Predigt über Matth. 25. 1-13 von Pfr. Schieß in Grabs.
In Jesu, dem erwarteten Bräutigam, geliebte Freunde und Brüder!
„Jetzt ist böse Zeit, und der Christ im Streit.“ Ja, die Tage der längst erwarteten großen Entscheidung sind im Anbruche, wo es ein Für oder Wider gilt. Da sind denn nun der Seelen noch gar so viele, die nicht recht wissen, welchem der beiden Reiche, die jetzt um die Herrschaft ringen, sie angehören wollen - ob dem Reiche Gottes oder dem Reiche dieser Welt? „Entweder ganz mein, oder lass es gar sein!“ - so heißt die Losung im Heerlager Christi. Dann wendet sich der Herr in unserem Texte an Alle, die sich seine Jünger nennen, und warnt mit einem Ernste, der Mark und Bein durchdringt, vor aller Halbheit und allem Bruchstück im Christentume, indem er in einem vielsagenden Bilde darlegt:
den großen Unterschied zwischen den Beinahe- und den wahren Christen.
Herr Jesu, mach' mich tüchtig
Zum Eingang in dein Reich,
Mein Herz gerad' und richtig,
Ach, nur dem Deinen gleich!
Dass ich nicht stille steh'
Nein, wie ich ausgegangen,
Das Kleinod zu erlangen,
So auch zur Hochzeit geh'! Amen.
Um den großen Unterschied zwischen den Beinahe- und den wahren Christen uns zum Bewusstsein zu bringen, erzählt der Herr die Parabel von den zehn Jungfrauen, die er selber in zwei Klassen teilt. Bevor wir nun aber das, was diese Jungfrauen unterscheidet, ins Auge fassen, wollen wir hören, was sie Gemeinsames haben.
Ihr Gemeinsames ist gemeint, dass sie alle Jungfrauen heißen. Der Ausdruck ist bildlich, und es können nach dem neutestamentlichen Sprachgebrauche (2. Kor. 11. 2; Offenb. 14. 4 rc.; 19. 7) nur Seelen verstanden werden, die zur „Hochzeit des Lammes“ berufen sind, und im „reinen“ Kleide der Vergebungsgnade, „erkauft aus den Menschen zu Erstlingen Gott und dem Lamme, ihm nachfolgen.“
Von diesen Jungfrauenseelen sagt nun der Herr: „sie nahmen ihre Lampen und gingen aus, dem Bräutigam entgegen.“
Nach der Sitte des Morgenlandes kam der Bräutigam am Abend vor dem Trauungstage nach dem Hause der Braut, um sie in seine Wohnung zu führen. Während er nun sich anschickte, in Gesellschaft seiner Jugendgenossen die Braut abzuholen, machten die Freundinnen derselben (Paranymphen - Brautjungfern genannt) sich zu seinem feierlichen Empfange bereit, und gingen, sowie der Ruf erschallte: „der Bräutigam kommt!“ ihm mit langen, schön geschmückten Stäben entgegen, an deren oberem Ende eine brennende Lampe angebracht war. Diese Ehre des Entgegenkommens wollen die frommen Seelen in unserem Gleichnisse dem himmlischen Bräutigam, der sie Gott erkauft hat mit seinem Blute, nun auch erweisen, und setzen sich darum alle in Bereitschaft dazu.
Merkwürdig aber ist zu hören, wie sie nun auch alle, alle, da der Bräutigam verzog, schläfrig wurden und entschliefen.
Der Bräutigam - Christus - verzieht, wenn er zu der Zeit nicht kommt, wo ihn die Jungfrauen, die gläubigen, erwartet hatten. Solcher Perioden des Erwartens und Verziehens sind in der Geschichte des Reiches Gottes schon manche gewesen, und wir selbst haben im Jahre 1836 eine solche erlebt. So oft nun die Hoffnung der Gläubigen auf das baldige Kommen des Herrn wenigstens scheinbar getäuscht wird, so sind sie alle, die törichten freilich zuerst, aber auch die klugen - in Gefahr, ihre müden Augenlieder fallen zu lassen, gleich den Jüngern am Ölberge, und in einen solchen Zustand innerer geistlicher Ermattung, Trägheit und Schläfrigkeit, namentlich auch zum Gebete, hinein zu geraten, dass am Ende wohl Gefahr entstünde, des Eingangs zu dem ewigen Reiche unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi verlustig zu werden, wenn nicht noch eben zur rechten Zeit ein Weckruf käme.
