Funcke, Otto - Tägliche Andachten – Montag nach Laetare bis Judica

Funcke, Otto - Tägliche Andachten – Montag nach Laetare bis Judica

Montag nach Lätare.

Dienstag nach Lätare.

Und es kam, dass er mit dem Tod rang, und betete heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.
Lukas 22,44.

Wie freudig und getrost sind doch viele edle Menschen in den Tod hineingegangen! Wir meinen nicht nur die christlichen Märtyrer alter und neuer Zeit, die ja mit Einem Mund bekannten, dass sie durch Kraft des Mannes, der hier in Gethsemane mit dem Tod ringt, überwunden haben. Nein, auch unter den Heiden sehen wir Menschen, die, mit hohen Gedanken erfüllt, vor des Todes Bitterkeit nicht erschrecken. Und hier, welch ein klägliches leidvolles Ringen mit dem Tod! Wahrlich, wenn der Tod dieses Mannes nur ein gewöhnlicher Tod war, dann war er mitnichten der größte und mannhafteste unter den Menschen.

Aber wir sehen sogleich, dass hier gar nicht das gemeint sein kann, was wir insgemein „Todeskampf“ oder „Ringen mit dem Tod“ nennen! Wir verstehen darunter ja die schmerzliche und krampfhafte Zerreißung des Bandes zwischen Leib und Seele. Jesus aber ist noch vollkommen gesund und frisch, dem Leibesleben nach. Wie hätte er sonst noch so unendliche Marter erdulden können? So haben denn manche Theologen gemeint, der Tod, der furchtbare König des Schreckens, sei hier in leiblicher Gestalt erschienen und habe mit Jesu gerungen. Aber, nicht wahr, das ist eine abenteuerliche Idee? Richtiger ist wohl, wenn wir sagen, Jesus hat hier den Tod nach seiner innerlichen Seite durchlebt und durchrungen.

Und welches ist denn diese innere Seite? Die heilige Schrift antwortet: „der Tod ist der Sold der Sünde,“ er ist das Gericht Gottes über die Sünde des Menschen. Wie sich die Menschheit durch die Sünde von Gott losriss, so fiel sie in den Tod hinein, denn nur in Gott ist das Leben. Und während so vieler Jahrtausende war der Tod durch die Reihen der Menschen geschritten, und auch die Edelsten und Hochherzigsten waren ihm unerbittlich zum Opfer gefallen, denn keiner ward gefunden, der nicht das Gift der Sünde in sich trug. Vor diesem Einen aber, vor dem Mann aus Nazareth, muss die finstere Gestalt des Todes Halt machen, denn sein Leib und Seele sind ein unbeflecktes Heiligtum des heiligen Gottes. „Ich lasse mein Leben von mir selber,“ ruft Christus frei und kühn, „ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu nehmen.“

Beachten wir also: Jesus stirbt freiwillig, das heißt, ohne irgend einen äußeren Zwang senkt er sein Leben in den Tod hinein. Wer aber freiwillig stirbt, der ist entweder ein Selbstmörder, oder er gedenkt mit seinem Sterben einen Zweck zu erreichen, der mehr wert ist, wie das Leben auf dieser Erde. So starb Sokrates, da er sein Leben wohl erhalten konnte, aber er hielt es für wichtiger und heiliger, der Wahrheit einen Tempel zu bauen, als weiter zu leben im Fleisch und die Wahrheit zu erschüttern. Winkelried, der edle Schweizermann, riss die Speere der Feinde in seine Brust, um das Vaterland zu retten. Der Eine starb freiwillig, damit Viele erhalten würden. Und Jesus? Jesus erlitt freiwillig den Tod, ließ freiwillig das Gericht der Sünde über sich ergehen, damit die ganze Menschheit von dem Bann der Sünde zur Heiligkeit, und aus der Macht des finsteren Todes zur göttlichen Lebensherrlichkeit erlöst würde. So berichtet einstimmig der Mund aller Zeugen Christi, so bezeugt er es selber. Und wahrlich, das war ein Preis, der auch wohl der Hingabe eines solchen Lebens wert war. Denn eigentlich ist doch dieses Sterben Jesu allein ein freiwilliges Sterben. Jene Alle, die für Vaterland und Wahrheit freiwillig starben, sie hätten doch bald sterben müssen. Sie schickten nur ihr Leben voraus auf dem Weg, den es nach wenigen Jahren doch unfreiwillig hätte ziehen müssen. Jesus aber opferte ein Leben, das ewiges Leben war, denn es war vom ersten bis zum letzten Atemzug Gott geweiht. Bei der Verklärung auf Tabor erkannten wir die Lebensherrlichkeit, die in Jesu schlummerte. Und dennoch starb Er! Ja, wir sagen weiter: Nur Er starb. Nur Er schmeckte die ganze Bitterkeit des Todes, denn nur Er wusste, was Leben war, und nur Er erkannte die schauervollen Tiefen der Sünde, die in dem Tod gerichtet wird. Und dennoch, Er starb - auf dass du lebst.

