Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Philipper in 25 Predigten - Achtzehnte Predigt.

Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Philipper in 25 Predigten - Achtzehnte Predigt.

Schaffet, schaffet, Menschenkinder,
Schaffet eure Seligkeit.
Säumet nicht, wie sichre Sünder;
Schnell entfleucht der Gnade Zeit.
Unverweilt bekehret euch;
Ringet nach dem Himmelreich,
Und seid heilig schon auf Erden,
Selig einst bei Gott zu werden.

„Nicht dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei,“ spricht Paulus. - Aber wie gelangen wir denn zur Vollkommenheit? Etwa so, dass wir den alten Menschen nach und nach in einen neuen verwandeln, heute dieses und morgen jenes an ihm ändern und bessern? Nein, Christen, das ist nicht der Weg zur Vollkommenheit. Ihr wisst, was unser Erlöser sagt: Niemand flickt ein altes Kleid - Niemand fasst Most in alte Schläuche (Matth. 9). Es muss gleich zu Anfang eine so gründliche und durchgreifende Veränderung mit uns vorgeben, dass es heißen kann: Siehe, das Alte ist vergangen, es ist Alles in und an uns neu geworden, wie auch der Herr spricht: Es sei denn, dass Jemand von Neuem geboren werde, sonst kann er nicht in das Reich Gottes kommen (Joh. 3). Also eine gewisse Vollkommenheit tritt schon gleich mit unserer Bekehrung ein, und die Bekehrten, die Gläubigen, die Geistlich gesinnten werden auch „Vollkommene“ genannt in der heiligen Schrift. Sie sind vollkommen in Christo Jesu (Kol. 1,28); denn muss das nicht Vollkommenheit heißen, wenn Er Wohnung in ihnen macht und sie schmückt mit seiner Gerechtigkeit und seinem Frieden, so dass nun alle Sünde ihnen vergeben und nichts Verdammliches mehr an ihnen ist? - Sie sind vollkommen, weil sie wiedergeboren sind aus dem lebendigen und unvergänglichen Samen des Wortes Gottes, der in sie gepflanzt ist. Seht ein Weizenkorn an: liegt darin nicht schon alle Vollkommenheit der schönen Frucht beschlossen, die daraus wächst? Woher käme der Halm, woher käme die Ähre mit der zehn- oder zwanzigfältigen Frucht, wenn nicht Alles schon zuvor in dem Samenkorn wäre? Siehe, so pflanzt auch Gott in die Herzen der Gläubigen den Samen der Vollkommenheit, woraus die Frucht göttlicher Gesinnung und göttlichen Lebens wird, daher auch die Schrift diejenigen vollkommen nennt, die an das Evangelium als eine göttliche Weisheit glauben und es in sich aufnehmen (1 Kor. 2,6). - Sie sind vollkommen, weil sie erfüllt sind mit allem Willen Gottes (Kol. 4,12). Denn der heilige Wille Gottes, der sie lehrt, was sie glauben und wie sie leben sollen, treibt sie ja innerlich zu allem Guten an, und erfüllt ihr Fühlen, Denken, Begehren, Reden und Tun. - Das ist die Vollkommenheit zu Anfang unserer Bekehrung, davon unser Augsburgisches Bekenntnis sagt, Artikel 27: „Die christliche Vollkommenheit ist, dass man Gott von Herzen und mit Ernst fürchtet, und dabei eine herzliche Zuversicht, Glauben und Vertrauen fasst, dass wir um Christus willen einen gnädigen und barmherzigen Gott haben, dass wir äußerlich mit Fleiß gute Werke tun, und unsers Berufes warten, darin steht die rechte Vollkommenheit.“ Lasst uns nun hören, wie wir als die Vollkommenen uns zu verhalten haben.

Phil. 3, V. 15,16:
Wie viele nun unser vollkommen sind, die lasst uns also gesinnt sein, und wenn ihr über etwas verschieden denkt, so wird auch dieses Gott euch offenbaren. Doch, was wir erreicht haben, danach lasst uns wandeln.