Nun aber heißt es: „Zur Mitternacht ward ein Geschrei: siehe, der Bräutigam kommt, geht aus ihm entgegen!“
Während die klugen Jungfrauen der Abnahme des inneren Lebens ohne Zweifel sich bewusst sind, und in besseren Stunden es sich eingestehen, wie ihre Glaubenskraft, ihre Liebesinbrunst, ihre Siegeshoffnung und ihr Verleugnungswille sich schlafen gelegt, aber für den Augenblick umso weniger sich zu ermannen vermögen, als in der letzten antichristlichen Notzeit wahrscheinlich besondere Kräfte der Finsternis auf die Gläubigen eindringen, so wird es vollends Mitternacht. Die Not ist aufs Höchste gestiegen, die Stunde der Versuchung ist da, wo, wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten in den Irrtum verführt würden. - Nun, da es am Finstersten in der Christenheit aussieht und der Aberglaube und Unglaube Ales zu beherrschen scheinen, lassen sich außerordentliche Regungen spüren; der Wellenschlag eines neuen geistigen Lebens tut in den Kreisen der Gläubigen sich kund, und die Jungfrauen alle, die klugen und die törichten, rüsten sich, Jedes auf seine Weise, auf die so lebendig geahnte und nun auch laut verkündigte Ankunft des Bräutigams.
Bis hierher, meine lieben Freunde, stellte sich zwischen den törichten und klugen Jungfrauen in unserer Parabel kein wesentlicher Unterschied heraus. Alle harren des Bräutigams, und möchten die übliche Ehre ihm erweisen; alle tragen schön geschmückte Lampenstäbe in ihrer Hand, und alle entschlafen, als der Bräutigam verzieht. Nun aber hört, wie der, der Augen hat wie Feuerflammen und Herzen und Nieren prüft, die zehn Jungfrauen in zwei so ganz verschiedene Häuflein teilt, indem er mit dem heiligsten Ernste ausruft: „Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf waren klug.“
Wer Ohren hat zu hören, der höre, wie der, der da ist verordnet von Gott zu einem Richter der Lebendigen und der Toten, und vor dem wir einstens alle offenbar werden müssen, hier eine große Scheidelinie zieht zwischen den Beinahe- und den wahren Christen. Jene schauen wir im Bilde der törichten Jungfrauen, deren Torheit eben darin bestand, dass sie schöne Lampenstäbe sich angeschafft und dieselben für das Öl zugerichtet, auch an die Paranymphen äußerlich sich angeschlossen, aber die große Hauptsache, das eine Notwendige, vergessen hatten. - Die Törichten nahmen ihre Lampen - klagt unser Herr - aber sie nahmen nicht Öl mit sich. Sie verließen sich eben auf ihre reich geschmückten Lampenstäbe und auf das bisschen Öl in der Lampe, das aber freilich nicht lange reichte, und Gefäße zum Nachgießen hatten sie nicht, oder nur leere, die sie bloß zum Scheine mit sich trugen.
Nun, Brüder, die Hand aufs Herz! - Sind im Sinne unseres Herrn keine törichten Jungfrauen unter uns? Leute, deren Herz zubereitet ist zu einem Gefäße der Liebe Christi, aber es fehlt der Geist darinnen; welche die Lampe des Christentums in den Händen tragen, aber es fehlt das Licht darinnen; welche, wenn von Christo die Rede ist, keineswegs gleichgültig stehen bleiben, sondern geschäftig laufen und doch nicht zur Hochzeit kommen. Sie sind erweckt, aber nicht bekehrt; sie sind Christen, aber nicht wiedergeboren; sie wissen von menschlichem Verderben trefflich zu reden, ohne ihr eigenes recht zu erkennen; sie glauben an Jesum, ohne ein wahres Bedürfnis nach ihm zu haben; sie denken, sie reden, sie handeln ganz nach Christenweise, im Grunde betrachtet aber sind sie noch natürliche Menschen, mit denen eine innere, wesentliche Veränderung noch nie vorgegangen; der neue Adam ist in ihnen nicht geboren, sondern nur der alte Adam fromm geworden; den Rock des Fleisches haben sie nicht ausgezogen, wohl aber überzogen mit allerlei Fezen schöner Bibelsprüche, hübscher Gesangbuchverslein, frommer Redensarten und dergleichen. Ach, die Armen, sie haben Alles, nur nicht Öl in ihren Krüglein!