Du schüttelst das Haupt. Ja, freilich, schon der Apostel sagt, dass die Predigt von dem Kreuz eine törichte Predigt sei, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Wir werden bei der Betrachtung des vierten Kreuzeswortes auf diese göttliche Torheit zurückkommen, die doch weiser ist, wie alle Weisheit der Menschen. Wir werden sehen, dass es auch für unsere menschliche Erkenntnis nicht durchaus an Licht mangelt. Aber freilich, geheimnisvoll wird uns, so lange wir im Fleisch wallen, Vieles bleiben, wenn wir in Gethsemane und Golgatha anbeten. Doch ich wüsste auch nicht, wie ich anbeten sollte, was ohne Geheimnis ist. Wenn wir nur erfahren können, was unserem Auge dunkel erscheint, weil es selbst dunkel ist! Und wahrlich, erfahren können wir, was wir kaum halb erkennen. Wer erst von Angst über seine Sünden hin und hergetrieben wird und auf der ganzen weiten Erde nicht finden konnte, was seiner Seele Frieden gab, er möge sich dem Mann nahen, der hier in Gethsemane mit dem Tod ringt, und das Wort Versöhnung wird ihm bald hell leuchten. Wenn wir, die wir schon angefangen hatten, dem Herrn zu leben, nun in neuen schweren, ungeahnten Sündenfall geraten sind, wo wollten wir in solchen Stunden, da unser Herz angstvoll fragt, ob wir noch wiederkommen dürfen zum Throne der Gnade, - wo wollten wir in solchen Stunden Frieden und Glaubensmut anders wiederfinden, als unter den Ölbäumen Gethsemanes? Und wie Mancher und Manche, denen die süßesten Lebenshoffnungen zerknickt und die in höchster Gefahr waren, sich zu verbittern gegen Gott und Menschen, Seite des mit dem Tode ringenden Heilandes ist ihr Herz wieder gesund und lebensfreudig geworden. Und nun gar, wenn die Stunde kommt, da wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht wo aus noch ein,“ „da uns am allerbängsten wird um das Herz sein,“ nicht wahr, wir fühlen es im Voraus, dass uns dann aus dem Todesringen Jesu allein Odem ewigen Lebens zuströmen kann. So meint es auch Doktor Luther: „Wenn wir einmal an des Todes Abgrund liegen, wenn uns das Angesicht spitzig und fahl wird, wenn die Augen schwarz und dunkel werden und die Zunge nicht mehr reden kann, dann sollen wir an diesen Mann halten, der dies Schrecken überwunden und in sich selbst ersäuft hat. Ja, dazu gnade uns Gott“.

Erscheine mir zum Schilde,
Zum Trost in meinem Tod,
Und lass mich sehn dein Bilde
In deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach dir blicken,
Da will ich glaubensvoll
Dich fest an mein Herz drücken;
Wer so stirbt, der stirbt wohl.

Mittwoch nach Lätare.

Zum andern Mal ging er wieder bin, betete und sprach: Mein Vater, ist es nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille.
Matth. 26,42.

„Tapfrer als der Überwinder der stärksten Festung ist der Mann, der sich selber bezwingt,“ so hat schon einer von den griechischen Weisen gesagt. Das war ein schönes Wort, er hat damit aber auch sein eigenes Volk und die ganze alte Welt verdammt. Denn diese Griechen und Römer, die so todesmutig um ewigen Ruhm stritten und sich eine besiegte Welt zu Füßen legten, an dieser Klippe sind sie gescheitert; sich selber konnten sie nicht bezwingen. Dieser Ruhm blieb den stillen Nachfolgern Jesu, aus allerlei Volk und Land, vorbehalten. Sie vermochten es, ihren stolzen Mut und ihre verzagte Leidensscheu, ihren harten Eigenwillen und ihres Fleisches Lüsternheit zu dämpfen und zu überwinden. Hätte man sie aber gefragt: „Woher kommt euch solche Macht?“ sie würden alle hingewiesen haben auf den einen Mann, der im Ölgarten sich selbst bezwang und sein blutendes Herz Gott willig opferte: „Vater, nicht wie ich will…!“

Wer jemals an dem schmerzensreichen Siechbett seines Lieblings gesessen hat und hat es hören müssen, wie sein Kind aus tiefem Wehe heraus flehte: „O, Vater, Vater, hilf mir!“ der mag sich ausdenken, welche Bewegungen die Klagen und Bitten Jesu in dem Herzen des himmlischen Vaters hervorbrachten! Aber vielleicht reden wir törlich? Wer will die Tiefen der Gottheit ergründen? Lernen wir lieber an Jesu selbst. Denn, in der Tat, hier können und sollen wir lernen. Die eigentliche Last, die Jesus trug, die kann und darf ihm ja freilich kein Sterblicher nachtragen. Aber die Art und Weise, wie Jesus sich herausringt aus seinem zermalmenden Wehe, die ist uns zum Vorbild geschrieben; denn nicht durch irgend welche überweltlichen Kräfte und Einflüsse, sondern durch Glauben und Gehorsam, also ganz wie wir, hat Jesus kämpfen und überwinden müssen. Wie so echt menschlich der Kampf Jesu war, erkennen wir auch daraus, dass er sich ganz allmählig nur zu der schmerzlichen Gewissheit, der Kelch des Todes könne nicht vorübergehen, heraufarbeiten kann. Das Schweigen des Vaters ist die Antwort, die ihm zu Teil wird. Erst hören wir: „Vater, es ist dir alles möglich, überhebe mich dieses Kelches, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“. (Mark. 14,36) Später heißt's: „Mein Vater, ist es nicht möglich, dass der Kelch vorübergehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille!“ Der nur, dem das Ohr aufgetan ist, versteht es, welch ein innerer Kampf, welch ein atemloses Lauschen und angstvolles Warten zwischen diesen beiden Gebeten liegt.

Mit der Anrede: „Mein Vater!“ schmiegt sich Jesus an Gottes Herz an und legt Zeugnis ab, dass Er auch in diesen finstersten Stunden an seiner Liebe nicht zweifeln wolle. Weiter stärkt Jesus sein Herz, indem er sich die Allmacht des Vaters, der kein Ding unmöglich sei, vor Augen stellt. Daraus macht der Sohn der Liebe nunmehr den Schluss: „Was deine Allmacht kann, das wird auch ohne Zweifel deine Liebe tun. Aber eben darum kann ich auch getrost meinen Willen versinken lassen in deinem Willen. Denn das Heil zu schaffen für eine verlorene Welt, das ist dein Wille; das ist aber auch mein Wille. Führst du mich nun den Todesweg, so weiß ich, dass dieser Weg allein zum Ziel führen kann“. Da ist also keine Anwandlung von Trotz, bei aller heißen Sehnsucht nach Rettung; da ist bei dem heftigsten Grauen vor dem Leiden dennoch kein Anflug von Verzagtheit. Die Menschheit muss auf jeden Fall gerettet werden. Nur über das „Wie?“ ist Jesus verwirrt; das aber lässt Er willenlos den Vater entscheiden.