Da zieht nun Paulus aus dem, was er zuvor gesagt, insonderheit aus den beiden vorhergehenden Versen, eine Schlussermahnung für die Christen. Zuvor hatte er gesagt: „Nicht dass ich schon vollkommen sei.“ Wenn er nun gleich nachher sich und die andern Christen dennoch vollkommen nennt, so bedeutet hier die Vollkommenheit etwas Anderes als dort. Hier meint er die Vollkommenheit, wenn man auf den Anfang, dort die Vollkommenheit, wenn man auf das Ziel und Ende sieht. Eine andere Vollkommenheit ist die des Samens, den man in den Acker pflanzt, eine andere Vollkommenheit die der reifen Frucht, die aus dem Samen gewachsen ist. So will nur der Apostel sagen: Wir sind zwar vollkommen, weil in uns der lebendige Keim und Anfang der Vollendung ist; aber nun lasst euch sagen,

woran man die Vollkommenen erkennt.

Und da weist er uns hin

  1. auf ihre Gesinnung,
  2. auf ihr Wachstum,
  3. auf ihren Wandel.

1.

So viele unser vollkommen sind - sind wir's denn nicht Alle? Ja, wenn wir durch unsere Gesinnung beweisen, dass wir es sind. So viele unser vollkommen sind, die lasst uns also gesinnt sein, wie der Apostel zuvor gesagt. Welche Gesinnung meint er? Zunächst die der Selbstverleugnung und Demut, die er uns früher vorgehalten hat. Er selbst hatte seine eigene Gerechtigkeit aufgegeben und dafür die Gerechtigkeit in Christo angenommen. Von da an berief er sich nicht mehr auf die Werke des Gesetzes, die er vollbracht, und wollte nicht mehr für einen Gerechten gelten, weil er für das Gesetz der Väter geeifert hatte. Allen früheren Ruhm warf er von sich wie Unrat, und wollte fortan nur für gerecht gelten um Christi willen, an den er glaubte. Darauf verweist er die Philipper, unter denen Etliche waren, die sich selbst vermaßen, als wären sie besser und vollkommener als die Übrigen. Worauf gründeten sie diesen Ruhm? Gewiss nicht bloß auf die Gnade Gottes in Christo; denn werden wir gerecht bloß durch die Gnade, so müssen wir ja allen Dünkel fahren lassen und bekennen, dass wir sündige Menschen sind. Es war also noch etwas von der alten Selbstgerechtigkeit in ihnen geblieben, so dass es ihnen ging, wie dem Pharisäer, der in den Tempel ging und sprach: Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin, wie andere Leute sind. Und mit dieser Gesinnung sollte die christliche Vollkommenheit bestehen können? Fürwahr, der ist nicht vollkommen, der sich selbst dafür hält, sondern die Vollkommenheit nimmt damit ihren Anfang, dass wir wie der Zöllner die Hand aufs Herz legen und sprechen: Gott sei uns Sündern gnädig! Ich weiß wohl, dass es Viele gibt, welche sagen: Mein Gewissen beißt mich nicht, und wenn wir sie fragen, warum sie sich für rein und gut halten, so verweisen sie auf ihr Herz und auf ihre Werke. Aber wenn nun Gott mit der Leuchte seiner Heiligkeit wollte in ihr Herz treten: sollte er nicht tausend Sünden darin finden? Woher kommen alle argen Gedanken, woher alle Übertretungen anders als aus dem Herzen? Berufe sich Keiner auf sein Herz, denn ist irgend etwas, das den Menschen zu einem Sünder macht, so ist es das Herz und das, was im Herzen verborgen ist. Und wenn Gott mit der Worfschaufel seiner Gerechtigkeit der Menschen Werke worfeln wollte: meint ihr nicht, dass sich wenig Weizen finden würde in dem großen Haufen ihrer Werke? Nun, so demütigt euch doch, liebe Christen, und die Gerechtigkeit, die ihr in euch selbst und in euren Werken nimmer finden werdet, sucht sie bei Christo, der uns von Gott gemacht ist zur Gerechtigkeit. Je weniger wir aus uns selbst und je mehr wir aus Christo machen; je eifriger wir danach trachten, dass wir ihn gewinnen und seiner Gnade, seiner Gerechtigkeit, seines Friedens teilhaftig werden, desto höher stehen wir in der christlichen Vollkommenheit. Er ist vollkommen, er allein, und wen er dazu macht. Wie ein Zweig, den man in einen guten Baum pfropft, aus dem Baum Kraft und Saft bekommt und tüchtig wird, zu wachsen und Frucht zu bringen: so erlangen wir durch die Gemeinschaft mit Christo alle Vollkommenheit. Denn in ihm gewinnen wir Vergebung, Frieden, Gerechtigkeit, Kindschaft; in ihm werden wir fromm und gut, bekommen ein neues Herz, einen neuen Sinn, und werden fleißig zu guten Werken. Willst du also vollkommen heißen und sein, so verlass Alles, was dein eigen ist, und folge in herzlicher Demut deinem Erlöser nach.