Wir leben, liebe Seelen, in einer gar eigentümlichen Zeit, in einer Zeit, wo allerlei Sturmvögel herum fliegen, die auf ein nahes Ungewitter schließen lassen. Der Boden der menschlichen Gesellschaft ist unterhöhlt, und durch alle ihre Kreise geht ein banges Warten der Dinge, die da kommen sollen. Da schauen sich denn Manche nach einem schützenden Obdache um, und glauben dieses in der Religion zu finden. So geschieht es nun, dass nicht Wenige in unseren Tagen Lampen und Krüglein sich anschaffen, religiöse Schriften lesen, zu den Frommen sich halten, ihre Versammlungen besuchen, an der Mission sich beteiligen, über christliches Leben schön zu reden wissen und dadurch auch oft Andern zum Segen werden, - ja nicht nur hübsche Lampenstäbe haben, sondern mit denselben auch ausgehen dem Bräutigam entgegen, d.h. an weltlichen Gesellschaften keinen Geschmack mehr finden, ja die Welt äußerlich verleugnen, ein rechtes Verlangen nach der Zukunft des Herrn aussprechen, gerne von derselben reden, im prophetischen Worte eifrig forschen, über die fleischliche Sicherheit der blinden Welt laut aufseufzen, sowie es aber einmal im Ernste heißt: Siehe, der Bräutigam kommt, geht nur ihm entgegen! unbeschreiblich bestürzt da stehen. Warum? weil das ihnen fehlt, was ihre Freundinnen haben, die der Herr darum die Klugen nennt, weil sie Öl nahmen in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen.
Das Öl, liebe Brüder, das unsere Gefäße, unsere Herzen füllen muss, soll in unseren Lampen ein Licht brennen, das vor dem Herrn bestehen kann, ist die Gnade Gottes in Christo Jesu unserem Herrn, ist die Salbung des Heiligen Geistes, ist der wahre, lebendige Glaube; und das Licht, das durch dieses heilige Öl angezündet und unterhalten wird, ist die Liebe, die Liebe Gottes und des Nächsten, die Liebe aus reinem Herzen und ungeheucheltem Glauben.
Bei den Hebräern war das Öl ein Sinnbild der Gnade des Herrn und der Salbung des Heiligen Geistes. Alle Gefäße des Heiligtums, auch die Könige, die Priester und die Propheten mussten mit Öl gesalbt sein. In der Stiftshütte musste jederzeit ein Vorrat reinen Öls sich finden, damit die Lampen des goldenen Leuchters damit unterhalten werden könnten. Über die Bedeutung dieser alttestamentlichen Typen lässt uns auch der Prophet Zacharias nicht im Zweifel, indem er Christum als den Ölbaum bezeichnete, aus dem das geistige Öl quillt, das unsere Herzen erfüllen soll.
Ja er, der Herr ist es, der ewige Hohepriester, der uns salbt und uns tauft mit dem Heiligen Geiste und mit Feuer.
Halten wir das fest, so können wir keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, was unser Herr damit sagen will, wenn er spricht: „Fünf Jungfrauen hatten Öl in ihren Gefäßen samt den Lampen, und fünf hatten kein Öl.“ Das heißt doch ohne Zweifel: die Einen waren wiedergeboren, die Andern waren es nicht; sie gehörten noch der Welt, der Sünde und sich selber an; die Einen hatten den Heiligen Geist in ihren Herzen als Pfand ihres Erbes, die Andern aber hatten den Geist der Kindschaft nicht; die Einen hatten den wahren Glauben, durch welchen Gott das Herz seiner Kinder reinigt, und die Andern waren noch in ihren Sünden, vertrauten auf ihre Gerecht- und Frömmigkeit, kannten Jesum eigentlich noch nicht, und waren auch von ihm noch nicht wahrhaft erkannt.