Ach, möchten wir auch also beten, glauben und gehorchen lernen! Auch fromme Leute machen in ihren Gebeten oft gar falsche Schlüsse. Sie sagen: „Da du, o Gott, allmächtig bist und helfen kannst; da du die Liebe bist und so gerne hilfst, so musst du mir helfen, denn zu groß ist mein Jammer und über Vermögen ist meine Anfechtung“. Das ist aber falsch gebetet, wie fromm es auch lauten mag. Statt dessen muss es also heißen: Dass du helfen kannst, das weiß ich; dass du nicht von Herzen die Leute plagst, nicht ohne Zweck dein Kind versucht werden lässt, das weiß ich auch. Also kann ich meine Sachen willig und getrost deiner Weisheit übergeben. Ist es mir selig, so hilfst du gewiss; tust du nicht nach meinem Begehr, so würde es mir auch nicht frommen zu meinem ewigen Heil und alsdann begehre ich auch nicht meines Leides entbunden zu werden. Darum schütte ich dir mein Herz aus und lasse dich alsdann walten.

Seht, das ist die seligmachende Logik des Glaubens, die so durchsichtig und klar ist, dass ein Kind sie fassen kann und die wir doch nur unter viel Zittern und Zagen lernen. Und wir lernen sie nicht durch Verstandesarbeit und Vernunftschlüsse, sondern einzig und allein dadurch, dass wir uns mit dem Mann in Gethsemane zusammenleben und - zusammen sterben.

Mein Lebetage will ich dich
Aus meinem Sinn nicht lassen;
Dich will ich stets, gleich wie du mich.
Mit Liebesarmen fassen;
Du sollst sein meines Herzens Licht!
Und wenn mein Herz in Stücken bricht,
Sollst du mein Herz doch bleiben.
Ich will mich dir, o du mein Ruhm,
Hiermit zu deinem Eigentum
Beständiglich verschreiben.

Donnerstag nach Lätare.

Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petro: Könnet ihr denn nicht Eine Stunde mit mir wachen?… Und zum dritten Mal kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen?
Matth. 26,40.45.

„Ich trete die Kelter allein;“ so lautet ein uraltes Prophetenwort. An dem leidenden Christus ist's erfüllt so wie nie vorher und nie nachher auf Erden. Allein sein, verlassen sein von aller Kreatur, wahrlich, das schafft schwere Anfechtung! Von Niemand verstanden werden, zumal wenn man in tiefem Leid verfangen ist, das ist schon bitter. Wohl Dem, der ein treues, verständnisvolles Herz hat, dem er sich ganz aufschließen und das ihn ganz aufnehmen kann. Aber von Niemand verstanden seine Straße ziehen, das ist gar schwer. Und vollends da von Niemand verstanden werden, da von Niemand Dank zu ernten, wo man für Alle das Größte schafft, opfert und leidet, auch da von Niemand eines teilnehmenden Wortes, einer Träne des Mitleidens gewürdigt zu werden, - wer ertrüge das? Jesus musste das ertragen.

Um hier von Anderem zu schweigen, wie bitter war es, dass seine Jünger sogar nicht einmal eine Stunde mit Ihm wachen konnten. Dass sie schliefen, dass sie sich an Ihm ärgerten, von Ihm flohen, Ihn verleugneten in der schwersten Stunde, darin musste Jesus erkennen, dass er schlechterdings von aller Kreatur verlassen war. Hüte dich, Leser, Steine aufzuheben, um die schlafenden Jünger zu werfen. Nein, keine Steine auf sie; nur einige Blicke in dein Herz und Leben hinein. Da siehe, wie du oft so schmählich schliefst, bald durch Weltsinn und Lüsternheit, bald durch Trägheit, bald durch Feigheit und Menschenfurcht betäubt und berauscht. Und doch hattest du deinem Heiland geschworen zu wachen über dich selbst und Ihm zu helfen in seinem Werk. Was war es aber, das die Jünger in diese klägliche Lage brachte? Mag man auch nicht ohne Grund sagen, dass in jenen Stunden besondere Finsterniskräfte wirksam waren, dennoch war es im tiefsten Grund der Unglauben und der Ungehorsam, daraus der traurige Zustand der Jünger entsprang. Aus dem Unglauben, der die Worte und Wege Jesu meistern wollte, erwuchs ihre stumpfe Traurigkeit, ihre leidensscheue Unwachsamkeit, ihr Ärgernis und ihre Verleugnung. Es ist heute nicht anders, wie jeder, der dies liest, ohne Zweifel schon erfahren hat. Aus dem kindlichen einfaltsvollen Bleiben in den Worten Jesu dagegen wächst die Kraft zu jedem Kampf. Dieselben Jünger, als sie später den Gehorsam Christi für die größte Weisheit hielten, konnten, mit Fried und Freud im Herzen, nicht nur mit Jesu wachen, sondern auch Leib und Leben für Ihn hinopfern.

Unterdessen war es auch für Jesum ein schweres Stück, bei solcher Erbärmlichkeit der Jünger dennoch in der Liebe fest zu bleiben. Denn nie war ein Menschenherz so zart und, im edelsten Sinne des Wortes, so empfindsam wie sein Herz, und er war in hohem Maß liebebedürftig, wie jeder richtige Mensch sich nach Liebe sehnt. Demütig und herzbeweglich hatte Er die Jünger gebeten, mit Ihm in seiner Not zu wachen, und nun muss Er, - dessen ganzes Leben eine große Tat der Liebe war, - selbst an den Besten der Menschen eitel Kaltherzigkeit und stumpfes, schläfriges Missverständnis finden.

