Hagenbach, Karl Rudolf - Die apostolische Ermahnung zur Verantwortung unseres evangelischen Glaubens.
Predigt am Reformationsfeste (Trinitatis 1853), von Professor Dr. Hagenbach in Basel.
Text: Seid aber allezeit bereit zur Verantwortung Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist. Und das mit Sanftmütigkeit und Furcht, und habt ein gut Gewissen, auf dass die, so von euch afterreden als von Übeltätern, zu Schanden werden, dass sie geschmäht haben euern guten Wandel in Christo. 1. Petri 3. 15, 16.
Wenn euch in gewöhnlichen Zeiten die Einrichtung, wonach alljährlich acht Tage nach dem heiligen Pfingstfeste das Andenken an die Kirchenreformation bei uns gefeiert wird, weniger Beachtung findet, als sie es verdient, so muss doch gewiss diese Gleichgültigkeit schwinden in einer Zeit, in welcher die Angriffe auf unsere evangelische Kirche auf eine Weise sich erneuern, die an die alten Zeiten des Kampfes nur allzu sehr erinnert; in einer Zeit, in der die Bekenner des Evangeliums wie damals verfolgt und als Verbrecher behandelt werden, und in der die alte römische Herrschsucht neue Anstrengungen macht, ihr Reich auch in den Gegenden auszubreiten, über die Gott vor mehr als drei Jahrhunderten das beseligende Licht der Reformation hat aufgehen heißen. Wahrlich, da stellt sich wohl doch für Alle, denen ihr evangelischer Glaube noch heilig, denen die evangelische Kirche noch teuer und wert ist, die Notwendigkeit heraus, sich gründliche Rechenschaft zu geben über den Inhalt dieses Glaubens, sich wieder zu sammeln unter das Panier dieser Kirche und auf alle Fälle sich bereit zu halten zur Verantwortung, die über kurz oder lang kann von uns gefordert werden. Darum lasst uns doch ja nicht den unklugen Jungfrauen gleichen; die das Öl in der Lampe ausgehen lassen, sondern vielmehr uns gegenseitig ermuntern zur Wachsamkeit, zur Treue, zur Beständigkeit, die mehr als je nottun. „Seid allezeit, so heißt es in unserem Texte, bereit zur Verantwortung Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmütigkeit und Furcht, und habt ein gutes Gewissen, auf dass die, so von euch afterreden als von Übeltätern, zu Schanden werden, dass sie geschmäht haben euern guten Wandel in Christo.“ Allezeit also, will der Apostel, sollen wir zu dieser Verantwortung bereit sein, wie vielmehr in der Zeit, wie wir so eben gesehen haben, die Verantwortung so nahe liegt. Wie könnten wir also das Andenken an die Reformation zweckmäßiger begehen, als wenn wir
die apostolische Ermahnung zur Verantwortung unseres evangelischen Glaubens
zum Gegenstande unserer heutigen Betrachtung machen.
Es sind folgende vier Fragen, die wir uns dabei vorlegen:
1) Worüber sollen wir uns verantworten?
2) Wem sind wir diese Verantwortung schuldig?
3) Wie sollen wir diese Verantwortung leisten?
4) Womit sollen wir ihr den rechten Nachdruck geben?
Die Antwort auf diese Fragen liegt in unserem Texte. Und so verleihe uns denn der Herr die Gnade, auf der Grundlage dieses seines Wortes und nach der Weisung seines Geistes diese Frage so zu beantworten, dass wir vor allen Dingen selbst gefördert werden in der Erkenntnis des Heils, und dass wir auch Andern zu dieser Erkenntnis verhelfen mögen nach dem Maße der Gnade, die uns gegeben ist! Amen.
I.
