Gossner, Johannes Evangelista - Briefe an eine leidende Freundin - Stonsdorf, d. 27. Sept. 1826.

Gossner, Johannes Evangelista - Briefe an eine leidende Freundin - Stonsdorf, d. 27. Sept. 1826.

Verehrungswürdige Freundin!

Gnade und Friede sei mit Ihnen! Ich sehe Sie an Ihrem Tischchen auf Ihrem Sofa sitzen und stricken oder rc. so wie ich Sie allemal fand, wenn ich Sie besuchte; gerade so komme ich mit diesem Blatte durch Ihren Vorhang1) herein und sage Ihnen: Friede sei mit Dir und Deinem Hause! ja mit dem ganzen Hause d. h. mit allen Bewohnern, denn sie sind mir Alle ausnehmend lieb - alle, mit und ohne Schnurrbärte, und da ich allen meinen Lieben nichts besseres zu wünschen weiß, als was ich selbst am Liebsten habe, den Frieden und die Gnade des HErrn, so schicke ich diese Dinge, die die Welt nicht geben und nicht nehmen kann, auch Ihnen Allen ins Haus und Herz, in der zuversichtlichen Überzeugung, mein HErr und Gott gibt gern und gibt gewiss, was ich im Glauben und Vertrauen auf Seine Treue meinen Lieben wünsche: also ins L…n Haus, der Friede sei mit Dir! Amen!

Erschrecken soll ich nicht - so fangen Sie Ihren Brief an, wie könnte ich das? Vielmehr wie freut mich Ihre Teilnahme, und wie danke ich Ihnen für Ihre Liebe, der HErr lohne es Ihnen! Ich kann Sie aber versichern, was hier vorgefallen ist, ist längst verschmerzt und vergessen, denn der HErr gab mir große Gnade, dass ich es sehr leicht nehmen konnte und nun ist's, als wenn nichts gewesen wäre. G. fühlt und erkennt nicht, was er getan hat - darüber bin ich für mich froh und dankbar, für ihn ist's mir freilich leid, ich denke aber, er musste so handeln, ohne zu wissen, was er tat, und nun lässt man's gut sein. In Kreppelhof und Peterswaldau war ich ungetrübt vergnügt, und es waltete großer Segen, nur zu kurz war der Aufenthalt, weil der 38.2) mich gleich wieder zurückforderte. Und nun will er mich doch mitlassen und zwar selbst begleiten bis Neusalz und Sabor, wo er seinen Geburtstag, den 9. Okt., ganz still halten will. Von dort werde ich nach Berlin gehen. Der Segen, die Geistesfreude, die ich hier im schlesischen Gebirge erfahren habe, ist groß gewesen, und ich stehe beschämt da, und danke. Ach wie gut und freundlich ist der HErr! wie liebt Er die Menschen! Immer mehr wird es mir zum Bedürfnis, die Menschen, meine Brüder, zur Liebe gegen die unendliche Liebe und zum lebendigen Glauben an die unglaubliche Liebe Gottes in Christo aufzufordern und zu bewegen. Beten Sie, dass mir täglich dazu neue Kraft, Mut und Freudigkeit geschenkt werde, die Gelegenheit wird mir täglich. Seit mich Leipzig auswarf deswegen, musste ich täglich ein oder zweimal tun, was ihr dortiges geistliches Konsistorium mit Verbannung strafte. Wie strafwürdig bin ich also daher, und werde es täglich mehr! Gott helfe mir! ich kann nicht anders, hier stehe ich.

Von Mauermann habe ich nichts gelesen und nichts gehört - ach sie können es von beiden Seiten nicht erwarten, die armen Menschen! Wie sie sich doch mit der Nebensache plagen und die Hauptsache immer weiter hinausschieben! Lass sie schreiben, reden, was sie wollen, ich will täglich näher zu Dem übertreten, der uns vertritt beim Vater, möchte täglich mehr meine Brüder zu Ihm führen und einladen, mit mir zu Ihm zu beten, Ihn zu bekennen, in Ihm zu sein, in Ihm zu bleiben: dies Eine ist not. Wie kränkt es mich, dass die Menschen immer mehr äußerlich werden und ihnen inneres Christentum nicht genügt. O wüssten es doch alle Leute rc. Noch einmal, Friede sei mit Ihnen und mit Ihrem Hause. Amen.

Ihr Gossner.

1)
Der Platz, an dem sie saß, war durch einen grünen Vorhang dicht dabei an der Türe, durch welche man eintrat, vor Zug geschützt.
2)
38. Graf Reuß, Besitzer von Stonsdorf und Jänkendorf.
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