Vielleicht hast auch du, lieber Leser, hier und dort schon Lieblosigkeit geerntet, wo du Liebe gesät hattest, und wo du Trost und Gemeinschaft suchen zu dürfen meintest, da fandest du verschlossene Herzen und Türen. Aber was war das am Ende gegen die Verlassenheit, die Jesus ertragen musste? Und wie matt, wie unrein war die Liebe, die du bewiesen hattest gegen seine Liebe! Dennoch, ohne Zweifel, du erinnerst dich, dennoch schäumten damals Trotz und Verzagtheit, Zweifel und Verzweiflung in deiner Seele auf; Widerwillen und Verbitterung gegen die Menschen wollten in deinem Herzen Platz greifen oder fanden auch wirklich Wohnung darin. Und nun schaue Jesum an, wie nur Mitleiden, nur ernst-freundliche Mahnung und kein Hauch der Verstimmung, keine Spur von Bitterkeit bei Ihm gefunden werden. O, dass wir hier lernten über uns selbst uns schämen! dass wir hier lernten aus seiner Fülle Gnade um Gnade zu nehmen!

Endlich aber soll dir Jesu Verlassenheit auch ein gewisser Trost sein, dass du, armes Menschenkind, nun in Ewigkeit nicht kannst verlassen werden, wenn du nur Ihn nicht verlässt. Wohl ist es uns ja unaussprechliches Bedürfnis, zumal in unseren Wehetagen, ein Herz zu haben, an dem wir uns ausweinen und wo wir unseren Tränen freien Lauf lassen können, ohne lästig zu werden. Wer aber dennoch, nach Gottes wunderbarem Rat, ein solches Herz nicht hat, wer einsam weinen, kämpfen, zweifeln und ringen muss, - Der soll wissen, dass das reinste, edelste Herz, das je auf Erden schlug und atmete, ihm ganz nahe ist mit aller seiner Liebesgewalt und Himmelslust; Der soll wissen, dass er Jesu sagen darf: „Du, mein Heiland, weißt, was ich leide und wie ich versucht werde, Du weißt, wie mir zu Mute ist. Rette mich vor Verbitterung! Rette mich vor Verzagnis! Gib mir Kraft zu neuem Glauben und zu neuem Lieben“. Und wer in seinen finsteren Tagen also klagt, wird dann erfahren, dass aus dem Herzen Jesu ein Strom des Friedens und wunderbare Einflüsse des Trostes über ihn kommen.

Nun weiß ich, dass die Macht der Finsternis
Zerstört ist;
Muss ich schon ratlos gehen
Durch dunkle Täler und verlassen stehen von allem Trost,
So bin ich doch gewiss:
Die Sonne eher wird von Glut und Schein
Beraubet in des Abgrunds Kluft sich senken,
Eh' ich von Jesu werd' geschieden sein,
Und eh' Er nicht mehr meiner wird gedenken.

Freitag nach Lätare.

Siehe, die Stunde ist hier, dass des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. Steht auf, lasst uns gehen; siehe, er ist da, der mich verrät.
Matth. 26,45.46.

Das Feuer nahender Fackeln warf sein unheimliches Licht unter die dunklen Ölbäume, wo Jesus mit dem Tode rang. Wir wissen, was das bedeutet. Während die Tugend schlief, hat die Bosheit Wache gehalten. „Die Stunde“ war gekommen, davon selbst ein Renan sagt, dass jede Minute derselben Jahrhunderte der Weltgeschichte aufwiege, die Stunde, wie nie eine Stunde war, da Jesus in der Sünder Hände fallen sollte.

Der König David hatte von dem furchtbaren Ernst der Gerichte Gottes schwere Erfahrung gemacht. Dennoch, als ihm die Wahl gelassen wurde, traf er den Entscheid: „Ich will lieber in Gottes, wie in der Menschen Hände fallen“. Wir verstehen das. Selbst Diejenigen, die statt des persönlichen Gottes nur Natur möchte kennen, werden zugeben, dass man sich diesen Naturmächten (z. B. dem Meeressturm) gegenüber wohl so ohnmächtig, wie ein im Weltall verwehtes Blättlein, vorkommen kann; aber erbittern können die Naturmächte nicht, denn sie haben keinen Willen. Erbittern können vollends die schwersten Trübsale, die wir als Boten Gottes erkennen, nicht, so lange wir nur wissen, dass Gott so heißt, weil Er der Gute ist. Von dem Heiligen in der Höhe erduldet man leichter das Leiden, ob's auch bitter ist. Da ahnt man doch, dass es nicht nur verdiente Züchtigung ist, sondern auch, dass es auf Leben und Heilung zielt. Aber von den Menschen, von den Geschöpfen, die nicht mehr sind wie auch wir, von ihnen willkürlich und boshaftig zertreten, misshandelt, hin- und hergestoßen, zu werden, ihren Launen und Listen Preis gegeben zu sein, das ist um so empörender, je feiner und reiner ein Mensch empfindet. Und nichts ist schwerer als in der Hand gottloser, wütender Menschen dennoch die gute Hand Gottes zu erkennen. De wer jemals nur einigermaßen den rohen Händen oder den giftigen Zungen willkürlicher Menschen schutzlos überlassen war, der weiß, wie es dann in unseren Adern kocht und wie jeder Blutstropfen dann nach Freiheit schreit.