Brüder! dass ich es doch mit eisernen Griffeln und spitzen Diamanten in eure Herzen schreiben könnte: nicht vom bloßen Wissen von Christo, nein, vom Christushaben, vom Leben im Glauben des Sohnes Gottes und von diesem allein brennt, leuchtet, flammt und funkelt die Glaubenslampe. Aber stehe, eben dieses verdienstliche Leiden und Sterben des Menschensohnes, dieses Salböl des Blutes und Geistes Jesu Christi ist den törichten Jungfrauen Nebensache, denn es fehlte ihrem Christentume noch die wahre Wurzel; sie sind noch nie recht arm im Geiste gewesen; sie bauen noch auf so manches Andere außer Christo: darum kann denn auch ihr Herz nicht recht für Christum brennen, es bleibt kalt, oder wird höchstens lau. Solche Menschen preisen wohl Christum, aber sie dienen ihm nicht; sie loben ihn, aber sie lieben ihn nicht; sie sind wohlgesinnte, fleißige, rechtliche Leute, die schön gezierte Lampen in den Händen tragen, aber die Flamme des liebenden Glaubens und der glaubenden Liebe suchst du vergeblich darinnen: denn an Christum lebendig glauben und ihn herzlich lieben kann nur, der da weiß, was er an ihm hat, und auf die Frage: „Wer ist deines Glaubens Kraft? wer ist deines Lebens Saft?“ aus innerster Erfahrung antworten muss: „Jesus, der Gekreuzigte!“ Oder sagt an, meine Lieben, wie sollten Seelen, denen Jesus nicht Alles in Allem ist, ihm als ihren Bräutigam getrost entgegen gehen können, da ja die Liebe sie nicht dringt. Es dünkt sie wohl eine Zeit lang schön, seine Wege zu versuchen; aber sie werden bald müde und entschlafen.
Mit einem Male steht nun der Herr da, dessen Tag wird kommen wie ein Dieb in der Nacht. Die Lampen sollten brennen, aber den törichten Jungfrauen gebricht das Öl. In dem entscheidenden Augenblicke, wo ihre Lampen geschmückt sein und einen hellen Schein von sich geben sollten da erlöschen sie! Ach! lange hat die Wohlanständigkeit ihres Wandels, haben ihre christliche Sprache und ihre frommen Gewohnheiten einen gewissen Heiligenschein um sie verbreitet und sie und Andere getäuscht; sowie aber der Herr kommt, der große Herzenskündiger, so stehen sie da, unaussprechlich beschämt, und merken nun erst, dass ihre Hoffnung ein Irrlicht gewesen, und dass es ihnen gerade an der Hauptsache, am Öl, gebricht.
Was tun sie nun in ihrer großen Angst? Sie wenden sich an ihre Gefährtinnen, und bitten sie gar dringend: „Gebt uns von euerem Öl, denn unsere Lampen verlöschen.“ Wie doch das Blatt sich wenden kann! Es gab wohl eine Zeit, wo die törichten Jungfrauen die klugen gering geschätzt und sie einer gewissen Übertreibung beschuldigt, darum, dass sie zu den Lampen auch noch ein Ölkrüglein bei sich tragen. Nun aber fangen diese Beinahechristen, deren Leben zwischen Gott und der Welt geteilt gewesen, die glücklich zu schätzen an, die ihnen einstens als einseitig und beschränkt erschienen, und suchen in ihrer großen Not Trost bei ihnen. Ach, betet mit und für uns! helft uns in den rechten Gnadenstand, helft uns zu einer festen Heilsversicherung! So schreien in tiefer Seelenangst die törichten Jungfrauen den klugen entgegen; diese aber, so gerne sie auch möchten, können die Bitten ihrer Gefährtinnen nicht erfüllen, denn „kein Bruder kann den andern erlösen, noch Gott Jemand versöhnen.“ Sie begleiten jedoch ihre Weigerung: „nicht also, auf dass nicht uns und euch gebreche“ keineswegs mit Vorwürfen, rühmen sich auch nicht ihrer eigenen Klugheit, sondern geben ihnen den wohlgemeinten Rat: „Geht hin zu den Krämern und kauft für euch selbst“; verschafft euch Öl da, wo es zu haben ist; verliert keinen Augenblick weiter; eilt zu Christo, aus dessen Fülle wir nehmen Gnade um Gnade; bittet, sucht, klopft an bei dem, der gesprochen: „Wohlan, Alle, die ihr durstig seid, kommt her, kauft und esst; kommt her, kauft ohne Geld und umsonst.“
