazu kommen, daß jemand vom lebendigen Gott wegtritt? Ein trotziges Kind, das seinen Willen nicht durchsetzen konnte, will jetzt auch keine Liebkosung von der Mutter dulden; es biegt den Kopf zur Seite, es macht sich mit Gewalt hart, um sich nicht weich machen zu lassen. Wie kommt ein Mensch in solche Verfassung Gott gegenüber? Wenn Gott ihm seinen Willen nicht tut. „Weil er mir mein Kind hat sterben lassen“, sagte mir einst eine Mutter, „will ich nichts mehr von ihm wissen, nie!“ Die Richtung des Mißtrauens, des Unwillens führt sie zum Unglauben, und dann gibt es bald durch den Betrug der Sünde auch die Tat: Wegtreten von Gott weg. Was hilft's? Er ist der Lebendige; du kannst ihm doch nicht entlaufen. Und wenn du tausend Schritte oder Meilen von ihm wegeilst, bleibst du doch in seiner Hand. Was wird dann dein Los werden? Die Liebe zu Jesus und die Liebe Jesu zu uns darf nicht gestört werden. Unser herzliches Vertrauen zu ihm darf nicht erschüttert werden. Sonst kann, wer weiß was, aus dieser geheimen Erkältung erwachsen. Trage deine Seele alle Tage in deinen Händen!

Herr Jesus, du weißt alle Dinge! Du weißt, daß ich dich lieb habe. Ich kann den bloßen Gedanken nicht ertragen, daß deine Liebe mir nicht mehr sollt gelten, oder daß meine Liebe zu dir geschädigt würde. Darum erbarme dich meiner und halte mich fest. Ich bin dein! Amen.

Kapitel 4

„weil es nicht durch den Glauben vereinigt war mit denen, die es hören.“
Heb. 4, 2

Das Wort Gottes kann uns nur nützen, wenn es mit unserem Herzen eine Verbindung eingeht. Solange zwei aufeinander angewiesene Naturkräfte säuberlich voneinander getrennt bleiben, geschieht nichts; erst wenn sie sich vereinigen, gibt es etwas Neues oder wirkt sich die Mischung in besonderer Richtung aus. So muß die Kraft des Wortes sich mit dem glaubenden Herzen innerlich vereinigen, damit seine Wirkung im Leben des Menschen an den Tag komme. Wenn uns ein scharfes Bußwort traf, und wir ließen uns unsere Sünde leid sein, dann wurde in Reue und Selbstgericht die Kraft dieses Wortes offenbar. Oder wie mächtig durchflutete uns dieselbe Kraft, wenn das erschrockene Gewissen getröstet wurde von einem Wort der Gnade! Aber immer kommt es auf die lebendige Auffassung und Aufsaugung der im Wort vorhandenen Gotteskraft an. Wir müssen aus dem Wort Gottes die Lebenskräfte herausfinden und in unser Leben hineinleiten, damit etwas Segensreiches zustandekomme. Suchen wir mit Gebet die Stelle, wo das Leben quillt!

Ach, Herr, wir sind träge und tot deinem Wort gegenüber. Hilf uns, daß sich die geheimnisvolle Tür desselben auftue und wir uns mit der Kraft, die daraus hervorgeht, innerlich vermählen und vereinigen. Müde und matt, sehnen wir uns nach Kraft, und deine Kraft sucht nach uns, um sich zu offenbaren. Segne uns! Amen.

„bis daß es scheidet Seele und Geist“
Heb. 4, 12

Man kann das Wort im Zusammenhang des ganzen Spruches auch anders auslegen; mir kam nur soeben in den Sinn, was es auch bedeuten könnte: die Scheidung zwischen seelischem und geistlichem Leben. Dazu ist allerdings das kräftige Wort Gottes auch die beste Waffe. Es macht uns in seiner schneidenden Schärfe den Unterschied klar, der zwischen dem bloß psychischen Untergrund unseres Innenlebens und dem neuen Wesen besteht, was der Heilige Geist bewirkt hat. Auch beim natürlichen Menschen gibt's im Gemüt eine Resonanz des Wortes Gottes; mancher wird erschüttert und zu Tränen gerührt. Die Scheiben klirren, wenn ein schwerer Wagen dröhnend vorüberfährt. Aber klirrende Scheiben gehören nicht zum Wagen! Das kann alles Fleisch sein - Nerven, und diese werden ja nie bekehrt. Geist ist dagegen die höhere Form des Innenlebens, wo der Geist Gottes zur Wirksamkeit kommen will. Da müssen seine Wirkungen im Willen und Gewissen offenbar werden. Starke Impulse zu neuem Werden und Wachsen müssen sich durchsetzen. Entschlüsse, die nicht aus dem Fleisch stammen, sondern von oben her sich spürbar machen, Selbstverleugnung, Durchkreuzung des Ichlebens, Ansätze der Ewigkeit im Alltagsleben.