Und nie war ein Mensch edler und freier und feinfühlender, als der heilige Menschensohn. Und dennoch, nie war ein Mensch so unbedingt den Händen der Sünder überlassen, wie dieser einzige sündenfreie Mensch. Ach, und was für Händen und was für Menschen! Sie waren entflammt durch den „Lügner und Mörder von Anfang“; sie waren von der Hölle entzündet. Es gab keinen Hohn und keine noch so ausgesuchte Büberei, davor sie zurückschreckten. Sie haben mit dem heiligen Leben Jesu gespielt, wie mit der Kappe eines Narren. Und dabei war er verlassen, innerlich und äußerlich verlassen, von seinen treuesten Freunden! Wahrlich, wir können diese Seite des Leidens Jesu nicht schwer genug schätzen. Wie belastet und wie arm Jesus auch immer gewesen war, er war doch im Besitz seiner Freiheit. Nun verlor er das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Wie ein gebundenes Opfertier musste er nun gehen, wohin man Ihn schleppte, musste hilflos erdulden und tragen, was den schnödesten Menschen beliebte. Man denke das nur einmal recht durch, wie man Ihn überall herumgezerrt hat, ehe er todesmüde an dem Hügel Golgatha zusammenbrach! Und welche Misshandlung der Menschen hatte er nicht erlitten von dem Augenblick an, wo der weiche, heuchlerische Kuss des Judas seine Seele erbeben machte, bis dahin, da das letzte Spottwort das Herz des sterbenden Mannes durchbohrte! O, er war unter die Mörder gefallen, nicht nur leiblich, sondern noch mehr geistig. Komödie spielte Pilatus mit Ihm, zu einem Hofnarren erniedrigte ihn der ehebrecherische, lüsterne Herodes, der Landesvater Jesu; zu einer Vogelscheuche suchten die Kriegsknechte den Judenkönig zu stempeln. Überall empörender Spott mit Wort und Tat. Und nun gar dieser Prozess vor den Hohenpriestern Jehovas, vor den Sachwaltern des Reiches Gottes auf Erden! Unter dem heuchlerischen Schein des Rechtes, ja des Eifers um Gott, die schmählichste Ungerechtigkeit und der grimmigste Hass, die je auf Erden gefunden! Doch jeder möge selbst über das Alles nachdenken und bei jedem Punkt anbetend hinzufügen: „Du aber, mein Jesus, bliebst bis zum letzten Atemzug Derselbe, der Du immer warst; unerschüttert in Deinem Glauben und unerschüttert in Deiner Liebe und Dienelust gegen alle Menschen, ja gegen alle, Judas und Kaiphas nicht ausgenommen!“

Man erzählt, dass unsere Vorfahren, die heidnischen Deutschen, zornmütig an den Knauf ihres Schwertes griffen, als ihnen die angelsächsischen Missionare diese Mähren1) von der Marter Christi kündeten. Wir wissen auch, dass oftmals innerhalb der betörten „Christenheit“ das Blut der Juden stromweise vergossen worden ist, weil ihre Väter „Jesum, den großen Himmelskönig“, so schmählich gemordet hätten. Was konnte unsinniger sein wie solches Gebaren? Sollten doch in dem Leiden Christi gerade die finsteren Tiefen des Menschenherzens enthüllt werden! Sollte doch hier gerade offenbar werden, wohin das Menschenkind geraten muss, wenn es sich gegen die Zucht und Wahrheit und gegen die heiligen Wege Gottes sperrt in Fleischessinn und Eigenwillen! So lange haben wir das Bild des leidenden Christus nicht verstanden, so lange mir daran nur die „Schlechtigkeit der Welt“ studieren. Nein, dann erst geht uns über dem Kreuz ein helles Freudenlicht auf, wenn wir selbst vor uns selbst in Finsternis sinken und mit dem Weheruf zusammenbrechen: „Ach, meine Sünden haben Dich geschlagen!“ Nicht darfst du zunächst neben dem leidenden Jesus stehen in mitleidiger Rührung, mit liebender Sympathie, mit frommem Zorn gegen jene schnöden Frevler, - nein, du musst dich in den Reihen der Sünder finden, in deren Hände Jesus gefallen war. Täusche dich nicht über dich selbst! Für das „entzückende und bezaubernde Ideal“, das in Jesus enthüllt ist, zu schwärmen, das hilft dir nicht, falls du nicht in dir selbst erst das Gegenteil dieses Ideals und den Schrei nach Versöhnung und Neubelebung durch diesen „idealen Christus“ gefunden hast. Ganz gewiss, an der Frage: „Was dünkt dich von Christo, wessen Sohn ist er?“ - an dieser Frage kommst du gerade gegenüber dem Gekreuzigten nun und nimmer vorbei. Gott wecke in dir das rechte Verständnis, dass du erkennst, wie Jesus nur dein Vorbild sein kann, wenn er erst dein Retter wurde, wie aber auch Niemand ein Recht hat, Ihn seinen Heiland zu nennen, der nicht auch, nach aller seiner Kraft, Jesu Nachfolger sein möchte.

Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen,
Dass man so scharfes Urteil dir gesprochen?
Was ist die Schuld, in was für Missetaten
Bist du geraten?

Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen?
Ach, meine Sünden haben dich geschlagen!
Ich, o Herr Jesu, habe das versduldet,
Was du erduldet.

Sonnabend nach Lätare.

Jesus antwortete: Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.
Johannes 18,37.

