Schieß, Johann Heinrich - Wie unentbehrlich und gesegnet das Gebet zu einer christlichen Missionstätigkeit sei.

Predigt von Joh. Heinrich Schieß, Pfarrer in Grabs.

Text: Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab! dass die Berge vor dir zerflössen, wie ein heißes Wasser vom heftigen Feuer versiedet! dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Heiden vor dir zittern müssten!
Jes. 64. 1, 2.

In dem, der da ist, der da war und der da kommt, geliebte Freunde und Brüder!

Wenn es je einen recht aufrichtigen und für das Reich Gottes viel hoffenden und betenden Missionsfreund gegeben hat, so war es der Prophet Jesaja. Nachdem seinem Geiste (Kap. 63) der Kampf und Sieg dessen vorgeschwebt, der „von Edom kommt mit rötlichen Kleidern von Bazra und einhertritt in seiner großen Kraft“, so beginnt er mit inbrünstiger Andacht also zu beten: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab! dass die Berge vor dir zerflössen, wie ein heißes Wasser vom heftigen Feuer versiedet! dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Heiden vor dir zittern müssten!“ Ein Gebet, liebe Brüder, das, in unsere neutestamentliche Sprache übersetzt, so lautet: „O dass doch bald dein Feuer brennte, du unaussprechlich Liebender! es bald die ganze Welt erkennte, dass du bist König, Gott und Herr! Beleb', erleucht', erwärm', entflamme doch bald die ganze, weite Welt, und zeig' dich jedem Völkerstamme als Heiland, Friedefürst und Held!“ Und kaum hat Jesaja dieses Gebet geendet, so schauen wir schon desselben selige Frucht zu Anfang des folgenden Kapitels, wo der Herr spricht: „Ich werde gesucht von denen, die nicht nach mir fragten; ich werde gefunden von denen, die mich nicht suchten, und zu den Heiden, die meinen Namen nicht anriefen, sage ich: Hier bin ich, hier bin ich!“ Ein neuer Beweis, Geliebte, wie unentbehrlich und gesegnet das Gebet zu einer christlichen Missionstätigkeit sei.

Dies sei denn auch der Gegenstand unserer jetzigen Betrachtung, die eure Aufmerksamkeit auf vier Punkte hinleiten möchte, nämlich

1) auf den Gegenstand unseres Gebetes;
2) auf die Hindernisse seiner Erhörung;
3) auf die Person, an die wir uns zu wenden haben, und
4) auf die Art und Weise, wie wir bitten müssen, wenn wir wollen Erhörung finden.

Der Gegenstand, der dem Jesaja bei seinem Gebete vorschwebte, war unstreitig die Erlösung des Menschengeschlechtes, und das ist denn auch das hohe Ziel, auf das wir Missionsfreunde aus allen Kräften hinwirken sollen.

Wenn die Erlösung der Welt der Endzweck des Todes Jesu war, wenn der Vater zu ihm sagte: „Ich will dir die Heiden zum Erbe geben und der Welt Ende zum Eigentum“; - wenn Eine Seele mehr wert ist, als tausend Welten mit ihren irdischen Schätzen, wenn unser Herr uns beten gelehrt hat: „Dein Name werde geheiligt; dein Reich komme!“; wenn in gegenwärtiger Zeit so Vieles an das Johanneische Wort erinnert: „Kindlein, es ist die letzte Stunde!“ wie sollte uns das Alles aufmuntern, für die Erlösung der Menschheit nicht allein zu beten, sondern Alles zu tun, was in unseren Kräften liegt, um dieses selige Werk zustande zu bringen!