Folge ihm nach in der Weise Pauli, welcher spricht: Ich vergesse was dahinten liegt, und strecke mich nach dem, das vorne ist. Auch dies schließt in sich das Wort: „Lasst uns also gesinnt sein.“ Aus Liebe zu Christo und in Sehnsucht nach ihm sollen wir unablässig ringen, dem Ziel der Vollendung näher zu kommen. Wird Jemand ein Christ, so freut er sich, wie auch die Jünger des Herrn nach ihrem ersten Zusammentreffen mit ihm voll Freude einer zu dem anderen sagten: Wir haben den Messias gefunden. Wenn ein Sünder Christum gefunden hat und in Christo Vergebung der Sünden und Frieden mit Gott: ist's nicht, als wäre er in den Himmel gekommen? Welch ein Unterschied ist doch zwischen einem wiedergeborenen Kind Gottes und einem nicht wiedergeborenen Kind der Welt - ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht, wie zwischen Himmel und Hölle! Wie eine arme Jungfrau, die allein und verlassen steht in der Welt, nachdem sie Vater und Mutter verloren hat, wie die sich freut, wenn sie den findet, den Gott für sie auserkoren hat, dass er ihr Lebensgefährte, ihre Stütze und ihr Stab sei bis in den Tod: so und noch viel mehr freut sich die Seele eines verlorenen Sünders, wenn sie in Christo den Erlöser, den Helfer und Heiland findet, der sie annimmt als die Seinige und zu ihr spricht: Was mein ist, das ist dein. Nicht anders, als wäre sie schon vollkommen und vollendet, so freut sie sich und so selig ist sie in ihrer ersten Liebe! Denn wie eine Braut, geschmückt mit dem Hochzeitskleid der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude, steht sie am Altar der Gnade Gottes. Aber dieser selige Anfang ist noch nicht das selige Ende, sondern in der Mitte liegt eine lange raue Bahn voll Arbeit und Kampf. Die Wiedergeburt ist nicht das Ende, sondern der Anfang des Kampfes. Denn wider den Bekehrten ist das Fleisch, ist die Welt, ist der Fürst der Finsternis, wie Paulus spricht: Das Fleisch gelüstet wider den Geist und der Geist wider das Fleisch, dieselbigen sind wider einander, dass ihr nicht tut, was ihr wollt (Gal. 5). Da nun soll sich's zeigen, ob wir zu den Vollkommenen gehören, oder nicht; denn nun heißt es: Kämpft und seid getreu bis in den Tod! Ficht euch das Fleisch an, lockt euch die Welt, versucht euch der Teufel, so betet, kämpft, ringt, dass ihr gewinnt und den Sieg behaltet. Wolltet ihr in diesen bösen Stündlein des Kampfes von Christo lassen und wieder umkehren zur Welt? wolltet ihr den Himmel, den ihr in Christo gewonnen habt, preisgeben und wieder zurücktreten in den Stand der sicheren Sünder? Davor bewahre euch die Liebe zu Christo und zu eurem Seelenheil! Wollt ihr zu den Vollkommenen gehören, so trachtet danach, dass ihr vollkommen werdet. Ihr als die Wiedergeborenen seid wie die junge Saat, die auf dem Acker grünt; wie lieblich sie auch anzusehen ist, so ist sie doch noch nicht, was sie sein wird; sie muss noch durch den Winter hindurch und muss viel Kälte, Sturm und Wetter über sich ergeben lassen, bevor die Zeit der letzten Vollkommenheit, die Zeit der Ernte da ist, wo die Garben in die Scheuern gebracht werden. So habt auch ihr mit Kälte und Sturm der Versuchung und Anfechtung zu kämpfen, und viele Gefahren zu bestehen, bevor die Stunde kommt, da der Herr seine Schnitter senden und sagen wird: bringt den Weizen in meine Scheuern. - Seht, Christen, darin soll sich unsere Vollkommenheit bewähren, nämlich dass wir die Gesinnung einer herzlichen Demut beweisen und die Gesinnung einer treuen Liebe zu dem Herrn, die von keinem Stillstand weiß und wissen will, sondern unablässig ringt nach dem vorgesteckten Ziel, der himmlischen Berufung Gottes in Christo Jesu.