Worüber sollen wir uns verantworten? Das ist die erste Frage. Der Apostel sagt: „Seid bereit zur Verantwortung Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist.“ Er wendet sich mit diesen Worten zunächst an die Christen seiner Zeit, die von den römischen Gewalthabern verfolgt wurden, weil sie auf ein Reich hofften, das, wie man fürchtete, dem römischen Reiche Gefahr drohte. Über diese Hoffnung auf die Zukunft des Herrn, die in ihnen war und die sich als eine lebendige Hoffnung in ihnen erwies, sollten die Bekenner Jesu freimütig und offen sich aussprechen, so oft sie zur Verantwortung gezogen würden. Auf ähnliche Weise sind nun auch wir, die evangelischen Christen unserer Zeit, berufen, ja verpflichtet, uns zu verantworten über den Glauben und die Hoffnung, die in uns ist. Merkt wohl, es handelt sich nicht darum, einen Glauben oder eine Lehre zu verantworten, die wir nur von außen her empfangen haben und zu der wir auch nur in einem äußerlichen Verhältnisse stehen; es handelt sich nicht um die Verteidigung toter Satzungen und Gebräuche, deren Inhalt uns nicht klar ist, und die wir nur verteidigen, wie man ein altes Erbstück verteidigt, aus bloßer Anhänglichkeit an das Alte und Hergebrachte. Nein, der Apostel redet nicht von einem Glauben, der außer uns, er redet von einer Hoffnung, die in uns ist, mithin von einer Überzeugung, die wir als unser bestes Eigentum im dem innersten Heiligtume unseres Herzens bewahren. Und ein solches Kleinod ist auch unser evangelische Glaube. Darin gibt sich ja eben der Segen der Reformation zu erkennen, dass wir nicht einen fremden Glauben, den Andere uns gebieten, auswendig lernen, um ihn auch wieder auswendig herzusagen als tote Formel, sondern dass wir von Jugend auf angeleitet werden, aus dem Worte Gottes selbst uns eine Überzeugung zu bilden, die unser höchstes und heiligstes Gut sei im Leben wie im Sterben. Und nur, wer sich die Mühe nicht verdrießen lässt, allervorderst selbst ins Reine zu kommen mit seinem Glauben; nur wer sich die Kämpfe nicht erspart, um zum unzweifelhaften inneren Besitze eines solchen Glaubens und einer solchen Hoffnung zu gelangen, die nicht zu Schanden werden: - nur der wird auch Grund geben können der Hoffnung, die in ihm ist, wenn dieser Grund von ihm gefordert wird. Ach, es gibt so Viele, die sich evangelische Christen, die sich Protestanten nennen und die sogar auf diesen Namen sich etwas zu gut tun, und die doch, wenn man Grund forderte der Hoffnung, die in ihnen ist, sehr wenig Bescheid zu geben wüssten! Die Einen, und das sind noch die Besseren und Ehrenwerteren, würden etwa sagen: ich glaube so, weil ich so bin gelehrt worden, weil meine Väter so geglaubt haben, und weil ich es für unrecht halten würde, etwas Anderes zu glauben, weil die große Mehrzahl der Übrigen, wenn sie aufrichtig sein will, gestehen muss, dass ihr dieser Glaube der Väter, an welchem jene noch hangen, längst gleichgültig geworden ist; dass sie sich nur gefallen in dem Widerspruche gegen alles das, was dem sogenannten Zeitgeiste und der Weisheit dieser Welt nicht einleuchtet, und dass ihnen überhaupt Wort Gottes, Evangelium, Kirche und kirchliches Bekenntnis fremdartige Dinge sind. Aber ich frage: wie mögen Solche sich Protestanten, evangelische Christen, Kinder der Reformation nennen? wie mögen sie der Segnungen dieser Reformation sich freuen? der Segnungen, die sie von ferne nicht kennen, geschweige denn an sich selbst erfahren haben? Lässt sich nicht vielmehr auf sie das Wort des Apostels Johannes anwenden: „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns.“? (1. Joh. 2. 19.) Sie nennen sich wohl nach unserer Kirche, aber sie gehören nicht zu ihr; denn unsere Kirche ist eine Kirche der Verantwortung, eine Kirche, die im Worte Gottes ihren festen, unbeweglichen Grund hat; und das ist der Grund der Hoffnung, die in uns ist.
II.
