Rede zum Jahresschluss
von Professor Dr. Weiß in Tübingen.
Luk. 24, 29.
Und sie nötigten ihn, und sprachen: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.
In Jesu Christo Geliebte! Unsere Textesworte beziehen sich zunächst auf jene beiden Jünger, die von dem auferstandenen Jesus auf dem Weg nach Emmaus begleitet worden waren, ohne dass sie ihn bis dahin erkannt hatten. Wir wollen sie uns heute aneignen für unsere Betrachtung am letzten Abende des scheidenden Jahres. „Es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt,“ dieser Eindruck und Gedanke wird uns Alle in dieser Stunde ergreifen. Derselbe ist aber begleitet von einem wehmütigen, schmerzlichen Gefühl, ja von einer gewissen Bangigkeit. Wir stehen wieder am Abend eines solchen Erdentages, wie er durch den regelmäßigen Kreislauf der Sonne für uns Erdenbewohner in der Zeit eines Jahres herbeigeführt wird. Für unsern Gott allerdings wird es nicht Abend, seine Jahre währen für und für, er bleibt wie er ist, und die Nacht leuchtet ihm wie der Tag. Aber für uns? Geliebte, da ist das Ende eines solches Jahres ein gar wichtiger Abschnitt. Denn diese Jahre haben ihre gemessene Zahl, ihre bestimmte Aufgabe, ihren unersetzlichen Wert. Gar Manche unter uns wissen es gewiss, dass jedenfalls die Hälfte ihrer Erdenjahre für sie vorüber ist, Andere müssen sich bestimmt sagen, dass nur noch ein kleiner Rest von Jahren ihnen beschieden sein könne, sie stehen schon in ihrem Lebensabend; und keines unter uns kann ja wissen, ob es auch das nächste Jahr noch auf Erden beschließen darf. Aber diese unwiderstehlich dahineilenden Jahre sind uns von Gott geschenkt, damit wir darin heranwachsen und uns heranziehen lassen als seine geheiligten Kinder und als Erben seines himmlischen Reiches, damit wir uns befreien lassen vom Bösen und von dem vergänglichen Tande der Welt, und damit wir unser Tagewerk auf Erden ausrichten in eifrigem Gutestun nach seinem Willen.
Wenn das Jahr vorbei ist, und wir sind darin nicht fortgeschritten im Guten, haben davon keine gute Ernte für die himmlischen Scheunen gewonnen, so ist es ein verlorenes, ein vergeudetes, ein verderbtes Jahr, ein Jahr, das uns einmal verklagen wird vor dem Gericht Gottes. Nicht bloß, um noch länger zu leben, wünschte Mancher, das scheidende Jahr festzuhalten, wünschte den Anfang desselben zurückzurufen; sondern namentlich, um besser zu leben, als er getan hat. Aber siehe! es ist unwiederbringlich dahin, es ist hinabgesunken in den Abgrund der Vergangenheit. Und so sinken in unserer Todesstunde alle unsere Erdenjahre, unser ganzes Erdenleben hinunter in jenen Abgrund. Nämlich eben das sinkt dort hinunter, was nur der Zeit angehört hat, was nur irdisch und vergänglich daran gewesen ist, was nicht gegründet ist in Gott, dem Felsen der Ewigkeit. Dieser Gedanke hat für den natürlichen Menschen etwas Erschreckendes, mit jedem Jahresschlusse findet er sich jenem Abgrunde näher gerückt. Freilich sinken hinab mit den Gütern und Freuden dieses Lebens, mit seinen Ehren und Siegen auch seine Entbehrungen und Leiden, seine Bitterkeiten und Kämpfe. Und wenn Manches im vergangenen Jahre mehr Übles und Schmerzliches, als Wohltuendes und Erfreuliches erlebt hat, so sieht es wohl gerne, wie der müde Arbeiter und Wanderer, den Abend herbeikommen, und hofft, dass ein neuer, besserer Tag mit dem neuen Jahre anbrechen werde. Und doch bedarf gerade die Seele des leidenden, des müden, des verwundeten Christen am Abend des scheidenden Jahres noch ganz besonders der Stärkung und des Trostes, damit sie nicht bitter werde über den erduldeten Leiden, nicht verzagt wegen der noch zu erwartenden. Und so bedürfen wir Alle der Sammlung und Aufrichtung bei dem hereinbrechenden Abenddunkel, wir Alle sehen uns unwillkürlich um, nach einem höheren Halt und Trost, einer zuverlässigen Beruhigung und einem sicheren Beistand, indem wir unsere Ohnmacht und Schuld, oder doch die Flüchtigkeit und Unvollkommenheit unseres Lebens besonders stark empfinden. Doch Mancher rät uns an, dass wir die trübe Abendstimmung überwinden, durch den Gedanken an den neuen, lichten Morgen, dem wir entgegengehen. Manche beruhigen sich selbst damit, als ob wir am Morgen des neuen Jahres ohne Weiteres mit leichtem Herzen, mit neuen, frohen Aussichten unseren Tageslauf beginnen dürften. Und doch wäre dies eine große Täuschung. Wenn auch die Sonne äußerlich wieder in neuem Laufe emporsteigt, ach! gar trübe Nebel, gar dunkle Wolken können die irdische Lebenssonne verdecken, wenn nicht gar die Nacht des Todes über uns hereinbricht. Also wie töricht, wenn viele Menschen das Abenddunkel des scheidenden Jahres, das auf der Seele liegt, vertreiben wollen, indem sie, so zu sagen, den neuen Sonnenglanz des kommenden Jahres in ihrer Phantasie herbeirufen!