Wir kennen das, Herr Jesu, aber wir möchten klagen: der Geist ist schwach gegenüber dem mächtigen Fleisch. Dringe du durch mit der Neuregelung aller Verhältnisse und regiere du in uns. Segne dazu dein Wort in uns. Amen.

Kapitel 7

„welcher nicht nach dem Gesetz des fleischlichen Gebotes gemacht ist, sondern nach der Kraft des unendlichen Lebens.“
Heb. 7, 16

Nach dem Gesetz des Mammonismus kann es keinen Wichern und Bodelschwingh, keine einzige Diakonisse gegeben haben, deren Lebensmotiv selbstlose Liebe gewesen ist. So hier: nach dem Gesetz des fleischlichen Gebotes kann es keinen sündlosen Heiland geben, der für uns zu sterben bereit ist und der nachher als der Auferstandene seine Reichsgemeinde in aller Welt leitet und belebt. Aber nach der Kraft des unendlichen Lebens, d.h. nach der Wirkung der Liebe Gottes hat es solchen Eingriff in die menschliche Geschichte gegeben, und seither ist in Jesu Reich eine Drahtleitung vorhanden, durch welche unendliches Leben hingeleitet werden kann. Die letzte Kraftzentrale ist das Herz Gottes; von daher strömt das unendliche Leben heraus. Wie ungeheuer weit ist schon der Spielraum des endlichen Lebens in seinen Geschöpfen auf Erden. Wie groß wird dann das unendliche Leben sein, das Jesus uns zu bringen kam! Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Achte mit heiliger Ehrfurcht auf jede Bezeugung desselben in deinem Herzen: es ist ein Stückchen Ewigkeit. Wird irgendwo und wie etwas davon sichtbar, dann blitzt die Unsichtbarkeit in unsere Alltagswelt hinein.

Herr, zeige uns die Geheimnisse des unendlichen Lebens, soviel unsere blöden Sinne jetzt davon fassen können, damit unsere Sehnsucht stärker und unser Wandel treuer wird. Wir freuen uns deiner und unserer Zukunft im Licht! Amen.

Kapitel 10

„wir haben die Freudigkeit zum Eingang in das Heilige durch das Blut Jesu.“
Heb. 10, 19

Der Eingang in das Heilige war verschlossen, bis das große Geschehen von Golgatha ihn aufriß. Jetzt ist er offen. Durch das, was wir bei unserem Gläubigwerden erlebten, ist uns auch die Freudigkeit gekommen, da hinein zu gehen. Aber nun kommt's doch alle Tage darauf an, daß wir aus dem Bereich des Unheiligen die Schwelle des Heiligtums überschreiten. Das kann das Blut Jesu nicht für uns tun. Das kann unser geistlicher Führer oder die Kirche nicht für uns tun. Das kann alle Fürbitte unserer Freunde nicht für uns tun. Das können nur wir selbst tun.

Aber das wollen wir auch tun, so wahr du uns dabei hilfst, Herr Jesu! Ziehe unsere Herzen durch deine geheimnisvolle Anziehungskraft jeden Tag so stark an dich, daß wir die Höhe der Schwelle oder die Engigkeit des Eingangs oder die Dunkelheit der Türöffnung nicht scheuen. Wir haben es ja schon oft erfahren, daß, wenn wir alle Einwände und Bedenken niederschlugen, dann im nächsten Augenblick das Licht deiner Nähe uns umflutete. Stärke uns alle Tage die Freudigkeit zum Eingang in das Heilige. Unser Fleisch und Blut macht alle Tage dieselben Ausflüchte - aber dein Blut hat die alte Kraft. Laß uns heute Abend noch alle stille werden an deinem Herzen und schließ hinter uns zu, daß das Unheilige draußen bleibe und du uns habest und wir dich. Wir möchten ruhen unter deinem Schutz und morgen als die von dir Erfrischten mit neuem Mut laufen die Bahn. Amen.

