Ahlfeld, Friedrich - Weckstimmen - I. Ein Blick in das göttliche Regiment.

Ahlfeld, Friedrich - Weckstimmen - I. Ein Blick in das göttliche Regiment.

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.

Text: I. Buch Mose, Kap. 18, v. 20-32:
Und der Herr sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom und Gomorra, das ist groß, und ihre Sünden sind fast schwer. Darum will ich hinab fahren, und sehen, ob sie Alles getan haben, nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist; oder ob's nicht also sei, dass ich's wisse. Und die Männer wandten ihr Angesicht, und gingen gen Sodom; aber Abraham blieb stehen vor dem Herrn, und trat zu ihm, und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es möchten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen, und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darinnen wären? Das sei ferne von dir, dass du das tust, und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, dass der Gerechte sei gleichwie der Gottlose. Das sei ferne von dir, der du aller Welt Richter bist! Du wirst so nicht richten. Der Herr sprach: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, ich Erde und Asche bin. Es möchten vielleicht fünf weniger denn fünfzig Gerechte darinnen sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünfe willen? Er sprach: Finde ich darinnen fünf und vierzig, so will ich sie nicht verderben. Und er fuhr fort mit ihm zu reden, und sprach: Man möchte vielleicht vierzig darinnen finden. Er aber sprach: Ich will ihnen Nichts tun um der vierzig willen. Abraham sprach: Zürne nicht, Herr, dass ich noch mehr rede. Man möchte vielleicht dreißig darinnen finden. Er aber sprach: Finde ich dreißig darinnen, so will ich ihnen Nichts tun. Und er sprach: Ach `siehe, ich habe mich unterwunden, mit dem Herrn zu reden. Man möchte vielleicht zwanzig darinnen finden. Er antwortete: Ich will sie nicht verderben um der zwanzig willen. Und er sprach: Ach zürne nicht, Herr, dass ich nur noch einmal rede. Man möchte vielleicht zehn darinnen finden. Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen.

In Christo Jesu geliebte Gemeinde. Es ist schon etwas Großes, wenn man einen Blick in das Kabinett und Regiment eines weisen und frommen Königs tun und sehen kann, wie er sein Regiment führt. Unter seine Hände kommen zuletzt alle wichtigen Angelegenheiten. Er soll das letzte Wort sprechen über Strafe oder Nichtstrafe, über Gefängnis oder Freiheit, über Tod oder Leben. In ihm ist beides verkörpert, das Gesetz und die Gnade, und beide ringen in ihm mit einander. Da liegt auf der einen Seite das kalte Gesetzbuch, wo es heißt: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß“. Und auf der andern Seite ist er der Landesvater; auch der Übertreter ist sein Kind, wenn auch sein verirrtes und tief gefallenes Kind. Mancher treue König hat sich, wenn er das Schuldregister des Mannes angesehen, schon umgeschaut, ob sich Nichts zu seiner Entschuldigung sagen lasse, ob keine mildernden Gründe angedeutet, ob keine begründete Fürbitte beigelegt sei. In einer kleinen deutschen Stadt hatten sich eine ganze Anzahl von Bürgern gemeinsam eine grobe Übertretung zu Schulden kommen lassen. Das Urteil wurde über sie gesprochen, wie sie es verdient hatten. Da machte sich ein Mann auf, um bei dem Könige für etliche der Übertreter Fürbitte einzulegen. Und als er fertig war; als er vorgebracht hatte, was sich zur Entschuldigung dieser Etlichen sagen ließ, da war die erste Frage des Königs: „Haben Sie denn für die Andern Nichts zu sagen?“ Das Gespräch kam auf andere Dinge; aber noch zweimal lenkte es der König auf die Frage zurück: „Haben Sie denn gar Nichts vorzubringen, was für die Andern zur Entschuldigung oder Milderung der Schuld in die Waagschale gelegt werden könnte?“ So steht es schon in dem Kabinett eines Königs, der ein Herz für sein Volk hat. Nun schaue höher hinauf. Da droben thront ein König, dem kein König gleicht. Ihm bricht allezeit das Herz seinen armen Kindern entgegen. Es ist seine größte Freude, wenn die Gnade wie ein fester Schild vor das Gesetz gestellt werden kann. Liebe Christen, wie werden uns die Herzen schlagen, wenn wir einst mit aufgetanen Augen in das heilige gnadenvolle Regiment Gottes hineinschauen! Da wird es erst recht heißen: „O welch eine Tiefe des Reichtums beides der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“ Wir werden ihm Alle zu Fuße fallen, wenn wir ganz erkennen, was hie Gnade getan hat, um uns der Gnade teilhaftig machen zu können. Doch auch hier können wir schon manchen Blick hinter den Vorhang tun. Dazu ist eben die Offenbarung da, dass wir so viel und so weit in das Allerheiligste hineinschauen, wie es uns zum getrosten Glauben, aber auch zum Schrecken vor Verhärtung und Verstockung nötig ist. In unserem vorgelesenen Texte ist der Vorhang über den Städten Sodom und Gomorra aufgetan. Wir sehen, wie in Gott und vor Gott über sie erwogen und beschlossen wird. Wir ziehen unseren Text zusammen in das Wort:

Ein Blick in das göttliche Regiment.

In dem Texte stehen vor uns:

  1. Sünde,
  2. Gerechtigkeit und
  3. Fürbitte.

Herr, unser Gott, da steht dein alter Knecht Abraham vor dir, und bittet für die verschuldeten Städte. Aber seine Bitte ist umsonst, es sind unter den Tausenden auch nicht fünf Gerechte. Es ist nur Einer darin, und den rettest du heraus, den birgst du nach Zoar, der kleinen Zufluchtsstätte. Und dann lässt du dein Gericht, deine Strafe hereinbrechen über das verstockte Volk. O Herr, erbarme dich unseres Volkes, unserer Stadt, unser Aller. Herr, lass es nie dahin kommen, dass die Gerechten, dass die, so in lebendigem Glauben ihre Gerechtigkeit in deinem lieben Sohne finden, unter uns ausgestorben wären. Lass es nie dahin kommen, dass wir nicht mehr in lebendigem Glauben für uns und Andere, und Andere für sich und uns beteten. Lass es nie dahin kommen, dass diese Gebete ungehört von deinem Gnadenthrone zurückkommen, und der Himmel ehern und eisern über uns stehe. O Herr, deine Gerichte, deine Strafen haben wir Alle wohl verdient. Aber, lieber Vater, lass es Gerichte bleiben, welche uns dienen zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit. Lass sie keinen ausgereckten Arm werden, welcher hier zerschlägt und dort in die Hölle wirft. Lass sie einen Arm sein, welcher zerschlägt, demütigt, zu Buße und Glauben treibt und dann den Balsam in die geschlagenen Wunden gießt. Gedenke unser nicht nach unsern Sünden, sondern gedenke unser nach deiner großen Barmherzigkeit. Hast du die Fürbitte Abrahams gehört, Herr, so höre viel mehr die deines lieben Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi, und brauche auch den Untergang jener Städte, um uns aufzuwecken zu einem rechten Christenglauben und Wandel. Amen.