Die zweite Frage, die wir zu beantworten haben, ist die: wem sind wir diese Verantwortung schuldig? Unser Text antwortet kurz und bündig: Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist. Zunächst dachte wohl der Apostel an die jüdischen und heidnischen Obrigkeiten, vor welchen er selbst und seine Mitchristen sich zu verantworten hatten, und seinem Gebote und Vorbilde gemäß haben denn auch unsere Reformatoren sich freimütig verantwortet vor der weltlichen und geistlichen Obrigkeit ihrer Zeit, vor Kaiser und Reich, vor großen und kleinen Räten, vor Päpsten und Bischöfen und deren Abgeordneten, wo immer sie zur Rechenschaft gezogen wurden. Aber so wenig der Apostel diese Verantwortung auf die Obrigkeiten beschränkt, sondern schlechthin sagt: „Seid bereit zur Verantwortung gegen Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist“, so haben auch die Reformatoren sich nicht gescheut, auch dem Geringsten im Volke Rede zu stehen über ihr Glauben und Hoffen, über ihr Tun und Lassen. Besteht doch eben auch darin eine der weiteren Segnungen der Reformation, dass die heiligen Angelegenheiten des Gewissens nicht zu einer Sache weniger Bevorzugter, zu einer Sache der Priester und Schriftgelehrten allein gemacht wurden, sondern zu einer Sache des ganzen christlichen Volkes, und dass Jedem das Recht zugestanden wurde, von denen, die da lehren und predigen, auch Rechenschaft zu fordern über den Grund ihrer Lehre, und hinwiederum Jeder in den Stand gesetzt wurde, diese Rechenschaft an seinem Orte zu leisten. Darum gab Luther dem deutschen Volke die Heilige Schrift in deutscher Zunge, und seiner Übersetzung folgten andere, damit ein Jeder selbst könnte prüfen, welches da sei der gute, der wohlgefällige und vollkommene Gotteswille (Röm. 12, 2), und Jeder mit dieser Schrift in der Hand auch dem Gelehrtesten und Gebildetsten möge unter die Augen treten und ihn des Irrtums zeihen, so er sich dessen schuldig macht. Aber wie wenig wissen wir auch dieses Vorrecht zu schätzen? Wie leicht lassen wir uns, je höher wir in der Erkenntnis zu stehen glauben, zu dem hochmütigen Vorurteil verleiten, als dürften wir denen die Rechenschaft über unseren Glauben verweigern, die wir nicht für ebenbürtig mit uns halten in Absicht auf Bildung und Gelehrsamkeit oder auf die äußere Stellung im Leben. Wie leicht verfallen wir da in denselben Fehler, dessen jene Hochgestellten der alten Kirche sich schuldig machten, wenn sie den Anforderungen der Zeit und des Evangeliums gegenüber auf Rang und Titel pochten und sprachen: „Was will dieses Mönchlein? was dieser Hirtenknabe, dieser schlichte Bürgers- und Bauersmann? was verstehen die in Sachen des Glaubens? Ja, vor einer gelehrten Kirchenversammlung, da wollen wir handeln von solchen Dingen, aber nicht vor dem gemeinen Volke.“
Und doch sagt der Apostel: „Seid bereit zur Verantwortung Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist.“ Und wahrlich, auch für uns kann eine Zeit kommen, da wir nicht die auswählen können, denen wir Rede stehen sollen, sondern da, der hoch steht unter den Menschen, genötigt sein wird, sich zu verantworten vor dem Niedrigsten aus dem Volke, und da umgekehrt die Niedrigsten berufen sein können, Zeugnis abzulegen vor den Hohen und Gewaltigen. O dass es dann zumal unserer Kirche nicht fehlen möge an mutigen, lebendigen Zeugen!
Ich weiß wohl, nicht nur aus Hochmut, auch aus Blödigkeit, aus einem gewissen Zartgefühle sogar schrecken Manche vor einem solchen Zeugnisse zurück. Viele ehrenwerte Christen, die gar wohl im Stande wären, sich selber Rechenschaft zu geben über den Grund ihres Glaubens, und die auch wohl mit Gleichgesinnten sich gerne über das verständigen, was ihnen heilig ist, tragen doch Scheu und Bedenken, vor aller Welt mit ihrer Verantwortung hervor zu treten. „Der Glaube, sagen sie, ist eine innere Angelegenheit unseres Herzens, er berührt ein heiliges und zartes Verhältnis, das wir allein mit Gott zu bestellen haben, und um deswillen ist es besser, Dinge des Glaubens gar nicht zum Gegenstande von Erörterungen zu machen.“ Wir begreifen diese Scheu, und sie hat auch in gewissen Fällen ihr Recht. Allein sie hat auch ihre Grenze, und dann sollen wir sie mit Gott überwinden; denn so gewiss der Glaube eine Sache des eigenen Gewissens ist, ebenso gewiss soll er auch ein Gemeingut Aller werden, Aller, die gleich uns einen vernünftigen Geist und eine unsterbliche Seele haben. Wo nun die rechte Liebe wohnt im Herzen, da muss sie uns ja auch wohl dringen und bewegen, Andern das Licht und das Leben zuzuwenden, welches uns beseligt. Hätten die Reformatoren, ja hätten Christus und die Apostel so gedacht, wie die überzarte und verbildete Weisheit unserer Zeit es fordert, hätten sie das für sich bewahrt und in sich verschlossen, was ihnen heiligste Angelegenheit ihres Herzens war - wo ständen wir? Nein, nicht also, meine Brüder! „Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Matth. 5, 16).