2.

Bei einer solchen Gesinnung aber dürfen wir fest hoffen und vertrauen, dass Gott mit uns sein und unser Wachstum in der Erkenntnis und in allem Guten fördern werde. Dieses Wachstum ist das Zweite, worauf wir von dem Apostel hingewiesen werden. Wenn ihr, spricht er, über etwas verschieden denkt, so wird auch dieses Gott euch offenbaren. Dass wir noch nicht sind, was wir sein werden, zeigt ja schon das höchst verschiedene Maß der Erkenntnis in der Gemeinde. Zwar in der Hauptsache sind wir Alle einander gleich. Haben wir nicht Alle von Gott gelernt, was wir glauben und wie wir leben sollen? Ob Jemand auch erst zehn oder zwölf Jahre alt wäre, ob Jemand auch noch so schwach wäre an Erkenntnis und Verstand, so weiß er doch, dass er Buße tun und an das Evangelium glauben soll; weiß doch, dass er das Kleid des alten Menschen ablegen und das Kleid des neuen Menschen anlegen, weiß, dass er Gott fürchten und lieben und den Fußtapfen Christi nachfolgen soll. Das wissen wir nicht nur, weil es in unserem Gedächtnis steht, sondern Gott hat es mit dem Griffel des heiligen Geistes in unsere Herzen geschrieben. Habt ihr nicht Alle in euch den himmlischen Führer, der euch Christum und Belial, der euch Gutes und Böses, Tugend und Sünde unterscheiden lehrt, und euch begleitet auf allen euren Wegen? Ja, Gott sei Dank, dass er die alte Finsternis aus uns vertrieben, und ein helles, schönes Licht in uns angezündet hat, in welchem Licht wir den Weg sehen, der zum ewigen Leben führt! Aber dennoch fehlt noch viel, dass wir Alle über Alles auf gleiche Weise dächten. Es gibt viele Stufen der Erkenntnis. Schwache gibt es, die auf einer niedrigen Stufe der Erkenntnis stehen, so dass sie kaum das Notdürftigste von Christo und dem Evangelio wissen, und wiederum gibt es Starke, die so vertraut sind mit Gott und göttlichen Dingen, dass sie die Lehrer und Wegweiser aller Übrigen sein können. Darum nun sind so viele verschiedene Meinungen und Urteile unter den Christen, selbst unter den Gläubigen. Worin diese Verschiedenheit bei den Philippern bestand, das wissen wir nicht; aber es lässt sich kaum bezweifeln, dass die bekehrten Juden unter ihnen über viele Dinge ganz anders dachten, als die bekehrten Heiden, und dass noch manche von den Vätern geerbte Vorurteile und Irrtümer nicht überwunden waren. Alle aber standen den Heiden gegenüber, und wie oft mochte das Gewissen des Einen und Andern in Zweifel und Not geraten, wenn die Frage war, wie man im Umgang und Verkehr mit der heidnischen Welt sich zu verhalten habe! Der Eine dachte darüber so, der Andere anders. Christen, gibt's nicht auch unter uns vielfach verschiedene Meinungen über Sachen des Glaubens und christlichen Lebens? Von den Ungläubigen, die an Christum sich nicht halten wollen als das Haupt und die nach Gott nichts fragen und nach dem Evangelium, rede ich nicht, sondern bloß von den Gläubigen, die alle Christum bekennen, aber doch vielfach in ihren Meinungen und Ansichten verschieden sind.