I. Die Sünde.

Unser Text, in dem Herrn geliebte Gemeinde, führt uns in die Städte Sodom, Gomorra, Adama und Zeboim. Es waren reiche Städte. Teils bot der fruchtbare Boden selbst große Schätze. Die Gegend war, ehe sie Gott der Herr verdarb, wie ein Garten Gottes, wie Ägyptenland. Dazu waren sie Handelsstädte. Sie lagen an der uralten Straße, welche Asien und Afrika, welche Babylonien und Ägypten mit einander verband. Reich ist unsere Stadt auch und zugleich ein Platz des Handels und Verkehrs über einen guten Teil von Europa hin, ja weiter hinaus. In jenen Städten Sodom und Gomorra war der lebendige Gott ganz vergessen. Eine Strecke davon in Salem wohnte Melchisedek, ein König und ein Priester des lebendigen Gottes; aber zwischen ihm und den Königen jener Städte war weder Bündnis noch Freundschaft. Salem lag weit von Sodom, und das war denen in Sodom eben recht. Von Götzenbildern in diesen Städten wird Nichts erwähnt; aber Götzen hatten sie doch. Sie dienten, wie aus der Schrift klar hervorgeht, dem Mammon und der Lust. Sie dienten der Fleischeslust in einer Art, von der wir am Liebsten schweigen. Sie waren heimisch und sicher geworden in der Sünde. Auch ehe Gott die Städte verdarb und das schweflige Meer an ihre Stelle legte, war die Gegend wie ein Pfuhl, und der Hauch des Todes stieg überall von ihr auf. Sie hatten Todesruhe in ihrem Tode. Gott hat sie aber in demselben nicht ungewarnt und ungeweckt gelassen. Er hat auch noch ein Herz und Weckstimmen für Sodom und Gomorra. Zuerst sandte er ihnen als Prediger der Gerechtigkeit den Lot. Dieser schied sich von Abraham, weil Zank war unter seinen und Abrahams Hirten. Er, der jüngere Mann, der Neffe, der Verwaiste, an welchem Abraham Vateramt und Vatertreue geübt hatte, wählte sich, als sich die beiden trennten, diesen fruchtbarsten Teil aus. Habsucht bestimmte ihn dazu; denn auch die Knechte Gottes haben ihre Flecken. Gott aber nutzte diese Sünde. Lot zog nach Sodom und ward dort ein Zeuge des hochgelobten Gottes und seiner Ehre. Es war aber umsonst, dass er mit Wort und Wandel das Volk strafte. Wo nun die Rute des Wortes nicht mehr durchschlägt, da bindet Gott andere Ruten. Vier mächtigere Könige aus dem Innern Asiens zogen herab, schlugen die Könige von Sodom und Gomorra, töteten einen Teil ihres Volkes, nahmen den andern gefangen und der dritte floh in das Gebirge. Dann plünderten sie die Städte und zogen mit großem Gute fort. Weckt nun Krieg und Trübsal schon auf, so hätte die Freundlichkeit Gottes, welche er nach tiefer Niederlage wieder leuchten ließ, noch mehr aufwecken sollen. Weil Abrahams Vetter Lot unter den Gefangenen war, machte sich jener eilends auf, überfiel mit 318 Knechten die Feinde, die sich des nicht versahen, schlug sie, nahm ihnen die Gefangenen und alle Habe ab und brachte sie den Königen von Sodom and