„Wer sich meiner schämt vor den Menschen, dessen wird sich des Menschen Sohn auch schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters“ (Mark, 8, 38). Also spricht des Menschen Sohn: Wo eine Kirche ist, da ist eine Gemeinschaft der Heiligen (und zu einer solchen sind wir doch berufen), da muss auch ein Bekenntnis, wo eine Wahrheit ist, da muss auch ein Vertrauen zu dieser Wahrheit sein, ein fester Mut, zu ihr zu stehen, zu stehen vor Jedermann, vor Freund und Feind, vor Weisen wie vor Toren, vor Hohen wie vor Niederen, vor Gelehrten wie vor Ungelehrten, vor Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in uns ist.
Der Grund fordert der Hoffnung, der also, sei es aus wohlwollender oder aus übelwollender Absicht, Aufschluss über unseren Glauben und unsere Hoffnung verlangt. Damit ist nun freilich nicht gesagt, dass wir nicht auch weiter gehen dürfen, dass wir nicht auch unaufgefordert die Wahrheit predigen sollen, wo uns das Gewissen dazu treibt, Aber allerdings mögen wir darin einen Wink erkennen, dass wir nicht unberufener Weise uns hervortun und die Wahrheit denen aufdringen, die weder Grund dieser Hoffnung von uns verlangen, noch auch überhaupt in der Stimmung und Verfassung sind, die Wahrheit zu vernehmen. Hier ist dann die Klugheit und Zurückhaltung an ihrem Orte, die ja auch Christus uns empfiehlt, wenn er sagt, dass wir das Heiligtum nicht vor die Unwürdigen werfen, es nicht ohne Not der Missachtung und Misshandlung aussetzen sollen. Und so ist auch der Apostel, so sehr er auf ein freimütiges und unumwundenes Bekenntnis dringt, weit entfernt von jener Zudringlichkeit, die statt einfach Zeugnis zu geben von der Hoffnung, die in uns ist, vielmehr ihre eigenen Ansichten und Meinungen über diese Hoffnung allen Andern mit Gewalt aufnötigen will und zum Kampfe herausfordert. - Eben deshalb ist ihm auch nicht jede Art der Verantwortung gleich recht und willkommen, sondern sehr Vieles kommt ihm darauf an - wie wir diese Verantwortung leisten. Und das ist die dritte Frage, die wir zu beantworten haben.
III.
Wie sollen wir die Verantwortung leisten? Der Apostel antwortet: Mit Sanftmütigkeit und Furcht. Es war eine Zeit, da derselbe Apostel Petrus meinte der guten Sache einen Dienst zu erweisen, wenn er seinen Herrn und Meister mit dem Schwerte verteidigte; aber eben dieser Herr und Meister hatte ihn eines Andern belehrt durch sein Wort und Beispiel, durch sein Wort, als er sprach: „Stecke dein Schwert in die Scheide; denn wer das Schwert braucht, soll durch das Schwert umkommen“ (Joh. 18, 11); durch sein Beispiel, als er, da er gescholten ward, nicht wieder schalt und selbst den rohesten Angriffen seiner Feinde das eine Wort entgegen hielt: „Habe ich übel geredet, so beweise es; habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“ (Joh. 18. 23.) - Aber gerade diese Sanftmütigkeit, in der uns Christus voran gegangen, wie oft fehlt sie uns noch, wenn wir die Wahrheit gegen ihre Feinde verteidigen! Eben der Gedanke, dass es nicht unsere, sondern des Herrn Sache ist, die wir führen, wie leicht verleitet er uns zu dem Fehlschlusse, dass darum auch der Zorneseifer gerechtfertigt sei, womit wir gleichsam Feuer vom Himmel herabrufen auf die Widersacher der Wahrheit. Ja gestehen wir es uns nur offenherzig, selbst die frommen und erleuchteten Männer, die wir als die Wiederhersteller der Kirche dankbar verehren, auch sie haben es, wie dort Petrus, nicht selten darin versehen, dass sie sich von jenem Zorneseifer haben übereilen lassen und nicht immer die Sanftmütigkeit bewahrt haben, die der vom Geiste Gottes wiedergeborene Apostel in unserem Texte uns empfiehlt. Gleichwohl dürfen wir ihnen das Zeugnis geben, dass sie nach dieser Sanftmütigkeit mit allem Ernste gerungen haben, und wenn sie auch als schwache Menschen bisweilen hinter ihren eigenen Grundsätzen zurückblieben, so haben sie doch wohl erkannt und laut gepredigt einer Kirche gegenüber, die die Irrenden, ja was sage ich die Irrenden? die sogar die Wahrheit mit Feuer und Schwert verfolgte, dass nicht mit fleischlicher Gewalt die Wahrheit könne gefördert werden, sondern dass nur das in Sanftmut verkündete Wort geeignet sei, ihr Eingang in die Herzen zu verschaffen.