Was sagt nun Paulus von dieser Verschiedenheit? Er verweist uns auf Gott, der unser Aller Lehrer ist, der werde uns helfen in unsern Irrtümern und uns durch seinen heiligen Geist offenbaren und kundtun, was zu wissen uns not tut. Hat er uns doch über die Hauptsache ein Licht angezündet und uns alles Übrige kundgetan: wie sollte er nicht auch dieses, worüber wir noch in Zweifel und Ungewissheit sind, uns offenbaren? Es ist nicht gemeint, dass wir's bloß auf ihn ankommen lassen und uns alles eigenen Denkens und Forschens entschlagen sollen; nein! es heißt ja: Forscht in der Schrift! und nicht nur hat er uns die Vernunft gegeben, sondern zu der Vernunft auch das Licht seines Wortes, woran wir unser Licht anzünden sollen. Wer nun diese teuren Gaben Gottes unbenutzt lassen wollte: wie könnte der hoffen, dass seine Erkenntnis wachsen werde? Aber mit unserm Forschen und Denken allein ist's nicht getan, sondern zu unserm Tun muss Gottes Zutun kommen; Gott muss durch seinen heiligen Geist uns leiten auf die rechte Bahn. Es ist ja auch keine Scheidewand zwischen ihm und uns, dass er nicht könnte zu uns kommen oder wir zu ihm; sondern alle Kluft zwischen ihm und uns ist ausgefüllt, und wir haben als Kinder nicht nur einen freien, freudigen Zutritt zu ihm, sondern auch die Gewissheit, dass, was wir in Christi Namen bitten, er uns geben wolle. Lasst uns denn nun beten und flehen, dass er durch seinen heiligen Geist uns immer mehr in alle Wahrheit leiten wolle. Das ist der von Paulus gewiesene Weg, den die vollkommenen zu gehen haben. Mancher gerät in Missmut und große Herzenstraurigkeit, wenn er daran denkt, wie weit selbst die Gläubigen in ihren Ansichten und Meinungen auseinander gehen, und er kommt mit seinem Herzen nahe an die Pilatusfrage: Was ist Wahrheit? Aber Keiner soll sich durch solche Verschiedenheit irre machen lassen, sondern zu tun ist dies: Gehe Jedermann zu Gott und frage ihn, was Wahrheit sei. Bist du nur von Herzen demütig und hast Hunger und Durst nach der Wahrheit, so wird dich Gott nicht ohne Antwort lassen, wenn du sprichst: „Lieber himmlischer Vater, es ist ja ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde und nicht wie ein Rohr hin und her schwanke zwischen Wahrheit und Irrtum. Nun siehe, mein Gott, wie verschieden doch die Wege sind, auf denen die Menschen mit ihrem Meinen und Denken gehen! Mir aber liegt nichts mehr am Herzen, als dass wir unter einander einig werden und dass ich nicht von dem Weg der Wahrheit auf den Weg der Lüge komme. Nun, so bitte ich dich von ganzem Herzen, dass du mich vor allem verderblichen Irrtum bewahren und deinen heiligen Geist nicht von mir nehmen wollest. Wie könnt ich in dem Irrgarten der menschlichen Meinungen mich zurechtfinden, wenn ich mir selber überlassen wäre, und auf der Waagschale meiner eigenen Vernunft Alles gegen einander abwägen sollte, bis ich die Wahrheit fände! Ich will zwar nicht träge sein, sondern alle Kraft, die du mir gegeben hast, anwenden, auch fleißig suchen und forschen in deinem Wort; aber ich bitte dich, mein treuer Gott und Vater, dass du mich dabei leiten und es mir gelingen lassen wollest, dass ich die Wahrheit finde.“ Betet so, liebe Christen, und glaubt fest, dass Gott dann zu dem, was er gegeben hat, auch noch das Fehlende geben werde. Ihr seid dann ohne Furcht und Traurigkeit, und geht an der Hand eures lieben himmlischen Vaters so sicher, dass, ob ihr auch noch vielfach irrt, ihr doch nimmer in seelenverderbliche Irrtümer geraten, und immer weiter kommen werdet in der Erkenntnis der Wahrheit.