Gomorra wieder. Der Knecht Gottes war ihr Retter geworden. Sie hätten das verstehen sollen. Sie ließen es sich allerdings wohlgefallen, dass er ihnen die Gefangenen und die Habe wiederbrachte, sie waren auch artig und dankbar dafür; aber tiefer ging es nicht hinein. Es traf sie auch nicht, als Abraham von ihrer unreinen Habe nicht eines Fadens oder Schuhriemens wert behalten wollte. Als er fortgezogen war, blieben sie in ihren Sünden wie zuvor. In der Freiheit waren sie auch wieder frei zur alten Sünde, und mit dem wiedergebrachten Gute dienten sie auch wieder ihren alten Lüsten. Spurlos und ohne Erfolg war der Besuch dieser hohen Gestalt an ihnen vorübergegangen. Gottes Anstalten waren umsonst gewesen. Lot war, könnte man sagen, der Prediger dieses Volks; der Krieg sollte seinem Worte die Tür auftun; nach dem Kriege musste Abraham kommen wie ein hoher Bischof, um die Städte zu visitieren und ihnen ihre Sünde und die Erbarmung Gottes vorzuhalten. Es war umsonst. Im Gegenteil, es ward ärger; es mag gar noch ihren Stolz verletzt haben, dass der Fremdling aus dem Hain Mamre bei Hebron ihr Helfer werden musste. Die Bitterkeit warf sich auf Lot, ihren Fremdling, um deswillen Abraham ihnen geholfen hatte. Petrus schreibt: „Die schändlichen Leute von Sodom und Gomorra taten dem gerechten Lot alles Leid an mit ihrem unzüchtigen Wandel. Denn dieweil er gerecht war und unter ihnen wohnte, dass er es sehen und hören musste, quälten sie die gerechte Seele von Tag zu Tag mit ihrem ungerechten Wandel.“ Nun, liebe Gemeinde, Fremdlinge und Einheimische, wie dort die Sünde mächtig und frech geworden war, so ist sie es jetzt bei uns und überall auch. Wir brauchen nicht von einer einzelnen Stadt zu reden. Große und kleine Städte und Dörfer beherbergen ganze Scharen, die nicht nach Gott fragen. Gottvergessenheit und Gottlosigkeit wohnen in der Tiefe des Herzens. Der heilige Gott ist drinnen vom Altare gestoßen. Das eigene Ich samt Geldlust und Weltlust und Wollust hat sich darauf gesetzt. Unzählige Christen leben hin, wie wenn sie Bürger von Sodom oder Gomorra wären. Gemahnt und geweckt hat Gott auch. Auch sie haben sein Wort hören müssen, auch über sie kommen die Schläge Gottes. Es brauchen nicht Könige aus dem Innern Asiens zu sein. Gott hat andere Zuchtruten genug. Wiederum hat er seine strafende Hand zurückgezogen und die Sonne seiner Freundlichkeit leuchten lassen. Es hat auch wohl ein Knecht des Herrn, ein Abraham, der Träger der Hilfe, der Finger Gottes sein müssen. Gott rief: „Wer Ohren hat zu hören, der höre! Wer Augen hat zu sehen, der sehe!“ Aber Tausende haben nicht sehen wollen, sondern sich nur mehr verbittert, weil es nicht nach ihrem Willen ging. Das ist die Sünde, so steht es auf der Erde, so in der Christenheit, so bei uns. Nun schaut hinauf, wie es droben steht. Wir blicken:

II. in Gottes Gerechtigkeit.

In dem Herrn geliebte Gemeinde. Gott spricht zu Abraham: „Es ist ein Geschrei zu Sodom und Gomorra, das ist groß, und ihre Sünden sind fast schwer. Das Geschrei ist vor mich gekommen.“ Teure Gemeinde, Alles, was auf der Erde geschieht, kommt vor Gott. Jedes Gebet steigt als Geschrei zu seinem Throne, auch jede im Glauben und in der Liebe vollbrachte Tat, jedes still gegebene Almosen steigt hinauf. Aber auch jede Sünde steigt hinauf und kommt vor ihn. Sie steigt von selbst hinauf. Wie sich der Duft der Blumen nach oben drängt, wie der Hauch aus Erde und See nach oben steigt, so auch jedes Denken und Tun des Menschen. Von Abels Blut steht geschrieben, dass seine Stimme zu Gott schrie. Außerdem werden unsere Sünden hinaufgetragen durch die Klagen derer, an welchen wir uns versündigt haben. „Der Lohn der Arbeiter, die euer Land eingeerntet haben, und der von euch abgebrochen ist, der schreit, und das Rufen der Ernter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth“, schreibt Jacobus. So war auch alle Sünde und Schande derer zu Sodom hinauf gekommen. Alle Gräuel waren laut geworden vor den Ohren des Herrn Zebaoth. Und was meinst du, ist es jetzt etwa anders? Ist etwa eine Decke gelegt zwischen dich und den Herrn? Ist etwa eine Brandmauer gebaut zwischen dich und ihn, dass das Feuer deiner Sünde das Feuer seines Zornes nicht mehr entzünden könnte? Dein Unglaube und deine Einbildung, dass es der Herr nicht sehe und höre, liegt dazwischen; das ist aber keine Decke noch Mauer. Alles, was du tust, steigt auch auf. Alle Seufzer deines Vaters, alle Tränen deiner Mutter kommen hinauf vor die Ohren und Augen Gottes. Aller Betrug und alles ungerechte Gut, wenn du es auch in der Fremde an dich bringst, wird dort eben so gut angeschrieben, wie Achans gestohlener babylonischer Mantel. Besonders laut schreit das Gut, um welches du Witwen und Waisen gebracht hast. Alle gebrochenen Eide, Gelübde, Versprechungen, Verlobungen werden dort oben in das Buch getragen. Alle Tränen, alles zerknickte Leben der verführten Unschuld finden dort oben ihre Rubrik. Alle Lästerung gegen Gottes heiligen Namen, gegen seinen Sohn und sein Wort, ob mit Witz oder ohne Witz ausgesprochen, wird dort eingeschrieben. Es ist die Kunst erfunden, Bilder in einem Augenblick auf eine Glasplatte zu übertragen. Bei Gott ist es immer so gewesen, dass sich das Bild deines Herzens und deines Wandels jeden Augenblick in sein Buch, in seine Allwissenheit einträgt. Nun frage dich einmal: „Was ist wohl von deiner Jugend an bis auf den heutigen Tag über dich zu Gott hinaufgekommen! Was für Geschrei über dich ist in die Ohren des Herrn Zebaoth gedrungen!“ Wir müssen über uns selbst staunen, wie wir so gerade und getrost hingehen können, da wir doch Alle ein so gewaltiges Schuldregister bei ihm stehen haben. Ihr wisst ja wohl Alle, wer bei diesem Register unser einiger Trost ist!

Doch ehe wir zu dem kommen, haben wir noch einen gar eigenen Abschnitt unseres Textes zu betrachten. Gott spricht zu Abraham, dass er herabfahren wolle nach den sündigen Städten, um zu sehen, ob sie Alles getan haben nach dem Geschrei, dass vor ihn gekommen ist, oder ob es nicht also sei, dass er es wisse. Das klingt uns sonderbar. Muss sich denn der allwissende Gott erst an die Stätte der Sünde begeben, um die reine Wahrheit zu erfahren? Kann er denn getäuscht werden durch das Geschrei, welches von der Erde zu ihm aufsteigt? Können denn bei ihm falsche Berichte einlaufen, wie bei einem irdischen Könige? Liebe Christen, unser Kapitel zeigt uns das nahe und treue Mitleben Gottes mit uns. Die Schrift nennt ihn so gern den lebendigen Gott. Will sie damit bloß ausdrücken, dass er nicht tot ist, wie die Götzenbilder der Heiden, die da Augen haben und nicht sehen, Ohren und nicht hören, Füße und nicht laufen, Hände und nicht greifen, und die nicht reden durch ihren Hals? Nein, liebe Gemeinde, sie will Mehr sagen. Er ist der Gott, der mit uns lebt. Ob er gleich die Welt trägt mit seinem allmächtigen Walten und Wort, ob er gleich mit seinem Rat die ganze ungemessene Welt, Himmel und Hölle, Zeit und Ewigkeit umspannt, geht er doch auch mit jedem Einzelnen, wie die Mutter mit ihrem Kinde. Er ist nicht ein Gott, der ferne ist. Er geht neben jedem von uns her. Hat er es dort sichtbar getan, ist er in Menschengestalt eingewandert in jenes Sodom, so geht er heute unsichtbar selbst oder in seinen Engeln neben uns. Aber doch kommen noch besondere Zeiten, wo er recht nahe neben uns geht und sehen will, ob es sich so verhalte; wo er zugleich Hand anlegen will, ob wir uns vom Wege des Verderbens noch wollen retten lassen. Es gibt stille mittlere Zeiten, wo Alles einen ebenen Gang geht, wo ein Tag etwa aussieht wie der andere, wo keine besonderen großen Versuchungen und Gefahren vorliegen. Es gibt aber auch Tage, wo die