Aber wenn der äußere, natürliche Sonnenschein über unserem Erdenlauf sich immer wieder als ein flüchtiger und unkräftiger Schein erweist, vor dem das Erdendunkel nicht weicht, und der namentlich die sicher hereinbrechende Nacht nicht abzuwehren vermag: die himmlische Lebenssonne, die uns geschenkt ist, wirft nun auf das Leben des Christen ein ganz anderes, unvergängliches Licht. Das ist unser Herr Jesus Christus, ist unser Gott und Vater, der uns in ihm seine heilsame Gnade hat erscheinen lassen. Da wende ich mich zuerst an Diejenigen unter uns, die wirklich den Herrn als seine Jünger lieben und kennen, und die keinen anderen Wunsch haben, als mit dem Herrn ihren Lebensweg zu wandeln! Siehe, sie müssen es rühmen heute, dem Herrn zu Preis und Dank, dass er auch im abgelaufenen Jahr mit ihnen gegangen ist, und ihren Pfad erhellt hat. Von außen angesehen war ihr Leben gewiss nicht lauter Sonnenschein, ja Manche sind vielleicht durch schweres Dunkel hindurch geführt worden. Auch im Innern hat es wohl mancherlei Trübungen und Stürme gegeben, Zweifel und Anfechtungen, Versuchungen und Sündenfälle, sie haben den Herrn aufs Neue suchen müssen in Buße und Reue, in Ringen und Flehen, sie haben umkehren müssen von diesem und jenem Irrwege. Aber sie haben ihren Herrn nicht verloren, die Sonne ist ihnen nicht untergegangen für ihre Seele, auch im Dunkel haben sie noch die leuchtende Feuersäule geschaut, die vor dem Volk Gottes herzieht, und eben deshalb haben sie sich wieder zurecht gefunden, und manche Strecke des Weges sind sie auch froh und sicher dahingegangen im hellen Sonnenschein seiner Gnade und seiner herrlichen Offenbarung und Leitung, dass ihr Herz in ihnen brannte, wie dort bei den Jüngern auf dem Wege nach Emmaus. Da war an ihnen erfüllt des Herrn Wort: Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben! Und wenn nun der Abend des Jahres herbeigekommen ist, macht ihnen derselbe nicht bange, eben, weil der Herr bei ihnen ist.
Aber Geliebte! Sollten wir auch noch nicht die lautere und lebendige Erfahrung gemacht haben, wie die wahren Jünger des Herrn: Das sollen wir doch auch am Abend dieses Jahres noch erkennen, dass auch mit uns der Herr gezogen ist, dass er auch unser Leben mit seiner Güte und Treue in mannigfaltigen Erweisungen begleitet hat. Nur sind durch unsere eigene Verschuldung und Schwachheit unsere Augen gehalten gewesen, dass wir ihn nicht hinreichend erkannt haben, nur haben wir ihn selber mehr oder weniger ferne gehalten, dass er seine volle Gnade nicht an uns beweisen konnte. O, wenn von unsern blöden Augen, die vom Sichtbaren nicht hindurchzudringen vermögen in das Unsichtbare, der Vorhang weggezogen wäre, wir würden dem Herrn zu Füßen fallen und ausrufen: „Wir sind viel zu geringe aller Barmherzigkeit und Treue, die du an uns getan hast!“ Hat doch sein Aufsehen unsern Odem bewahrt, seine milde Hand uns mit Gut gesättigt, sein starker Arm Krieg und andere Plagen gnädig von uns abgewendet. So ferne der Morgen ist vom Abend, hat er lassen unsere Übertretung von uns sein, vielmehr hat er unsere Seelen zu sich gelockt mit seinem heiligen Worte und Geiste und uns den Zutritt zu seinem Gnadenthron täglich aufgetan. Gerade seine geistlichen Segnungen in himmlischen Gütern hat er besonders auch in den Festzeiten, welche wir haben feiern dürfen, wieder reichlich und unverdient über uns ausgeschüttet. Und wer weiß es, was er Besonderes an den einzelnen Häusern und an den einzelnen Seelen getan hat? Nicht umsonst heißt er ein Hirte und Bischof, d. h. Aufseher auch über die einzelnen Seelen; und gerade denen, die ihn wenig oder gar nicht beachtet haben, ruft er mit dem größten Rechte zu: „Mir hast du Arbeit gemacht in deinen Sünden, und Mühe in deinen Missetaten, mir hast du es zu danken, dass du nicht gar versunken und verloren bist, ich habe auch den fast verlöschenden Funken des Guten in dir bewahrt und angefacht, ich habe am unsichtbaren Bande dich gehalten, dass du nicht verschlungen worden bist vom Strome des Verderbens und hinuntergefallen in den Abgrund der Gottlosigkeit und Sünde, in den manche Andere hinuntergestürzt sind.