Weit mehr als die Hälfte des Menschengeschlechtes entbehrt noch der beseligenden Erkenntnis des Evangeliums, und sitzt in Finsternis und Todesschatten. Der Zustand dieser armen Seelen ist unaussprechlich kläglich; entweder fallen sie, wenn ein Kummer sie quält, vor toten Klötzen und Steinen nieder, und finden begreiflich die erwartete Hilfe nicht, oder sie beugen sich vor dem blassen Halbmonde, der aber keinen Friedensschein in ihre müden Herzen gießt, oder sie nehmen zu Abrahams Gott ihre Zuflucht, haben aber auch den Vater nicht, weil sie den Sohn nicht haben,

Fragen wir uns nun vor Gott, Geliebte, ist uns der Jammer der armen Heiden-, Türken- und Judenwelt auch je einmal zu Herzen gegangen, und haben wir auch alles Mögliche getan, dass diese vielen Millionen unsterblicher Seelen auch noch aus der Finsternis zum wunderbaren Lichte der christlichen Wahrheit gelangen? Ist es unser Morgengebet und unser Abendseufzer: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab! dass die Berge vor dir zerflössen, wie ein heißes Wasser vom heftigen Feuer versiedet! dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Heiden vor dir zittern müssten!“? Das sollte uns ein umso heiligeres Anliegen sein, als nicht zu verkennen ist, dass die Herrlichkeit der letzten Zeit anfängt hervorzubrechen.

Ja, Brüder, wenn alle wahren Christen in Europa und Amerika täten, was sie könnten und sollten, - Satans Reich würde noch in unseren Tagen, wenn auch nicht aufhören, doch einen solchen Stoß erleiden, wie es seit Erschaffung der Welt noch nie einen erlitten hat, an dem Tage ausgenommen, als der Sohn Gottes am Kreuze gerufen: „Es ist vollbracht!“ Fürwahr, das Feld wird immer weißer zur Ernte; drum lasst, Teuerste, es uns für eine Gnade achten, wenn Gott sich unserer als schwacher Werkzeuge zur Ausbreitung seines Reiches auf Erden bedienen will.

Aber die Schwierigkeiten - die großen Schwierigkeiten! so höre ich Manche mit bedenklicher Miene ausrufen. Nun, dass es im Werke des Herrn manche Hindernisse gebe, wer wollte das leugnen? Auch Jesaja erblickt sie im Geiste, und sie erscheinen ihm so groß, dass er sie Berge nennt. Auf diese Berge lasst uns nun ein paar Augenblicke unsere Aufmerksamkeit richten, und wir werden uns bald überzeugen, dass sie allerdings nicht unbedeutend sind.

Überblicken wir im Geiste zunächst unser Europa, so scheint da der Weg zu einer recht gesegneten Missionstätigkeit mit Werkstücken vermacht. Hier stoßen wir auf alten, tief eingewurzelten, papistischen Aberglauben, während sich dort Unglaube und Freigeisterei gleich schrecklichen Vulkanen erheben, die verderbliche Lava auswerfen. Hier begegnet uns eisige Kälte und die vollkommenste Gleichgültigkeit in Dingen des ewigen Heils, dort aber bedenkliche Spaltung und Zwietracht, die bereits erwachtes Leben wieder erstickt. Sieht's aber in unserem Europa so aus, wie dürfen wir dann auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit uns einen Erfolg versprechen für unsere Tätigkeit in fernen Weltteilen, zumal der älteste derselben den traurigen Beweis leistet, wie der einmal aufgerichtete Leuchter des Evangeliums wieder kann umgestoßen werden. An den Küsten des mittelländischen Meeres, wo einstens das Christentum so herrlich blühte, erschallt nun von unzähligen Minaretts: „Groß ist Allah, und Muhamed ist sein Prophet!“ - Und es finden sich dort nur noch wenige Gegenden, wo die griechische Kirche ihr schwaches Gebet verrichtet. Überhaupt ist die Erde voller Berge heidnischer Finsternis, auf deren Gipfel des Himmels Heere verehrt und an deren Fuß Weiber und Kinder dem Teufel geopfert werden.

