Kap. 1, 3-8.
Ich danke meinem Gott, so oft ich eurer gedenke, (welches ich allezeit tue in alle meinem Gebet für euch alle, und tue das Gebet mit Freuden,) über eurer Gemeinschaft am Evangelio, vom ersten Tage an bisher. Und bin desselbigen in guter Zuversicht, dass, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen, bis an den Tag Jesu Christi. Wie es denn mir billig ist, dass ich dermaßen von euch allen halte; darum, dass ich euch in meinem Herzen habe, in diesem meinem Gefängnis, darinnen ich das Evangelium verantworte und bekräftige, als die ihr alle mit mir der Gnade teilhaftig seid. Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlanget von Herzensgrund in Jesu Christo. Amen.
Jedes Menschenleben, wenn es nicht bloß eine Schale ist, sondern auch einen Kern hat, wenn es nicht bloß ein Leben nach außen ist, sondern auch ein Leben im Innern, ist auch ein Leben im Erinnern, es wird je länger, je mehr von Erinnerungen umworben, seien sie leidvoller, seien sie freudvoller Art. Denn die Menschenseele ist wie die Meeresmuschel, die das Kind sich an das Ohr hält, es geht ein Rauschen der Vergangenheit durch ihr Inneres. St. Paulus spricht das von sich selber aus, wenn er nach dem apostolischen Gruß der Epistel an die Philipper mit dem Satz eröffnet: Ich danke meinem Gott, so oft ich eurer gedenke, oder buchstäblicher übersetzt: auf Grund all meiner Erinnerung an euch.
Paulus spricht anderswo öfters von seinen Erinnerungen leidvoller Art; und eine, die allerleidvollste, hat wie eine Trauerglocke wehmütig durch sein ganzes Leben geläutet, die Erinnerung daran, dass er einst ein Lästerer und Schmäher des Herrn Jesu gewesen war und die Gemeinde Gottes verfolgt hatte. Unter St. Pauli freudvollen Erinnerungen steht die Erinnerung an den Tag von Damaskus obenan, und er spricht oft davon wie ein selig Träumender, dass ihm, dem vornehmsten der Sünder, Erbarmung widerfahren sei, Erbarmung, deren er nicht wert. Demnächst sind seine fröhlichsten Erinnerungen diejenigen, die sich auf die Aufnahme des Wortes Gottes bei den Gemeinden beziehen, denen er es gepredigt hatte. So jauchzt er in der sonst so ernsten und strafenden Epistel an die Galater bei der Erinnerung an die alten Tage, da er das Evangelium in großer Schwachheit nach dem Fleische gepredigt hatte und die Galater ihn nichtsdestoweniger aufgenommen hatten wie einen Engel Gottes, ja wie Jesum Christum selber, und da sie, wenn es möglich gewesen wäre, ihre Augen ausgerissen und ihm gegeben hätten.
Eine freudvolle Erinnerung ähnlicher Art ist es, die Paulus im Sinne hat, wenn er anhebt, den Philippern zu sagen: Ich danke meinem Gott auf Grund all meiner Erinnerung an euch. Paulus erinnert sich, wie er es im Folgenden weiter ausführt, frohgemut der Gemeinschaft der Philipper am Evangelium vom ersten Tage an bisher. Für diese Gemeinschaft dankt er seinem Gotte als ein treuer Beter. Von dieser Gemeinschafft hofft er, dass Gott das gute Werk, das er angefangen, auch vollführen werde bis an den Tag Jesu Christi. Von dieser Gemeinschaft sagt er, dass er sie liebevoll in seinem Herzen trage, und dass er sich nach ihren Gliedern sehne von Herzensgrund in Jesu Christo.
Indem wir diesen Herzenserguss St. Pauli für unsere Erbauung verwerten, machen wir zum Gegenstand unserer Betrachtung
als
die Gemeinschaft am Evangelium
1. die dankenswerteste Gemeinschaft,
2. die hoffnungsreichste Gemeinschaft,
3. die liebevollste Gemeinschaft.