„Wir sind von denen, die da glauben und die Seele erretten.“
Heb. 10, 39

Das allein wird uns von den Ungläubigen oder Halbgläubigen schon als schändlicher Hochmut ausgelegt, daß wir unseres Glaubens und damit unserer Seelen-Errettung gewiß geworden sind. Mag sein, daß sie dabei ein wenig das schlechte Gewissen mit dem Vorwurf plagt: warum hast du selbst deine Erwählung nicht festgemacht? Aber ich wüßte wirklich nicht, was eine Ungewißheit des Heilsglaubens für einen Sinn haben sollte. Entweder Gewißheit oder nichts! Soll ich in Stunden, wo mein Gefühl versagt, oder meine Stimmung schlecht ist, oder der Augenschein gegen Gottes Gnade sprechen will, mich ebenso trösten können wie im bangen Sterben, dann muß es dieses Trostes Stärke sein, daß er zuverlässig ist. Unser Glaube macht dazu Belastungsproben durch, wie eine neue Eisenbahnbrücke, bis einem der Zweifel, als ob das alles Einbildung sei, ebensowenig mehr kommt, als dem Zugfahrer, der täglich über diese Brücke fährt. Fester als alles Irdische, gewisser als die Wirkung der Naturgesetze, ja als meine eigene leibliche Existenz wird mir der Glaube: Da in der unsichtbaren Welt ist jemand, der ist ewig, gut, stark, und der hat mich lieb und hält mich in seinen Händen und garantiert mir eine ewige Seligkeit.

Wir danken dir, Herr Jesu, daß du alles getan hast, um unsern Glauben erst zu entfachen, dann ihn zu verankern und ihn zu stärken. Nun bitten wir dich, kröne ihn mit dem Ende, des wir warten. Amen.

Kapitel 11

„Durch den Glauben haben die Alten Zeugnis überkommen.“
Heb. 11, 2

Klingt das nicht wie ein leiser Verzicht? Die Alten haben solches Zeugnis erhalten - und wir gehen leer aus. Soll das heißen, daß wir uns nur an ihre Erfahrungen zu halten haben? Das würde weder mit meiner Erfahrung noch mit meinem Schriftverständnis stimmen. Zuerst allerdings hat das Zeugnis, das andere bekamen, für uns grundlegende Bedeutung bei der Entstehung unseres Glaubens. Angezündet wurde die Flamme durch deren Bezeugung; empor schlug sie, als die Schriftwahrheit mit meinem eigenen Glauben zusammenstimmte und dadurch erst recht lebendig wurde. Aber genährt ist die Flamme doch nachher durch die Erfahrungen des lebendigen Heilands, und zwar durch dreifache Zeugnisse, die mir kein Mensch wegreden kann. Religiös habe ich so viel Antworten seiner Gnade erlebt, daß meine Seele den Anfechtungen zum Kleinmut und der Verzagtheit nicht erlag; sittlich habe ich manchen Kraftzufluß und manchen Sieg über meine Sünde erlebt, und im Punkt der Gebetserhörungen - sei es Geldnot oder Krankheit, eigene oder fremde, eigene Schwierigkeiten in der Lebensführung oder auffallende Hilfen für andere - ich bin wohl tausendmal reich gesegnet worden!

Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit und Treue, die du, mein Herr und Heiland, an mich gewandt hast. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat. Nein, ich vergesse nicht und preise deinen Namen! Amen.