Diese Berge nun sind für unsere Missionsbestrebungen schwer zugänglich, zumal sie indischer Kastengeist, schreckliche Fleischesgesinntheit und überhaupt die Blindheit und Feindschaft des menschlichen Herzens tausendfältig umschanzen. Dazu kommt noch, dass die Stämme der Juden, welche nach dem prophetischen Worte in der Fülle der Zeit werden berufen werden, jetzt über diese dunklen Berge wandeln und sich hinter ihrem rabbinischen Aberglauben oder raffinierten Unglauben so fest verschließen, dass ihnen kaum beizukommen ist.

Sehen nun menschlicher Kleinglaube und menschliche Verzagtheit diese Berge von Hindernissen an, so rufen sie freilich mit dem Knaben Elisas: „O wehe, mein Herr! wie wollen wir nun tun?“ - Allein der demütige Glaube antwortet mit dem Propheten: „Fürchte dich nicht, denn derer sind mehr, die bei uns sind, denn derer, die bei ihnen sind.“ - Die Schwierigkeiten, die das heilige Werk der Mission darbietet, sollen uns also von demselben nicht abschrecken, sondern uns vielmehr anfeuern, desto mutiger nach dem Ziele zu ringen. Nicht wahr, Geliebte, hat Napoleon im Winter die Alpen überstiegen, so wollen wir uns als Christen auch von den steilsten Bergen in unserem Laufe nach dem Ziele der Heidenbekehrung nicht aufhalten lassen, sondern nur um so brünstiger beten: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab! dass die Berge vor dir zerflössen, wie ein heißes Wasser vom heftigen Feuer versiedet! dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Heiden vor dir zittern müssten!“

Zu wem müssen wir denn aber so flehen, soll unsere Bitte Erhörung finden? Zu einer Person, vor welcher Berge und Maulwurfshügel einerlei sind, zu Gott nämlich, wie er in Christo Jesu sich uns offenbart, zu dem Gott, von welchem geschrieben steht: „Dein ist Reichtum und Ehre, du herrscht über Alles; in deiner Hand steht Kraft und Macht, in deiner Hand steht es, Jedermann groß und stark zu machen!“ Ist dieser Gott, stark und mächtig, mächtig im Streite, für uns; haben wir ihn auf unserer Seite, ist unser Werk in seinem Namen begonnen, suchen wir einzig seine Ehre dabei: o Geliebte, wer mag dann wider uns sein?

Ja, Brüder, wenn der Berge Wurzeln in der Hölle befestigt wären und ihre Spitzen bis an die Sonne reichten, so würden sie durch die Berührung unseres Gottes zerfließen und vor seinem Blicke verschwinden; denn so spricht der Prophet unmittelbar auf unser Textwort: „Du tust Wunder, deren man sich nicht versieht; da du herabfuhrst, zerflossen die Berge vor dir.“

Darum wollen wir denn auch umso ernstlicher beten: „Ach, dass du, o Gott in Christo, den Himmel zerrissest und führest herab!“ Von dir allein erwarten wir die Erlösung der Welt und einen gesegneten Erfolg unserer schwachen Bemühungen. O Gott, gib aber auch, dass, indem wir für die Rettung fremder, ferner Völker beten und wirken, viele Sünder auch in unserem Lande, in unserer Gemeinde noch heute durch die enge Pforte der Bekehrung auf den schmalen, aber segensreichen Pfad des ewigen Lebens gelangen! O dass alle hohen Berge stolzer Gedanken heute erniedrigt und alle Hügel eitler Einbildung abgetragen würden, und wir Alle, Alle als eine Siegesbeute Christi und als der wohlverdiente Lohn seiner Schmerzen überwunden zu seinen Füßen lägen, ihm zum Preise und uns zum ewigen Heile!

