Quandt, Emil - Die Wanderungen des Menschensohnes. Vorwort.

Wir gehen dahin und wandern von einem Jahr zum andern: so singen wir evangelischen Christen mit dem teuren Sänger Paul Gerhard, so oft wir an einem der Meilensteine unsers Lebens stehen. O Welt, ich muss dich lassen, ich fahr' dahin mein' Straßen ins ew'ge Vaterland: so heben wir an, dem lieben Nürnberger Liederdichter Johannes Hesse nachzusingen, so oft wir an unser Ende denken, da alle unsre Jahre auf die Neige gehen und unsre Zeit verronnen ist. Wir bekennen damit, dass wir Gäste und Fremdlinge auf Erden sind, dass unser Leben eine Wanderung ist - wohin? Der eine Weg ist breit, und Viele sind, die darauf wandeln, und er führt zur Verdammnis: davor behüte uns, lieber himmlischer Vater! Der andre Weg ist schmal, und Wenige sind, die ihn finden, und er führt zum Leben: dazu hilf uns, lieber Vater im Himmel! Wohl dem, der durch die Gnade Gottes in Christo den schmalen Weg gefunden hat, dass er sagen kann: Ich weiß, an wen ich glaube; ich glaube, dass, so mein irdisches Haus dieser Hütte zerbrochen wird, ich einen Bau habe, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist, im Himmel. Der uns aber zu dem selbigen bereitet, das ist Gott, der uns das Pfand, den Geist, gegeben hat. Des Christen Leben ist eine Wanderung durch das Land der Disteln und Dornen nach Salems goldenen Zinnen.

Das Leben eine Wanderung: gilt das von den Christen, so muss es auch von Christo gelten; denn gleichwie wir sind in dieser Welt, so war auch Er in den Tagen seines Fleisches in dieser Welt, nur ohne Sünde. Allerdinge ist er seinen Brüdern gleich gewesen; darum ist er auch wie sie mit dem Pilgerstabe in der Hand durch dies arme Leben gewandert, nur in die Sünden ging er niemals mit. Jesus Christus, auch Du warst ein Pilger Gottes hier auf Erden, und droben war Dein rechtes Vaterland! Johannes, der Jünger, der den Meister am besten kannte, weil er an seiner Brust gelegen, nennt in seinem hochberühmten Weihnachtsspruch Ev. Joh. 1, 14 das Wohnen des fleischgewordenen Wortes unter uns eigentlich ein Zelten: Das Wort ward Fleisch und zeltete unter uns ein Ausdruck, der dem Wanderleben der Nomaden entlehnt ist, die ihre Zelte heute aufschlagen und morgen wieder zusammenrollen, weil sie nirgends auf Erden eine bleibende Stätte haben. Jesus Christus zeltete unter uns, ward ein Wanderer wie wir, pilgerte wie wir von der Wiege - bei ihm war's eine Krippe - bis zur Bahre - bei ihm ein Kreuz - bis er durchs Kreuz zur Krone kam, durch Leiden und Sterben zur Auferstehung und Himmelfahrt, und er verklärt ward mit der Herrlichkeit, die er beim Vater hatte, ehe denn die Welt war.

Das Leben eine Wanderung: es gilt das von dem Meister in noch viel tieferem Sinne, als von den Jüngern. Des Menschen Sohn ist nicht nur von einem Jahr zum andern, sondern auch von einem Ort zum andern gewandert; das Pilgern war, so lange er im Fleische wallte, seines Lebens Element. Was uns von seinem Erdenleben in den heiligen Geschichten der Schrift erzählt wird, von seiner Kindheit wie von seinem Mannesalter, gibt uns den Eindruck, dass er eigentlich nie hatte, wo er sein Haupt hinlegte, dass bei ihm der Ruhestätten wenige und des rastlosen Wanderns viel war, dass er wie in einem selten unterbrochenen Wanderzuge durch diese Welt zog. Als Pilgerkind ist er geboren; die Jungfrau Maria hat ihn auf einer Wanderung in Bethlehem, da sie nicht einmal Raum fand in der Herberge, geboren. Kaum war dies Pilgerkind sechs Wochen alt, so ging die Wanderung mit ihm weiter nach Jerusalem, von da zurück nach Bethlehem, von Bethlehem über Land und Erdteil hinaus nach dem afrikanischen Ägypten, von Ägypten aber nach Nazareth; so dass also schon das erste Lebensjahr des Menschensohnes ein Wanderjahr ohne Gleichen ist. Aus seinem Leben, wie es von seinem zweiten bis zu seinem dreißigsten Lebensjahre sich entfaltet hat, ist uns nur eine einzige Geschichte in der Heiligen Schrift aufbewahrt, und diese Geschichte ist eine Wandergeschichte, die Geschichte von dem ersten Tempelgang des heiligen Knaben. Am ausführlichsten sind uns die letzten drei Lebensjahre des Heilandes von den vier Evangelisten geschildert, denn es sind das seine Amtsjahre, in denen er vor den Augen Israels seine prophetische Kraft entfaltete, seine königliche Würde offenbarte, sein hohepriesterliches Opfer vollbrachte; und gerade diese drei letzten Jahre des Lebens Jesu Christi im Fleische kennen wir sie nicht Alle als die vielbesagten Wanderjahre des Menschensohnes im eigentlichsten Sinne, da der Herr umherzog im jüdischen Lande, gesalbt mit dem heiligen Geiste und Kraft, und predigte Worte des Lebens und tat Wunder des Erbarmens und ließ sich überantworten in der Sünder Hände zum Tode, ja zum Tode am Kreuz? O wahrlich, was David, der Mann nach Gottes Herzen im alten Bunde, Psalm 39, 13 von sich sagte: „Ich bin Dein Pilgrim,“ das konnte der, der der Mann nach Gottes Herzen im neuen Bunde ist, der Davids Sohn und Davids Herr ist, das konnte des Menschen Sohn für sich im allervollsten Sinne in Anspruch nehmen; sein Leben in den Tagen seines Fleisches, soweit es uns zu unserm Heile geschildert ist, war eine Reihe von Wanderungen.

Sieben der wichtigsten von den Wanderungen des Menschensohnes sollen auf diesen Blättern der Schrift in der Weise nachgezeichnet werden, dass sich die für unser eignes Herz und Leben erbaulichen Momente derselben besonders hervorheben. Indem wir Jesum Christum in sieben Betrachtungen als den heiligen Bilger Gottes anschauen, ersehnen wir für unser eignes Pilgergefühl Erfrischung und Stärkung. Die sieben Wanderbilder, die wir aus dem Leben des Menschensohnes uns vorhalten, sollen der Reihe nach folgende sein: Die Flucht. nach Ägypten, der erste Tempelgang, die Wüstenreise, die Seereise, der Gang über Feld, die Teste Festreise, die Marterstraße.

Er selber aber, der nun längst eingegangen ist zu seiner Ruhe und von den Höhen des himmlischen Thrones auf dieses durch sein Blut erlöste Wandertal gnädig niederblickt, schenke uns seinen Geist und Segen für die andächtige Betrachtung seiner Pilgerwege; seinen Geist, dass wir den perlenden Tau den Himmels schauen, der auf seinen irdischen Fußtapfen ruht, seinen Segen, dass wir im Blick auf den Anfänger und Vollender unsers Glaubens selbst feste Schritte tun mögen auf unsern Pfaden, bis wir eingehen in die Ruhe, welche dem Volke Gottes vorhanden ist in der ewigen Heimat. Amen.