Kapitel 12

„lasset uns aufsehen auf Jesum“
Heb. 12, 2

Sagt da ein armer seelenblinder Mann: Jesus habe überhaupt nie gelebt - so kann der Mann einem leid tun. Was hat er von seinem Leben ohne Jesus? Woran hat er solches Schielen, solches Vorbeisehen gelernt? Kamen ihm denn keine wahren Jünger Jesu in den Weg, die ihm etwas von der Herrlichkeit, der verborgenen Schönheit offenbaren konnten? Wir können es ja gar nicht mehr lassen, seit unsere Seelen mit weitgeöffnetem Blick Jesum erspäht, als nach ihm zu blicken ohn' Unterlaß. Die leiblichen Augen geschlossen, die Hände gefaltet, so sehen wir den König in seiner Schöne, so kann er sich uns offenbaren - auch ungesehen. Immer wieder sehen wir von uns weg, von unseren Wünschen und Träumen weg, nur auf ihn. Wie wir ihn erlebt haben, wie wir seine Liebe erfuhren, wie er sich ernst oder mild zu uns geneigt, als wir in Trauer und Tränen saßen, so erscheint er jedem in einer ganz besonderen Art, aber doch so, daß wir mit heimlichem Beben und süßem Schauer spüren: Es ist der Herr! Darum, laßt uns aufsehen - von der Erde weg, vom Niedrigen weg auf Jesum und auf ihn allein.

Meine Augen suchen deine Augen, Herr Jesus! Mein Herz sehnt sich nach deinem Herzen. Lege deine Worte in meinen Mund und deinen Wink in meinen Willen und dein Tun in meine Hand und deinen Weg vor meinen Fuß. Amen.

„lasset uns aufsehen auf Jesum“
Heb. 12, 2

Zwei Arten von Blicken haben mir viel geschadet in meinem Heiligungsleben; dagegen geholfen hat nur die dritte Art. Der eine gefährliche Blick war der auf andere Christen. Entweder rief er den Richtgeist wach und den Hochmut, weil ich mir besser und frömmer vorkam als sie, oder den Neid und die Unzufriedenheit, wenn mir schien, sie hätten es leichter als ich. Der zweite Blick war der aufs eigene Herz. Bisweilen achtete ich so scharf auf jedes Abtun einer bestimmten Sache, als gäbe es außerdem nichts, oder ich studierte meinen Fortschritt in der Heiligung am Ernst meiner Gebete. Mutlos oder übermütig bin ich durch diese Art von Selbstbeobachtung oft geworden; - besser nie. Lasset uns aufsehen auf Jesum! Das ist der Lebensblick! Wie oft hat dieser Blick mich froh und frei gemacht. Ein einziger Blick in seine Augen beschämte meinen Trotz oder Kleinglauben, verscheuchte eine schillernde Versuchung oder schuf mir Geduld und Liebe, wie ich sie gerade brauchte. Seither messe ich meine eigenen Fortschritte nicht, sondern hänge an seinen Augen. Nur dann kann ich die leiseste Trübung durch eine Untreue sofort spüren; nur dann kann er mich mit seinen Augen leiten.

Und du, Herr Jesus, laß uns leuchten dein Antlitz. Sieh mich freundlich an, so bin ich erquickt. Ich bin ein verlorenes, armes Kind, wenn ich deine Augen nicht entdecken kann. Du bist meiner Augen Licht. Ach Herr, verlaß mich nicht! Amen.

„Noch einmal will ich bewegen nicht allein die Erde, sondern auch den Himmel auf daß da bleibe das Unbewegliche.“
Heb. 12, 26 - 27

Das Bewegliche - das sind und kennen wir selbst: das Menschenherz, die Völkermeere, die Meinungen und Moden! Die Erde, die sich drehend um sich selbst und um die Sonne, fort und fort bewegt, zeigt im Zucken ihrer Rinde, daß sie vor ihrem Ende steht - wie wird sie noch kurz vorher bewegt werden! Der Himmel mit seinen feierlich aussehenden Lichtern, die sich rasend im Riesenraume bewegen - was wird er noch erleben, ehe er dem neuen Himmel weichen muß? Was für eine Aussicht! Was bleibt dann als das Unbewegliche? Ein Forscher sagt: „Das höchste und letzte Naturgesetz, in dem alles ruht, ist Gottes Liebe. Und ich bin gewiß, daß ich in dieser Liebe durch Jesum Christum sicher gebettet den Weltuntergang überstehen werde.“ Im Unbeweglichen ist unsere Zukunft: der neue Himmel und die neue Erde. Bis daß Gott sei alles in allem! Damit will ich heute Abend mein unruhig klopfendes Herz stillen. Gottes Größe, Gottes Liebe, da machen meine Gedanken halt. Darüber hinaus gibt's nichts. Das ist das Unbewegliche, in dem ich mich bergen kann wie die Taube in der Felsenritze Zuflucht findet vor Habicht und Unwetter.

Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für! Und wenn die Berge mitten ins Meer sänken und die Welt untergeht, ich habe ewiges Leben und selige Liebe in dir gefunden. Nimm mich, du Ewiger, und trage mich heim! Amen.

Kapitel 13

„derselbe in Ewigkeit.“
Heb. 13, 8

Je nachdem wir bestimmte Vorstellungen mit dem Wort verbinden, kann uns das Wort „derselbe“ schmerzen wie ein Peitschenhieb oder wohltun wie Mutterliebe. Ist das nicht unser Elend, unsere Schande, unsere Trauer, daß wir nicht immer dieselben sind? Daß wir bald großmütig, bald engherzig, hier stark, dort feige, gestern brennend in der Liebe Jesu, und heute lau und laß sind! Demgegenüber bleibt er sich gleich. Er kann seine eigentliche Art nicht verleugnen; da ist kein Wechsel von Licht und Finsternis; seine Absicht, uns zu segnen und uns zu fördern und für das Erbe der Ewigkeit zu erziehen, ist alle Tage die gleiche. Unsere Stimmung, unser Gefühl hat damit gar nichts zu tun; wir müssen nur an seine starke, stetige Liebesabsicht glauben und uns in die Burg zurückziehen, dann mögen die Nebel unserer elenden Gefühle draußen wogen wie ein Meer: sie müssen die feste Burg doch stehen lassen. Und derselbe Jesus, der unsere Ewigkeit hat und unserer Zukunft Trost bleibt wird über die Augenblicksstimmungen wieder Herr werden, daß ich mich schämen muß, überhaupt so verzagt und verstimmt gewesen zu sein. Wann werde ich ihm darin ähnlich werden, daß er auch auf mich sich verlassen kann?

O, Herr Jesu, mache mir die alten Erfahrungen von gestern lebendig für das Heute, damit ich mich mit meinen Schmerzen, Schwächen und Sorgen bergen lerne in das Vertrauen: Du seist derselbe! Deine Liebe bleibt sich gleich. Amen.

Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, welches geschiehet durch Gnade.
Hebr. 13,9

Ein Lehrer hörte einst vier seiner Schüler in ihrem Gespräch die Frage aufwerfen und beantworten, was jeder werden wolle. Der erste sagte: „Ich will reich werden!“ Der zweite meinte: „Ich will so klug werden, wie alle meine Lehrer zusammen!“ Der dritte sprach: „Nein, ich will so berühmt werden, wie keiner von euch!“ Nur der letzte stockte erst, und dann hob er nachdenklich an: „Ich kann es nicht gleich so schnell sagen, aber ich meine, mein Vater hat wohl recht, wenn er mir immer sagt: „Karl, du kannst werden, was du willst, aber auf alle Fälle sollst du ein ganzer Mann werden!““

Ein ganzer Mann! Ein Mann aus einem Gusse! Ja, das klingt schön, und selbst die leichtsinnige Welt kargt nicht mit ihrem Lob, wenn sie voll Respekt von einem Menschen, der seinen Lebenslauf vollendet hat, sprechen muß: „Das war ein ganzer Mann!“ Wenn sie aber glaubt, daß so ein ganzer Mann aus einem Gusse sei, dann irrt sie sich wieder einmal, wie so oft. Bei ganz naturgemäßer Entwicklung der vorhandenen Anlagen und Schwächen, der gegebenen Art und Unart wird noch keiner ein ganzer Mann. Das geht nicht ohne Zerbrechen, und sie sollte doch mit dem Worte „ganz“ auch ganzen Ernst machen und bedenken, daß ganz zweierlei Bedeutung hat. Erstlich ist es das Gegenteil von zerbrochen, und zweitens liegt darin etwas von Vollkommenheit. Beides aber paßt eigentlich bloß auf das Tun Jesu an einem seiner Christen. Der himmlische Glockengießer muß den ersten fehlerhaften Guß zerbrechen und von neuem gießen; dann kann es zu einer Vollkommenheit kommen.

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