Aber nicht mit Sanftmut allein sollen wir uns verantworten, sondern auch mit Furcht. Wieso mit Furcht? wie stimmt die Furcht zur Verantwortung? Eher würde man erwarten, dass der Apostel gesagt hätte: ohne Furcht, und auch das wäre recht und seinem Sinne gemäß. Es kommt nur darauf an, was wir unter der Furcht verstehen. Das Menschenfurcht hier nicht gemeint sei, leuchtet ein; denn wie hätte die der Apostel Petrus empfehlen können, der es an sich selbst erfahren, wie die Menschenfurcht ihn an der Verantwortung gehindert hatte in jener entscheidenden Stunde, da er seinen Herrn und Meister verleugnete? Aber nur um so nachdrücklicher musste er eben darum die Furcht einschärfen, die alle Menschenfurcht am gründlichsten austreibt und zugleich vor aller Vermessenheit bewahrt, die Furcht, von der auch Paulus redet, wenn er sagt, dass wir unsere Seligkeit mit Furcht und Zittern schaffen sollen (Phil. 2. 12). Ja, die Furcht Gottes, die heilige Scheu vor dem Allheiligen und Allwissenden, der Herzen und Nieren prüft und der uns verantwortlich machen wird für jedes unnützes Wort, das wir reden; die zarte Gewissenhaftigkeit, die, wo es sich um die heiligsten Güter handelt, sich wohl hütet, die eigene Person voran zu stellen und ihre Ehre zu suchen statt Gottes Ehre; die rechte Demut, die ferne von aller Rechthaberei bedenkt, dass auch sie irren kann; die rechte Mäßigung und Billigkeit, die auch an dem Gegner das Gute ehrt; die rechte Behutsamkeit und Besonnenheit, die ihre Worte abwägt und auch den bittersten Vorwürfen gegenüber nicht mehr sagt, als was sie vor dem eigenen Gewissen, vor Gott und Menschen verantworten kann: das ist die Furcht, die uns nie verlassen darf bei unserer Verantwortung, wenn wir nicht preis gegeben sein sollen jener dunklen Macht der Leidenschaft, die uns weiter führt, als wir wollen, und die in jedem Falle der guten Sache mehr schadet als frommt. Ach! es gibt wohl Viele in unseren Tagen, sie meinen es herzlich gut mit ihrem Eifer; allein sie „eifern“, wie der Apostel sagt, „mit Unverstand“ (Röm. 10. 2). Was ihnen als unbegrenztes Gottvertrauen, als hoher Glaubensmut erscheinen mag, ist oft beim Lichte betrachtet nur ein höherer Grad von Selbstvertrauen in die eigene Weisheit, mithin ein Mangel an Demut, ein Mangel an Sanftmut und Furcht. Und doch sind es eben diese unscheinbaren Tugenden der Sanftmut und der Furcht, die in den ersten Tagen der Christenheit, die in den Tagen der Reformation und die zu allen Zeiten die mächtigsten Siege errungen haben; und mit diesen Waffen sollen auch wir kämpfen, liebe evangelische Christen! Darum lasst uns ja nicht Gehör geben denen, die etwa sagen: es sei nun aus mit der Sanftmut und der Furcht; unsere Kirche sei bisher nur zu geduldig gewesen in der Hinnahme der Schmähungen, die über sie ergehen; sie sei nur zu schüchtern und zu blöde, wenn sie nicht Gewalt mit Gewalt abtreiben, wenn sie nicht hie und da eine kleine List sich erlauben, wenn sie nicht überhaupt zur Vergrößerung ihres Reiches dieselben Mittel anwenden wolle, die ihre Gegner niemals verschmähen. Nein, meine Teuren, das geschehe nun und nimmermehr! Lasst uns unter keiner Bedingung Böses mit Bösem vergelten, sondern überwinden wir das Böse durch Gutes (Röm. 12. 21)! Lasst uns Rede stehen Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in uns ist; aber dass es geschehe würdig und edel, wie es sich Christen geziemt - mit Sanftmut und Furcht.