3.

„Doch“, spricht Paulus, und mit diesem Doch macht er uns auf eine wichtige Sache aufmerksam, die wir ja nicht aus den Augen setzen dürfen. Er weist uns auf unsern Wandel hin. „Was wir erreicht haben (spricht er), eben danach lasst uns wandeln.“ Als ob er sagen wollte: Über dem, worin ihr uneinig seid, sollt ihr das nicht vergessen, worin ihr mit einander einig seid, und dies, worin ihr übereinstimmt, sollt ihr vor Allem festhalten und zur Tat werden lassen in eurem Wandel. Setzt ihr diese Regel aus den Augen, so hofft nur nicht, dass Gott euch in der Erkenntnis weiter führen werde, vielmehr werdet ihr immer weiter abirren vom Wege der Wahrheit, und die Uneinigkeit und Spaltung unter euch wird immer größer werden. - Hat der Apostel nicht Recht, und lehrt nicht die Erfahrung, dass es so ist, wie er sagt? Die Menschen, wenn sie über geistliche und göttliche Dinge uneinig sind, geraten meistens auf zwei verderbliche Abwege. Der erste ist, dass sie Herz und Gedanken zu sehr an die streitigen Punkte heften und darüber die Hauptsache vergessen, worin sie einig sind. Ist doch das, was in unserm Glaubensbekenntnis von Gott, dem Vater, und von Christo, unserm Erlöser, und von dem heiligen Geist, unserm Tröster, steht, nicht der Stern und Stern unseres Glaubens, und viel wichtiger als das, worüber wir uns streiten? Sind wir nun einig in jenem Bekenntnis: sollten wir nicht Gott von ganzem Herzen für diese Einigkeit danken und in brüderlicher Liebe uns unter einander tragen und vertragen? Und doch ist oft der Bruder auf seinen Glaubensbruder erbitterter, als selbst auf die, welche gar keinen Glauben haben! Ich sage nicht, dass die Dinge, worüber wir streiten, gleichgültige Dinge sind; nein, sie sind zum großen Teil sehr wichtig, und bedürfen wohl, dass man sie weiter erforsche und Gott fleißig bitte, er wolle uns darüber ein helleres Licht anzünden durch seinen heiligen Geist. Aber wird er es tun, wenn wir die Hauptsache zur Nebensache und die Nebensache zur Hauptsache machen? Die Geschichte unserer Tage lehrt, dass auf diese Weise die Verschiedenheit und Trennung immer größer wird. - Der zweite Abweg ist, dass Viele die Kluft nicht auszufüllen suchen, die zwischen ihrem Glauben und ihrem Wandel ist. „Was wir erreicht haben, danach lasst uns wandeln.“ Ist es nicht die Bestimmung des Glaubens, dass er zu Tat und Leben werde? Was nützt doch alle Erkenntnis, wenn sie nicht unseren Sinn und Wandel heiligt? So sollte nun Jeder es sich angelegen sein lassen, das Licht, welches Gott in ihm angezündet hat, leuchten zu lassen in seinem Wandel. Oder reicht das, was wir glauben und wissen, zu einem christlichen Lebenswandel nicht aus? Lasst uns das zusammenlegen, worüber wir einig sind in