Ist aber einmal der entscheidende Augenblick gekommen, ach, da hält es schwer, das köstliche Öl erst noch zu erlangen; es hält schwer, sein Vertrauen nun mit einem Male auf Christi Verdienst zu setzen, nachdem man lange auf seine eigene Gerechtigkeit und Stärke sich verlassen; es hält schwer, sich zuletzt noch mit einer kindlichen Zuversicht in die Arme der göttlichen Barmherzigkeit zu werfen, nachdem man bis um Mitternacht, bis zur Ankunft des Bräutigams sich im stolzen Selbstvertrauen eingeschläfert. Das mussten auch die törichten Jungfrauen erfahren. Da sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam in seiner furchtbaren Majestät und Herrlichkeit, und welche bereit waren, nämlich die klugen Jungfrauen, die angetan waren mit den Kleidern des Heils und mit dem Rocke der Gerechtigkeit bekleidet, die gingen hinein zur Hochzeit des Lammes, in die ewige Herrlichkeit, zu der Gemeinde der Erstgeborenen im Himmel; - dann ward die Türe verschlossen. Nun waren die klugen Jungfrauen in Sicherheit und wie die Träumenden. Die lange Tränensaat brachte ihnen die Ernte ewiger Freude in dem Hochzeitsaale, wo weder Tod, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz mehr ist, und sie werden sagen müssen: „der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich.“
Doch hört, während im Saale drinnen ihr Mund vom Siegesjubel überfließt, klopft Jemand draußen heftig, und ein banger Klageruf wird laut. Die Klopfenden und Rufenden sind die andern Jungfrauen, die zuletzt auch noch kamen, und sprachen: Herr, Herr, tue uns auf! - Doch dafür ist's zu spät, die Gnadenfrist ist verflossen, die Scheidung des Weizens vom Unkraut tritt ein; darum die schreckliche Antwort des Richters: „Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht.“
Brüder! wem schaudert bei Anhörung dieser Worte nicht die Haut! Da stehen Leute, die hatten nichts gemein mit denen, deren Losung ist: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“; die lagen nicht mit den Säuen am Träber tröge der Augenlust, der Fleischeslust und der Hoffart des Lebens: da stehen Leute, die sonntäglich die Kirche besucht, die alle Morgen im Schatzkästlein gelesen, die mit Rührung manche evangelische Predigt gehört, manches schöne Lied gesungen, die einen stillen, ehrbaren, erbaulichen Wandel geführt. Wie kann denn aber der Herr zu ihnen sagen: „ich kenne euch nicht!“? was hat ihnen denn gefehlt? Ach, viel, viel! gar viel, ja Alles, was wesentlich zum Gnadenstande gehört: das Einssein mit Christo, das Ihn-angezogen-haben im Glauben, die rechte Lebensgemeinschaft mit ihm. Das mochten die armen Seelen wohl auch etwa dunkel fühlen, eine innere Stimme sagte es ihnen vielleicht je und je, dass zu ihrer Seligkeit ihnen noch Etwas fehle, dass es anders mit ihnen werden müsse, dass ihr Gottesdienst tot, ihr Gebet eine bloße Gelegenheitssache sei, dass sie zu sehr noch an der Welt hingen und dergleichen; doch sie verschoben ihre völlige Bekehrung auf ihr Lebensende, sie wollten eine ruhigere Zeit dazu abwarten, und trösteten sich einstweilen damit, dass sie dieses und jenes Böse nicht getan, stützten sich auf ihre Gottesfurcht, auf ihre vielen guten Eigenschaften, die die Menschen an ihnen rühmen, und hofften immer später noch das Fehlende ersetzen, später noch ihre Lampen schmücken, später noch das nötige Öl kaufen zu können. Aber siehe, nun sind sie schrecklich betrogen, und sie kommen zu spät, zu spät!
Darum der Schlussruf des Herrn: „Wacht, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird. Das ist ein Wort an alle, auch an die klugen Jungfrauen; denn wie sehr auch diese einer solchen Warnung bedürfen, zeigt der Umstand im Gleichnisse, dass auch sie schläfrig wurden und entschliefen. In Abfallszeiten, wie die unsrige ist, wo der Spötter immer mehrere werden, die nach ihren eigenen Lüsten wandeln und fragen: wo ist die Verheißung der Zukunft des Herrn, denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es Alles, wie es von Natur gewesen; in solchen Zeiten geschieht es leicht, dass auch liebe Kinder Gottes straucheln und müde einschlafen. Doch ihr Schlummer ist ein sorgenvoller, und wie der Wanderer, der am Morgen eine wichtige Reise antreten muss, in der Nacht vorher von derselben träumt und dann und wann ans Fenster tritt, um zu schauen, ob der Tag nicht bald grauen wolle, so brennt die Herzenslampe der klugen Jungfrauen noch im Schlafe fort, und sie träumen von dem Bräutigam, der da kommen soll und den ihre Seele liebt. Aber eben darum, weil die Gefahr des Schläfrigwerdens und Entschlafens Allen so nahe ist, so sollen auch Alle die Einladung des Herrn zur Wachsamkeit wohl zu Herzen nehmen.