Der Prozess Jesu auf Gabbatha zeigt uns einen Spiegel der ganzen Welt. Schauen wir den Pilatus an, der einen unschuldigen Mann, den er achtet und liebt, den Juden, die ihm so verhasst sind, wider besseres Wissen und Gewissen opfert, so lernen wir wichtige Wahrheiten. Wir sehen, dass die Menschen, die nicht das Gute unbedingt wollen und das Böse nicht unbedingt hassen, dass diese Schwankenden von Denen, die in der Sünde entschieden sind, unwiderbringlich mit fortgerissen werden. Wir sehen, dass Menschenrücksicht und Menschengefälligkeit mächtige Stricke sind, die zur Hölle herunterreißen. Wir sehen ferner, dass unsere alten Sünden, wenn wir nicht den Mut haben, sie zu erkennen und mit ihnen zu brechen, uns mit Naturnotwendigkeit zu neuen Sünden zwingen. Wir erkennen an dem Volk, das in fanatischer Besessenheit „kreuzige!“ ruft, wie wenig auf das „Hosianna“ und die Gunst der großen Menge zu geben ist; wir sehen an den Erfolgen der Hohenpriester, welch eine furchtbare Macht die Agitation ist; wir lernen gegenüber dem Gebrüll des Volkes, das Jesu Blut über sich herabruft, den Satz verachten: „Volkes Stimme ist Gottes Stimme“.

Aber lassen wir das Alles; hören wir die Stimme des Einen, der, ob auch in Banden, dennoch so still und groß wie ein König auf Gabbatha steht und, unbewegt durch das Wüten der tobenden Menge, unbesorgt um den Zorn seines Richters, die gewaltigen Worte redet: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“. Wahrlich, wer ein Ohr hat zu hören, dem tönen aus diesen einfachen Worten die rollenden Donner des Weltgerichts entgegen.

„Aus der Wahrheit sein“ was heißt denn das? Nun, wir verstehen Alle, was es heißt „aus Polen“ sein. Wer so spricht, der hat in Polen seine Eltern und Verwandten, Gesinnungsgenossen und Freunde, ja alle seine Lebenswurzeln. Die Luft, die da weht, ist ihm Lebensluft, und wenn er, ob auch mitten in der Fremde, die polnische Sprache hört, so wacht sein ganzes Herz auf und die entschwundene Heimat wird ihm lebendig. So gibt es auch ein Land der Wahrheit, das nicht von dieser Welt war, aber für diese Welt sein soll. Von Ursprung her gehörten alle Menschen dazu, und auch heute noch sind sie alle dazu berufen. Aber ach! durch die Sünde ist die Welt eine Welt der Lüge geworden. Bei den Königen auf dem Thron und bei den Buben auf der Gasse, unter den Diplomaten und Bauern, unter Weltweisen und Narren herrscht die Lüge, die Unwahrhaftigkeit, und darum ist auch die Erkenntnis der Wahrheit geschwunden. Tiefes Dunkel und Irrtum jeder Art lagert über der Menschheit. Über die höchsten Fragen: „Wer ist Gott? Wer bin ich selbst? Wozu bin ich bestimmt? Was ist der Zweck des Lebens? In welchem Verhältnis steht der Mensch Gott gegenüber? Gibt es ein Leben nach dem Erdenleben?“ - über solche Fragen haben die Einen gar keine Meinung, die Anderen aber haben sehr unsichere und unsinnige Meinungen, die sich einander widersprechen.

Unzählige haben sich des Nachdenkens über die Wahrheit ganz entschlagen. In Sinnengenuss und Weltlust, Freude und Sorge des Erdenlebens haben sie sich gänzlich vergraben. Sie möchten gar nicht, dass es eine Wahrheit und einen Richterstuhl der Wahrheit gebe. Diese sind also nicht aus der Wahrheit. Aber es gibt Andere, denen ist dies die höchste Trauer, dass sie die Wahrheit nicht kennen, und ihre tiefste Sehnsucht ist, die Wahrheit zu finden und zu umfangen. Sie gleichen den Harfenspielern, deren ganzes Verlangen ist, dass sie Gott den Herrn in süßen Liedern preisen möchten. Aber ach, die Saiten ihrer Harfe sind zersprungen und sie können keine neuen spannen. Sehnsuchtsvoll aber stehen sie da, in der Hand die zerstörte Harfe; mit einem Auge voll Tränen schauen sie aus nach Dem, der ihre Harfe wieder neu macht und neu stimmt. Verstehst du nun, was das heißt: „Selig sind die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden?“ - Verstehst du nun, was es heißt: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme „?

Die sind „aus der Wahrheit“, deren höchste Sehnsucht es ist, die Wahrheit zu erkennen, ja die um jeden Preis die Wahrheit wollen, möchte sie auch die härteste Zucht über das alte Leben, ja möchte sie auch den Tod der ganzen natürlichen Gesinnung fordern. Wer so wahrhaftig ist, „der ist aus der Wahrheit“ und der wird in den vollen Besitz der Wahrheit gelangen. Wo denn? Bei mir, antwortet Jesus. Wann denn? Wenn Er „meine Stimme hört“.

Also nicht sagt Jesus: Wer aus der Wahrheit ist, der hat die Wahrheit schon; das Suchen nach Wahrheit ist schon die Wahrheit selbst. So sagen heute Unzählige, Leute im Gelehrtenmantel und Leute in der Bluse. Aber das ist eben so unsinnig, als wenn ich sagen wollte, die Sehnsucht nach einem Freund sei ein Freund. Nein, wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme, und dann hat er die Wahrheit und wächst hinein in die Wahrheit, denn mein Wort ist die Wahrheit, ja ich selbst bin die Wahrheit in Person; so spricht der Mann, der auf Gabbatha steht. Und so hat sich's erwiesen bei den Wahrhaftigen. Freudejauchzend riefen jene Wahrheitssucher, Petrus und Philippus, da sie die Stimme Jesu gehört hatten: „Wir haben gefunden.“ (Joh. 1,41.45) und schnell künden sie ihren Freunden die frohe Mär. „Wir haben gefunden!“ tönte es in den Tagen Jesu durch die Reihen der Wahrheitsfreunde. Der sterbende Räuber sogar neben dem sterbenden Jesus lispelt freudelächelnd: „Ich habe gefunden“. Und seit Jesus auf Erden lebte, lebte und litt, ist dieser freudige Klang auf Erden niemals erstorben und wohin auch die Stimme Jesu dringt, überall wachen Diejenigen, die aus der Wahrheit sind, auf wie aus einem Zauberschlaf und jubilieren: „Wir haben gefunden!“