unserm Glauben, so muss es ein göttlicher Wegweiser heißen, der, wenn wir ihm folgen, uns sicher zum ewigen Leben führen wird. Aber heißt das wandeln nach dem, was wir erreicht haben, wenn wir uns unter einander zanken und streiten und keine brüderliche Gemeinschaft mehr mit einander haben wollen? Es ist ja doch unser aller Bekenntnis, dass wir als die durch Christum Erlösten Gott und unseren Nächsten von ganzem Herzen lieben sollen. Verdient es nicht dieser königliche Glaubensartikel, dass wir mit allem Fleiß danach trachten, ihn zur Tat werden zu lassen? Wenn nun aber Jemand um diesen Artikel sich nicht weiter kümmern, sondern zu Gott hingehen und um neue Offenbarungen bitten wollte: würde nicht Gott ihn von sich weisen und sagen: Was begehrst du größeren Reichtum von mir, da du das, was ich dir gegeben habe, als ein totes Kapital bei dir ruhen lässt? Wer da hat, dem will ich geben, dass er die Fülle habe, aber doch nur, wenn er weise haushält mit dem, was er hat. So gehe nun hin und zeige die Erkenntnis, die ich dir gegeben habe, in deinem Wandel, und je mehr du das tust und es deine Hauptsorge sein lässt, dass du liebst wie du glaubst, und wandelst wie du liebst, desto mehr will ich dich segnen mit Erkenntnis und Weisheit. Wie viele Tagelöhner hab' ich in meinem Reich, die von dem allen, worüber du dich in großer Lieblosigkeit mit deinem Bruder zankst, nichts wissen, sondern haben einen gar einfachen Glauben mit wenig Artikeln, aber wie sie glauben, so leben sie auch, und ich zeige diesen meinen Kindern, die am Morgen und Abend zu mir beten, immer den Weg, den sie gehen sollen und auch wirklich gehen. Die mögen dir ein Vorbild sein, dass du nicht nach mehr Erkenntnisschätzen trachtest, auch dich über deinen Bruder, der in etlichen Punkten von dir verschieden denkt, nicht ereiferst, bevor du das königliche Gebot der Liebe hast Macht über dich gewinnen lassen. -

So etwa redet Gott. Und nun wisst ihr, liebe Christen, wie wir als die Vollkommenen uns zu verhalten haben. In Demut und Selbstverleugnung sollen wir trachten, dass wir Christum immer mehr gewinnen. Was uns noch an Erkenntnis fehlt, darum sollen wir Gott bitten, der es uns geben wird, und so zu wachsen suchen in der Weisheit und Erkenntnis. Dabei aber soll es unser Streben sein, dass wir ein Jeglicher nach dem Maß seiner Erkenntnis wandeln wie sichs gebührt, und um dessen willen, worüber wir verschieden denken, nicht das Band der brüderlichen Liebe und Gemeinschaft trennen.

Der bleibt in Gott und Gott in ihm,
Wer in der Liebe bleibet.
Die Lieb' ist's, die die Seraphim
Gott zu gehorchen treibet.
Gott ist die Lieb'; an seinem Heil
Hat ohne Liebe Niemand Teil.

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