Seele schwankt zwischen Tod und Leben, wo es heißt: „Es ist nur ein Schritt zwischen mir und dem Tode, dem ewigen Tode.“ In solchen Stunden kommt Gott und besieht Seele und Leben. Er kehrt noch einmal ein bei dir, ob du ihn aufnehmen willst oder nicht. Es geht ein Zittern und Beben durch dein Herz, denn er steht neben dir. Und so kommt er auch nach schweren Versündigungen, wo das Herz zermalmt ist, wo die Nacht auf den ganzen Menschen fällt; wo du nun erst recht weißt, was du getan hast; wo alle die schönen Rechtfertigungen, mit denen du vorher das Gewissen stillen wolltest, Schaum und Seifenblasen geworden sind. Dann besieht Gott, was du getan hast. Er besieht es in der Nähe, in deinem Herzen. Dann fühlen wir Etwas von der Wucht des Wortes: „Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ Dann stehen der Richter und der Sünder, dann stehen Sünde und Zorn, die Stoppeln und das Feuer neben einander. Dort stand der heilige Gott neben Sodom. Und wer trat noch einmal dazwischen?

III. Die fürbittende Liebe.

In dem Herrn geliebte Gemeinde, kein Kapitel der Schrift führt uns so tief in das heilige Recht und in die Macht der Fürbitte ein wie das unsere. Der kluge Verstand lacht der Fürbitte wie des Gebetes überhaupt. Er sagt wohl: Bei Gott ist Alles von Ewigkeit fest bestimmt, Alles geht seinen unwandelbaren Gang. Wo soll da das Gebet einen Einfluss üben oder eine Änderung hervorbringen? Der du so redest, du hast eben einen toten Gott, welcher Alles von Ewigkeit her fertig gemacht hat. Dein Gott lebt nicht mit, der laufende Tag und die Freude und das Schreien seiner Kinder hat für ihn keine Bedeutung. Seine Weltgeschichte ist eine aufgezogene Uhr, die nun abläuft. Er macht selig, welche er will, und verdammt, welche er will. - So ist der Gott der heiligen Schrift, der Gott der Offenbarung nicht. Dieser hat sich in seiner wunderbaren Liebe selbst erniedrigt und beschränkt. Er gestattet, er gebietet es seinen Kindern, dass sie mit in seinen Rat hineinreden sollen. Er schenkt ihnen damit das schönste Stück Leben, denn wir haben nichts Höheres und Größeres, denn mit Gott reden und ringen zu dürfen. Wer das Gebet und die Fürbitte und die Erhörung wegnimmt, der nimmt den schönsten Edelstein aus dem Menschenleben. Was würde ein Volk sagen, wenn sein König einmal den Befehl erließe, dass hinfort Niemand weder mündlich noch schriftlich eine Bitte an ihn bringen sollte? Es würde sagen: „Unser König ist eine kalte aus Stein gemeißelte Bildsäule, ein kalter Mann des Gesetzes geworden!“ Kein frommer König wird dies werden wollen, und noch weniger ist und wird es Gott. Zwischen ihn und Sodom, zwischen Zorn und Schuld tritt Abraham in die Mitte. Er hält Gott auf auf seinem Gange nach Sodom. Er vollbringt ein reines Liebeswerk. Er hatte in Sodom keinen Freund als seinen Vetter Lot; und dass Gott den nicht untergehen ließe, wusste er doch. Die Leute von Sodom hatten ihm nichts Gutes getan. Sie hatten sich auch, nachdem er sie aus der Gefangenschaft losgestritten, nicht um ihn gekümmert. Das stört ihn Alles nicht, er bittet doch. Es ist eine Heldentat. Der Mann ist Staub und Asche und unterwindet sich dennoch zu reden mit dem allmächtigen Gotte. Es ist eine Heldentat: der arme schwache sündige Mensch hält Gott sein Wesen und Amt vor. Er fragt ihn: „Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Das sei ferne von dir, dass du das tust, und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, dass der Gerechte sei gleich wie der Gottlose. Das sei ferne von dir, der du aller Welt ein Richter bist. Du wirst so nicht richten.