“ Darum erkennt es doch, dass der Herr mit uns gegangen ist im abgelaufenen Jahre, und bringt ihm dafür den vollen Dank eurer Seelen. Darin liegt seine wunderbare Größe, dass er gerade verborgen und unerkannt das Beste an uns tut, dass er unwandelbar uns begleitet wie die Sonne am Firmament, ob wir seiner achten oder nicht. Darin erzeigt sich seine überschwängliche Liebe, dass er auch den Unwürdigen solange als möglich seine Gnade nicht entzieht. wohl uns, wenn wir, ob auch mit Zittern, am heutigen Abend wenigstens das aus innerster Erfahrung heraussprechen dürfen: „Noch ist der Herr bei uns, bei mir, noch ist meine Seele, mein Leben nicht von ihm geschieden, noch bin ich nicht völlig losgerissen von der Obhut, von der Arbeit, von dem Bande seiner Gnade, noch bin ich nicht völlig hinausgeraten in jene Leere und Finsternis, da die Seele nur sich selber und der Welt, und damit dem Verderben preisgegeben ist.“ Es ist wenig, Geliebte! was wir damit sagen können, und ich hoffe zu Gott, dass Manche unter euch viel mehr, viel Reicheres und Innigeres, Volleres und Herrlicheres rühmen dürfen von ihrer Gemeinschaft mit dem Herrn. Aber wer auch jenes Geringe noch mit Wahrheit bekennen darf, der halte es unendlich hoch, er schätze es für das Wichtigste, Nötigste, Größte, was ihm von diesem Jahre her, was ihm von allen seinen Lebensjahren her geblieben ist. Denn in dieser Verbindung mit dem Herrn liegt seine Rettung, liegt eben auch die Möglichkeit, weit inniger mit ihm noch vereinigt zu werden, und an dem vollen Reichtum seiner Gnade und seines Lebens für Zeit und Ewigkeit Anteil zu bekommen.
Haben wir dies erkannt, Geliebte, dann werden wir gewiss auch wie jene Jünger sprechen zu dem Herrn: „Bleibe bei uns, verlasse uns jetzt gerade nicht, in dieser Abendstunde, bleibe bei uns!“ Wir haben es wieder gesehen, was wir haben, noch mehr haben können und haben sollen an dem Herrn für unser inneres und für unser äußeres Leben, wir Alle zusammen und jeder Einzelne für sich und für die Seinigen. Darum können wir keinen dringenderen Wunsch hegen für uns und unsere Familien, für unsere Gemeinde, für unser Volk, als dass der Herr bei uns bleibe. O, was würde aus uns werden, wenn er sich von uns scheiden, uns verwerfen und verlassen wollte! Aber siehe, auch wenn er sich anstellt, als wollte er hinwegziehen, er lässt sich erbitten, dass er bleibe, ja er lässt sich nötigen, hereinzukommen. Noch stehen wir unter seiner Verheißung: „Siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende,“ noch ist die Zeit des Gerichts nicht über uns angebrochen, von welcher der Herr vorausgesagt hat dem Geschlechte, das ihn verworfen hat: „Ihr werdet begehren zu sehen einen Tag des Menschensohns, aber ihr werdet ihn nicht sehen.“ Geliebte! Mit solcher Bitte wollen wir uns daher wenden an den Herrn an diesem ernsten Abende, darauf soll die Sammlung und die innerste Beschäftigung unseres Geistes heute hinauslaufen. Mag auch Eines mit Petrus sprechen: „Herr gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch“, oder ein Anderer mit jenem Hauptmann zu Kapernaum: „Ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst“: gerade bei den Bußfertigen und Demütigen will er einkehren, während er an den Sicheren und Stolzen vorübergeht.
Möchten doch recht Viele ihn also bitten, nicht allein für sich selbst, sondern auch für ihre Häuser, damit er dort aufs Neue einkehre und bleibe, damit fürs ganze Leben des Hauses der Bund mit ihm erneuert werde. Ach fürwahr! wo der Herr einkehrt, da wird es Licht auch am Abend, da müssen Mangel und Sorge weichen, man kann getrost und unverzagt und im Segen weiterziehen vom alten ins neue Jahr hinüber. Amen.