Wacht darum, liebe Brüder, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird. Einmal kommt der entscheidende und unvermeidliche Augenblick gewiss. Kommt er nicht früher, so kommt er doch mit eines Jeden Tod. Erschüttert aber schon das Andenken an den Tod und macht nüchtern und gefasst - o meine Lieben! wie muss dann erst das Andenken an den Tag des Herrn uns erschüttern und uns wacker machen! Seelen! die Zeit, in welcher wir leben, diese Grenzzeit im Reiche Gottes, wie ein frommer Mann sie nennt, ist groß und ernst, und es liegt in ihr viel Stoff zu Furcht und Freude. Wacht nur vor Furcht, damit euch der Feind durch die vielerlei Versuche und Fallstricke seiner falschen Lehrer und Propheten nicht lass und irre macht; wacht aber auch vor Freude und Sehnsucht, dass der Herr im Kommen begriffen ist, und bringt eure Lampen ins Geschicke, und geht nur ihm entgegen. Wacht über euch selbst, ob's auch recht mit euch stehe, ob eure Buße auch echt, euer Glaube auch lebendig, eure Erneuerung auch gründlich, eure Gebetsinbrunst auch frisch und glühend, ja, mit einem Worte, euer Christentum nicht das der törichten Jungfrauen und also nur tönend Erz und eine klingende Schelle sei; wacht aber auch über eure Wachsamkeit, dass sie nicht nachlasse und schläfrig werde, und weder bei euch noch bei den Euren etwas versäume. Wacht über euer Herz, dass es sich nicht betrügen lasse durch einen bloßen Schein der Gottseligkeit; wacht über eure Sinnen, dass sie nicht verrückt werden von der Einfalt im Geiste; wacht über eure Leiber, dass ihr ihre Glieder nicht begebt zu Waffen der Ungerechtigkeit. - Freunde! was ich euch sage, das sage ich Allen: Wacht, denn ihr wisst nicht, wenn's Zeit ist, gürtet eure Lenden, füllet eure Lampen samt dem Krüglein; denn der Herr wird kommen, sei es nun zum Tode oder zum Endgerichte, zu einer Stunde, wo ihr's nicht meint. Drum
Ermuntert euch, ihr Frommen,
Zeigt eurer Lampen Schein,
Der Bräut'gam wird bald kommen,
Drum schlafet nicht mehr ein!
Er hat sich aufgemacht,
Der Bräutigam mit Pracht -
Auf! wartet, betet, wacht,
Bald ist es Mitternacht!
Macht eure Lampen fertig,
Und füllet sie mit Öl,
Und seid des Heils gewärtig,
Bereitet Leib und Seel'!
Die Wächter Zions schreien:
Der Bräutigam ist nah;
Begegnet ihm in Reihen,
Und singt Halleluja!
Er wird nicht lang verziehen,
Drum schlafet nicht mehr ein!
Man sieht die Bäume blühen,
Den schönen Frühlingsschein.
Wer wollte denn noch schlafen?
Wer klug ist, der ist wach;
Gott kommt, die Welt zu strafen,
Zu üben Grimm und Rach'
An Allen, die nicht wachen,
Und die des Tieres Bild
Anbeten samt dem Drachen.
Drum auf, der Löwe brüllt!
Begegnet ihm auf Erden,
Ihr, die ihr Zion liebt,
Mit freudigen Gebärden,
Und seid nicht mehr betrübt!
O Jesu, meine Wonne!
Komm bald und mach dich auf!
Geh auf, verlangte Sonne,
Und fördre deinen Lauf!
O Jesu! mach ein Ende,
Und führ' uns aus dem Streit;
Wir heben Haupt und Hände
Nach der Erlösungszeit.
Wir harren dein, du wirst es tun!
Dein Herz voll Liebe kann nicht ruhn,
Bis Alles ist vollendet.
Die Wüste wird zum Paradies,
Und bittre Quellen strömen süß,
Wenn du dein Wort gesendet.
Zu dem Sturme
Sprichst du: Schweige!
Meer, verseige!
Flammen, zündet!
Tempel Gottes, sei gegründet! 1)