Du auch, lieber Leser? Vielleicht schüttelt der Eine und Andere wehmütig das Haupt. So frage dich ernstlich, warum du noch nicht fandest? Bist du denn auch aus der Wahrheit? Willst du denn auch was opfern um der Wahrheit willen? Siehe doch, welchen Eifer, welche Opfer, wie viel Zeit, wie viel Kraft Leibes und der Seele die Männer daransetzen, die irgend ein großes Problem lösen, eine wichtige Erfindung machen oder eine unbekannte Flussquelle oder einen neuen Seeweg entdecken wollen. Hast du auch etwas von dem Eifer und von der Aufopferung jener Männer, du, der du die Wahrheit suchst? Bist du ganz bei der Sache und bist du bereit, dem König der Wahrheit dein altes Leben zu Füßen zu legen? Dass dir in seinen Worten und Gedanken, in seinem Tun und Leiden, noch Vieles dunkel ist, das ist kein Schade. Verarbeite nur erst treulich und einfältiglich, was dein Gewissen bewegt hat, und so gehe weiter und weiter, ob auch langsam, nur immer wahrhaftig. Und du wirst den Weg des Nikodemus gehen, der erst nur furchtsam, bei finsterer Nacht, zu Jesu kam. Aber doch war er aus der Wahrheit und ließ die Stimme Jesu in sich zur herrschenden Macht werden. Was ihm noch verborgen war, das ließ er stehen, aber er betete um Licht. Und siehe, in dem Kreuz Christi, in demselben Kreuz, das ihm erst Rätsel und Torheit war (Joh. 3,14), gerade darin ging ihm schließlich die volle Sonne der Wahrheit auf, und sein ganzes Herz wurde licht und frei und freudig. Er hatte nun den Grund gefunden, der seinen Anker ewig hält.

Ich kann's mit meinen Sinnen nicht erreichen, Womit doch dein Erbarmen zu vergleichen. Wie kann ich dir denn deine Liebestaten Im Werk erstatten?

Weil aber dies steht nicht in eig'nen Kräften, Dem Kreuze die Begierden anzuheften, So gieß mir deinen Geist, der mich regiere, Zum Guten führe.

Am Sonntag Judica.

Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und da er das gesagt, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.
Joh. 18,38.

Wie es einen „ewigen Juden“ gibt, der den kreuztragenden Christus misshandelte und deswegen bis zum jüngsten Tage unstet über den Kreis der Erbe irren muss, so gibt es auch einen „ewigen Römer“, wir meinen den Pilatus, der Jesum mordete. Auch er muss ewig bleiben und wie eine lebendige Warnungstafel immerfort durch die Reihen der Menschen schreiten. Wo das Evangelium von dem Opfertod Jesu gepredigt wird, da wird auch der Name des Pilatus genannt. „Gelitten unter Pontio Pilato“, so tönen die Worte unseres Glaubensbekenntnisses von Jahrhundert zu Jahrhundert durch alle Lande der Christenheit. So hat denn auch Pilatus seinen Namen unlösbar mit dem Namen Jesu verbunden. Aber ach, wie so gar anders als jene Maria, die Jesum salbte zu seinem Begräbnis! (Mark. 14.) Wie aber der ewige Jude ein Abbild des Volkes Israel ist, das seinen Heiland verwarf, weil es die Zucht hasste, so ist auch Pilatus ein Abbild des damaligen Römervolkes, das durch Wollust und Genusssucht den Sinn für göttliche Wahrheit verderbt hatte und deswegen zu Grunde gehen musste. Pilatus ist aber auch nur zu sehr das Abbild eines unzählbaren Volkes in unserem modernen Geschlecht, das auch von dem „Reich, das nicht von dieser Welt ist“, nichts wissen will. -

Seht doch die beiden Männer an, die im Richthaus Gabbatha, Auge in Auge, einander gegenüberstehen! Das ist eine seltsame Konferenz. Der Eine ist der Vertreter der Weltmacht, der Andere der König des Himmels. Pilatus der zeitliche Richter, Jesus der ewige Richter aller Welt. Dieser hat die Macht zu sterben; Jener hat die Macht zu töten. Pilatus steht da, umkleidet von aller Macht und Herrlichkeit der Welt, aber unruhig ist sein Herz und sein Gewissen blutet; Jesus steht da in der äußersten Ohnmacht und Schmach, aber dennoch ein König, umkleidet mit der stillen Majestät göttlicher Würde und Hoheit. Pilatus schreibt sein eigenes Todesurteil, da er Jesum in den Tod gibt; Jesus siegt und triumphiert, während er vor Menschenaugen unterliegt.

„O mächtiger Herrscher ohne Heere, -
Siegreicher Kämpfer ohne Speere, -
Du Friedefürst von großer Macht:
Es wollen Dir der Erde Herren
Den Weg zu deinem Thron versperren, -
Doch Du gewinnst ihn ohne Schlacht.“