“ Das ist gewaltig geredet. Meinst du aber, dass Abraham, welcher Gottes Freund und der Vater der Gläubigen genannt ist, allein so reden dürfte? Du darfst es auch, du bist nicht allein Gottes Kind genannt, du bist es, und das Kind soll und muss reden mit seinem Vater, es muss sein Herz vor ihm ausschütten. In wem hatte Abraham den Mut, als Fürbitter zwischen Gott und Sodom einzutreten? Doch nur in dem heiligen Mittler, der aus seinem Geschlechte geboren werden, der auch zwischen Gott und die Schuld Abrahams treten sollte. In ihm hat er einen Mut, dessen Beharrlichkeit uns staunen macht. Er beginnt mit fünfzig Gerechten, um derentwillen Gott die Städte nicht verderben soll. Er steigt herunter auf fünfundvierzig, auf vierzig, auf dreißig, auf zwanzig, auf zehn. Und was erreicht er? Gott lässt sich von dem gläubigen Ringer mit fortziehen, er steigt mit herunter bis auf die zehn. Da tust du nun zuerst einen klaren, tiefen Blick in Gottes Regierung. Welches sind die Mächte, welche in der Welt walten? Gottes Gerechtigkeit, die menschliche Sünde, die Mittlertreue unseres Herrn Jesu Christi, des Sohnes Abrahams, und die aufgehobenen Hände der Gläubigen. Darum bete für dich, für die Deinen, für deine Vaterstadt, das ganze Land und die ganze Christenheit. Bete namentlich recht brünstig für tief gefallene Familien, damit der treue Gott noch schone mit seinem Gerichte, ob sie vielleicht wollten Buße tun. Zum Andern kannst Du sehen, wie wert die Frommen in Gottes Augen geachtet sind. Er will den ganzen Gräuel von Sodom und Gomorra weiter tragen, wenn nur zehn Gerechte darinnen sind. Oft bilden sich Könige, Staatsmänner und sonst kluge Leute ein, sie hätten mit ihrem Rate und ihren Maßregeln großes Unheil von Land und Volk abgewandt. Wenn wir aber einst in Gottes Rat und Kabinett hineinschauen, werden wir erkennen, dass er um etlicher armen demütigen, gläubigen Christenmenschen, um etlicher Gerechten in Christo dem Gerechten, willen, Schonung und Geduld geübt hat. O welch eine Tiefe der Liebe und der Erbarmung!

Zum Dritten sollst du aber auch wissen, dass, wo es keine lebendigen Kinder Gottes mehr gibt, Gott auch seinen Gerichten freien Lauf lässt. Die Säulen sind dann weg, die sie eben gehalten haben. In Sodom fand Gott Niemand als Lot, der seiner Verschonung wert war. Ihn hat er herausgeführt und dann hat er Feuer und Schwefel über die Städte regnen lassen. Wo die vier Städte gestanden haben, flutet das tote Meer; tot, weil da das Gericht und der Tod einst die ganzen Bewohner wegraffte; tot, weil in diesem Gerichtsmeere kein lebend Wesen gedeiht. Vor solchem Tode sichern nur die im Glauben und Gebete aufgehobenen Hände. Herr, gib uns solche und lass sie Säulen sein, welche deine Gerichte zurückhalten. Amen.

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