IV.
Endlich aber weist der Apostel auf etwas hin, dass aller unserer Verantwortung erst die rechte Krone aufsetzt und ihr den rechten Nachdruck gibt. Und was ist dieses? Das ist die vierte und letzte Frage, die unser Text uns beantworten soll. Die Antwort lautet: „Habet ein gutes Gewissen, auf dass die, so von euch afterreden als von Übeltätern, zu Schanden werden, dass sie geschmäht haben euern guten Wandel in Christo!“ Schon die ersten Christen wurden vielfach geschmäht; es wurden ihnen Dinge schuld gegeben, die, wenn sie wahr gewesen wären, ihnen mit Recht die schärfsten Ahndungen von Seiten der Obrigkeit würden zugezogen haben. Solchen Schmähungen, solchen ungerechten Beschuldigungen und Verleumdungen gegenüber kann es keine festere Schutzwehr geben als ein gutes Gewissen. „Denn es ist besser, setzt der Apostel hinzu, dass ihr von Wohltat wegen Streiche leidet als von Übeltat. Niemand unter euch leide als ein Mörder oder Dieb oder Übeltäter, oder der in ein fremdes Amt greift. Leidet er aber als ein Christ, so schäme er sich nicht, denn er ehret Gott in solchem Falle.“ Und wer will es leugnen, dass unsere evangelische Kirche noch immer gelästert, das Leben unserer Reformatoren aufs Schändlichste verleumdet, ihre Lehre absichtlich entstellt und verdreht wird? Muss man es doch, um nur ein Beispiel anzuführen, immer und immer wieder hören, wie das gottlose Treiben und Wesen, das unter dem missbrauchten Namen der Freiheit die Völker verführt hat zu Ungehorsam und Aufruhr, nichts Anderes sei als die bittere Frucht aus dem Samen, den die Reformation ausgestreut habe vor dreihundert Jahren. Ich frage: was können wir diesen Schmähungen und Verleumdungen anders entgegen setzen als unsere Verantwortung mit Sanftmut und Furcht - ein gutes Gewissen? Ein solches hatten, Gott sei Dank! unsere seligen Reformatoren. Bei allen menschlichen Schwächen hatten sie doch das innere Zeugnis ihres Herzens für sich, das Gute redlich gewollt und erstrebt, und einzig und allein die Ehre Gottes und die Förderung seines Reiches gesucht zu haben. Oder will etwa Einer auftreten und sagen: sie hätten kein gutes Gewissen gehabt, da sie ja selbst sich je und je als arme, schwache Sünder bekannten, die nicht aus eigenem Verdienste gerecht werden, sondern aus Gnaden, sie hätten sich selbst das Urteil gesprochen, wenn sie sich mehr als einmal der Untreue gegen ihren Herrn angeklagt und immer aufs Neue wieder die Vergebung der Sünden von ihm erfleht hätten. O wer diesen böswilligen Schluss ziehen wollte aus den Selbstgeständnissen und Selbstanklagen dieser Männer, der müsste noch nie Ernst gemacht haben mit seinem eigenen Gewissen. Wir erkennen gerade in diesen aufrichtigen Geständnissen das gute, das von Gott erweckte, von Gott geleitete, von Gott geheiligte und befestigte Gewissen; und je tiefer wir in diese Herzenszustände und Gewissenskämpfe jener Männer uns versenken, desto ehrwürdiger erscheinen sie uns in ihrer Gewissenhaftigkeit, und desto lebendiger muss auch in uns der Wunsch werden: o dass doch auch wir ein solches Gewissen, eine solche Lauterkeit der Gesinnung, eine solche Zuversicht des Glaubens, ein solches lebendiges Bewusstsein hätten von der Gnade Gottes, die in den Schwachen mächtig ist, und die es den Aufrichtigen gelingen lässt, auch da, wo sie noch zurück bleiben hinter dem vorgesteckten Ziele. Und in der Tat, meine Teuren, so lange wir dieses Gewissen nicht haben, so lange unsere eigene Frömmigkeit, unsere eigene Herzensstellung zu Gott nicht eine wahre und lautere ist, so lange wir uns nicht ganz und gar jedes eigenen Verdienstes