Mit heiligem Ernst hatte sich Jesus als den König des unsichtbaren Wahrheitsreiches offenbart. Das Herz des Pilatus war tief erschüttert worden, aber er wehrt dem guten Geist Gottes, indem er sich spottend abwendet. Was ist Wahrheit?“ so sagt er und lässt Jesum stehen. Er schlägt der Wahrheit, die Einlass begehrt, die Tür vor dem Gesicht zu und gibt sich den Anstrich, als ob der Glaube an eine Wahrheit, die für Alle sei, die Alle erziehen, züchtigen, erleuchten und beglücken könne, als ob der Glaube so albern sei, wie der Glaube an Gespenster. Im Herzen ist freilich eine andere Stimme. O wir kennen den Mann und haben Mitleiden mit ihm. Es war ja freilich in der Zeit, da Pilatus lebte, besonders schwer, an den Bestand und die Herrschaft der Wahrheit zu glauben. Aber darum hätte Pilatus doch eine tiefe Sehnsucht nach der Wahrheit behalten können, wie zum Beispiel seine Offiziere, in Kapernaum, in Jerusalem und in Cäsarea. (Matth. 8,5 ff.; 27,54. Apostelg. 10.) Sie erkannten sogleich die Wahrheit, als sie ihnen in der Person Jesu entgegenkam; denn sie waren „aus der Wahrheit“. Nicht aber Pilatus; er will nicht die Stimme Jesu hören, obgleich sie ihm die Seele bewegt. Wir verstehen dich, du armer Mann; du fühlst wohl, dass du nicht an die Wahrheit glauben kannst, ohne auch die Wahrheit zu tun. Und du weißt es, dass deine erste Tat im Dienst der Wahrheit und Gerechtigkeit darin bestehen müsste, dass du diesem Jesus die Freiheit gäbst. Und was wird daraus folgen? „Ohne Zweifel, (so sagt sich der Landpfleger,) fließt daraus der grimmigste Hass der Priester, die mich beim Kaiser verklagen und um mein Amt bringen werden. Was werden aber dann meine guten Freunde sagen? wie werden meine Feinde spotten? Und wie könnte ich, der ich an so tausenderlei Genüsse und Ehren gewöhnt bin, wie könnte ich im Elend leben? Unerträglicher Gedanke! Nein, nein, es gibt keine Wahrheit, denn es darf keine geben.“

So liegen die Dinge innerlich. Das Spiel endet damit, dass der „Richter“ den Mann, dessen Unschuld er vor aller Welt bezeugt, mordet. Eben damit aber ist er, ohne es zu ahnen, ein mächtiger Zeuge für die Wahrheit geworden! Denn er hat damit bewiesen, dass die Welt zu Grunde gerichtet wird durch Menschen, - die nicht an die Existenz göttlicher Wahrheit und Gerechtigkeit glauben.

Und noch ist heutzutage der Name Derer Legion, denen die Pilatusfrage: „Was ist Wahrheit?“ als höchste Weisheit erscheint. Wir denken hier selbstverständlich nicht an Diejenigen, die mit Tränen im Auge so fragen, die redlich gesucht, aber noch nicht gefunden haben. Für Solche wird der König der Wahrheit schon Licht schaffen zu seiner Zeit. Wir meinen aber die Unzähligen, die mit leichtsinnigem Worte so fragen und die Wahrheit leugnen, weil sie die Zucht hassen. Sie spotten über die Wahrheit des Christentums, verstecken sich hinter die Heuchelei einzelner „Christen“, oder hinter die Uneinigkeit und gegenseitige Verketzerung Derer, die sich „Christen“ nennen, oder hinter diese und jene offenbare „Unsinnigkeiten der Bibel“, wobei dann regelmäßig der Esel des Bileam aus dem Stall geholt und der „Walfisch“ des Jonas aus dem Wasser gezogen wird. Sie stellen die Christen als Fanatiker und hochmütige Narren dar und zeigen, wie viel würdiger es sei, anzunehmen, dass der „gute Vater über‘m Sternenzelt“ jeden „nach seiner Fasson selig werden lasse“. - Ja, „Jeden nach seiner Fasson,“ das ist die Hauptsache, darauf kommt es den Freunden des Pilatus an. Betrachten wir sie schärfer, so merken wir leicht: Es sind Leute, die aus ihrer Fasson nicht heraus wollen; so darf denn die Wahrheit nicht Wahrheit sein, sonst könnten sie nicht mehr bleiben, tun, denken und genießen wie sie pflegen. „Die Religion darf auf alle Fälle nicht inkommodieren!“ Das ist das erste und letzte religiöse Dogma dieser Pilatusfreunde, gleichviel ob sie im Professoren-Ornat oder im Waschfrauen-Kleid einhergehen. Sie fühlen aber ganz richtig, dass sie ihre Seele, den ganzen Sinn, der sie beherrscht, viele böse Gewohnheiten im Geschäft und im häuslichen Leben, allerlei Sünden, liederlichen Umgang, vergiftende Lektüre usw. - aufgeben und opfern müssten auf dem heiligen Altar der Wahrheit, deren Zeuge und König Jesus Christus ist. Sie fliehen also die Wahrheit, weil sie uns nicht lebendig machen kann, es sei denn, dass sie uns vorher getötet hat. Würde man jene Leute auf ihr Gewissen fragen, sie würden allermeist bekennen müssen, dass sie sich in ihrem ganzen Leben kaum eine einzige Stunde redlich gemüht haben, dem König der Wahrheit in's Auge zu schauen, dass sie in ihrem ganzen Leben nur selten einige Minuten gefunden haben, wo sie vor ihrem eigenen Bild still standen und diese einige Sehnsucht hatten: die Wahrheit über sich selbst zu erfahren.

So lasse sich doch Niemand irre leiten und bange machen durch das moderne Pilatusgeschrei. Es sind nicht die Besten, die so schreien. Dagegen wird es sich befinden, dass heute wie vor Alters Alle, die Jesu Stimme verstehen wollen, auch stufenweise zum Tempel der Wahrheit hinaufkommen, bis sie am großen Tag der Enthüllung eintreten dürfen in das innerste Heiligtum zu ewiger Anbetung.

Wann werd' ich einmal kommen Zu solchem Freudenquell? Wär' ich doch aufgenommen Und schon bei dir zur Stell'! Herr Christe, nimm mein Flehen So lang' indessen an, Bis ich dich selbst ersehen Und recht beschauen kann.

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Märchen
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