Wie muss aber, so fragen wir endlich noch, unser Gebet für die große Sache der Mission beschaffen sein, soll es Erhörung finden? Wir antworten: wie das Gebet Jesajas. Er betete demütig. In unserem Texteskapitel bekennt er mit tiefer Beugung: „Aber nun sind wir allesamt wie die Unreinen, und alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein unflätiges Kleid.“ So müssen auch wir unsere gänzliche Abhängigkeit vom Herrn und die Beflecktheit all' unseres Tuns erkennen, soll auf demselben ein Segen ruhn. Auch ging das Gebet Jesajas aus dem Glauben hervor. Im 63. Kapitel bekennt er es ganz einfältig: „O Herr! du bist unser Vater; denn Abraham weiß von uns nicht und Israel kennt uns nicht. Du aber, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser; von Alters her ist das dein Name!“

O möchten doch auch wir in allen unseren Verlegenheiten an das große Vaterherz unseres Gottes fliehen, so würden wir nie zu Schanden.

Aber auch feurig und inbrünstig müssen wir beten. Ach, Brüder, wenn wir bedächten, dass täglich Tausende von Menschen in ihren Sünden sterben, wahrlich, das Gebet würde als ein unaufhörliches Rauchopfer zum Himmel steigen: „Herr, siehe vom Himmel herab! Ach, dass du den Himmel zerrissest!“ Segensvoller Erlöser der Menschheit, eile! Heilige Dreieinigkeit, komm und errette eine untergehende Welt! Wir wollen endlich auch vereinigt flehen um das Kommen des Reiches Gottes, ohne Unterschied der kirchlichen Uniform, die wir etwa tragen und dabei nicht ablassen. „Denn sollte Gott nicht hören seine Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen? Ich sage euch, er wird sie erhören in einer Kürze,“ - und umso lieber, je demütiger, gläubiger, inbrünstiger, vereinter und anhaltender sie zu ihm schreien.

Ja, Teuerste, wie unser Gebet für die Mission, so ist auch unsere Tätigkeit für dieselbe. Darum so lasst uns denn für dieses heilige Werk vor Allem Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung tun. Vergessen wir doch der Verheißung nicht: „Wo zwei unter euch eins werden auf Erden, warum es ist, das sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Bittet, so wird euch gegeben, sucht, so werdet ihr finden, klopft an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt, und wer da sucht, der findet, und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“ Durchs Gebet überwand Josua die wilden Stämme Kanaans, durchs Gebet trennte Moses das rote Meer, durchs Gebet besiegte Hiskias der Assyrer Heer, durchs Gebet ward Petrus aus dem Gefängnis errettet; darum erheben wir mit erneutem Mut Herz und Hand zum Himmel und sprechen: Herr Gott Israels, es ist kein Gott dir gleich, weder im Himmel noch auf Erden; der du hältst den Bund und Barmherzigkeit deinen Knechten, die vor dir wandeln aus ganzem Herzen. Wir danken dir und preisen dich, dass du, unser König und Herr, es schon geleitet hast und noch immer leitest, dass allen Völkern auf Erden dein Heil offenbar werden kann, und dass du auch die Ratschlüsse der Feindseligen zum Vorteile deines Reiches zu wenden dir angelegen sein lässt. Wir bitten dich, fahre fort, allen Völkern dich zu offenbaren, die noch in Finsternis und Todesschatten sitzen! Lass aber auch von dir, du Sonne der Gerechtigkeit, immer hellere Strahlen ausgehen über unser Land und unsere Kirche, damit es auch bei uns bald, bald Tag werde, wo dein Licht noch nicht angebrochen. Du hast, Herr, unser Gott und Erlöser, bei deinem heiligen Werke der Menschenbekehrung und Seelenerrettung so viel in unsere Hände gelegt; darum bitten wir dich, du wollest uns doch mehr Eifer für deine Sache schenken, und besonders denen, die du berufen hast, Arbeiter in deinem Weinberge zu sein. Lass, lass einen neuen Geist von deinem himmlischen Heiligtume ausgehen über alles Fleisch, und, von ihm erweckt, getragen, erfüllt, alle deine Kinder, die du dir erwählt hast, stehen und zeugen zur Verherrlichung deines Namens, der über alle Namen ist. Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab! dass die Berge vor dir zerflössen, - wie ein heißes Wasser vom heftigen Feuer versiedet! dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Heiden vor dir zittern müssten! Amen.