begeben und uns gestellt haben unter die Zucht des Heiligen Geistes, so lange wir nicht in allen Dingen der Heiligung uns befleißen und es genau nehmen mit allen unseren Pflichten, auch in den geringfügigsten Verhältnissen des Lebens - so lange ist unsere Verantwortung eitel und kraftlos. Was hilft da alles Wortgepränge, aller Aufwand von Scharfsinn und Beredsamkeit zur Verteidigung unseres Glaubens, was selbst alle Tapferkeit, aller Heldenmut des Märtyrertums! Es ist ein tönendes Erz, eine klingende Schelle, eine hohle Larve, ein Säen in den Wind, dem keine Ernte, ein trostloses Scheingefecht, dem kein Sieg erblüht. Oder was hat der Reformation den Steg gebracht? die äußere Macht? O, die war sehr gering im Vergleiche mit der Gewalt des Gegners. -
Die menschliche Weisheit und Gelehrsamkeit? Sie hat allerdings Großes geleistet; aber dennoch blieb sie untergeordnet jener Macht des Gewissens, von der Alles ausging, und der sittlichen Macht des guten Beispiels, die in Allem den Ausschlag gab. Und so ist es bis auf diesen Tag. Das gute Gewissen in der Brust und der unsträfliche Wandel in Christo nach außen - sie sind die mächtigste, die beredtste Verteidigung unseres Glaubens. Die sind daher nicht unsere Freunde und Bundesgenossen, die für Licht und Recht zu kämpfen vorgeben, aber es nicht genau nehmen mit der Wahl der Mittel, und die, indem sie Andern predigen, selbst verwerflich werden. Nein, allervörderst muss unser Gewissen mit sich im Reinen sein, müssen wir einen lebendigen Eindruck empfangen haben von der wirksamen Gnade Gottes in Christo, wenn wir uns stellen wollen in die Reihen der Kämpfer, die da streiten für die Wahrheit des Evangeliums. Nur wer selbst aus der Wahrheit ist, der hört auch der Wahrheit Stimme, und ist berufen, für sie zu zeugen. Nur wem es Ernst ist mit seiner eigenen Herzens- und Lebensbesserung, nur der kann auch den Segen der Kirchenverbesserung würdigen und dafür einstehen, wenn's nottut. Eben darum reiht sich auch unser Reformationsfest an das heilige Pfingstfest an, das wir vor acht Tagen gefeiert haben. Was wir dort vernommen, was wir dort dem Herrn gelobt, dort uns vom Herrn erbeten haben - das muss auch heute gelten, das müssen wir auch heute geloben, das müssen wir uns auch heute erbitten, das nämlich, dass sein Geist, der Geist der Wahrheit, der Geist der Liebe, der Geist des Friedens und des Gebetes einkehre in unsere Herzen; dass er sie umwandle aus einer Stätte des Unfriedens und der Unlauterkeit zu seiner heiligen Wohnung; dass er uns erneuere von Grund aus, damit das Reich Gottes nicht fernerhin bei uns stehe in Worten, sondern in der Kraft. Sind wir dann von Grund aus erneuert im Geiste unseres Gemütes; dann erst wird es uns auch gegeben werden von oben, im Sinne und Geiste des Apostels und im Sinne und Geiste unserer Reformatoren uns bereit zu halten zur Verantwortung gegen Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in uns ist, und das mit Sanftmütigkeit und Furcht; dann werden wir, wo der Geist Zeugnis gibt unserem Geiste, dass wir Gottes Kinder sind, auch stets ein gutes Gewissen haben vor Gott und Menschen, und wenn sie dann unseren guten Wandel in Christo schmähen, vorausgesetzt, dass es zu diesem guten Wandel, zu diesen Früchten der Gerechtigkeit wirklich bei uns gekommen ist, dann dürfen wir getrost das Wort des Herrn auf uns anwenden: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihrer; selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übels wider euch, so sie daran lügen; seid fröhlich und getrost es wird euch im Himmel belohnt werden“ (Matth. 5. 10). Amen.