Du das Haupt und wir die Glieder, du das Licht und wir der Schein, du der Meister, wir die Brüder, du bist unser, wir sind dein. Amen.
Ich danke meinem Gott, so beginnt Paulus, so oft ich eurer gedenke, welches ich allezeit tue in meinem Gebet für euch alle und tue das Gebet mit Freuden, über eurer Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tage an bisher. Die Gemeinschaft der Philipper am Evangelium ist dem Apostel vor allem und zuerst ein Gegenstand freudigen Dankes.
So oft in der Seele des Apostels die Erinnerung an Philippi und die Philipper auftaucht, treibt sie ihn ins Gebet und zwar ins Dankgebet für ihre Gemeinschaft am Evangelium. Er selber hatte den Philippern, als den Erstlingen Europas, einst auf seiner zweiten Missionsreise, etwa im Jahre 53 nach Christi Geburt, das Evangelium gebracht; als das in den Banden des Heidentums schmachtende, nach Erlösung sich sehnende Europa durch den Mund des Mannes von Makedonien nach Asien hinüber gerufen hatte: „Komm hernieder und hilf uns!“ da war Paulus mit Silvanus und Timotheus nach Philippi gekommen, zu helfen durch den Helfer Jesus Christus. Die Purpurkrämerin Lydia war die erste Seele in Philippi, in Europa, die das Evangelium gläubig annahm, und Paulus taufte sie und ihre Familie. Darnach glaubte der Kerkermeister an den Herrn Jesum Christum und wurde selig mit seinem ganzen Hause. Und ob auch Paulus die Stadt bald verlassen musste und nur noch einmal, vielleicht zweimal wiederkam, so zog doch in Philippi immer eine Seele die andere hinterdrein in die Gemeinschaft am Evangelio, wie Epaphraditus, Synzygus, Evodia, Syntyche, und es blühte, auch unter äußerlichem Druck und Verfolgung, in Philippi eine Gemeinde auf mit reinem und reichem christlichem Leben, eine Gemeinde, von der der Apostel viel mehr Gutes und Löbliches zu sagen weiß, als von andern Gemeinden, eine Gemeinde, die ihrerseits mit rührender Innigkeit und Treue an ihrem geliebten Apostel hing. Was Wunder, wenn Paulus, da er seinem jungen Freunde Timotheus den Brief an die Philipper diktiert, seine Hände emporhebt zu seinem Gott im Himmel und betend dankt für ihre Gemeinschaft am Evangelium!
Gemeinschaft am Evangelium - wir haben sie auch und halten sie auch in unserer evangelischen Gemeinde, in unserer evangelischen Landeskirche, in unserer evangelischen Christenheit, tausend, tausend Mal sei dir, liebster Jesu, Dank dafür. Der Apostel Paulus, längst gestorben und doch noch lebendig, hat auch uns Deutschen das Evangelium gepredigt durch Mund und Schrift Dr. Martin Luthers; Wittenberg ist ein neues Philippi geworden für Europa und für die Welt und das teure Evangelium hat seine verbindende Kraft seit der Reformation wieder an Millionen Seelen bewährt. Wir sind als Glieder der evangelischen Kirche getauft, gelehrt und eingesegnet. Wir haben Gottes Wort im Hause, wir haben Gottes Wort, will's Gott, auch im Herzen. Wir hören Gottes Wort im Gotteshause und genießen das hochwürdige Sakrament des Abendmahles, von dem unsere Seele aus mannigfacher Erfahrung spricht: Das Geheimnis dieser Speise und die unerforschte Weise macht, dass ich früh vermerke, Herr, die Größe deiner Stärke. Unsere Ehen sind durch das Evangelium getraute Ehen; unsere Kinder sind im Glauben an das Evangelium unsere Brüder und Schwestern in Christo; und über den Gräbern unserer Lieben leuchten durch das Evangelium die goldenen Sterne der Ewigkeit. Tausend, tausend Mal sei dir, liebster Jesu, Dank dafür! O wir sind ja dankbar auch für die Volksgenossenschaft, in die uns Gott gesetzt hat, für die Gemeinschaft an den nationalen Gütern, die wir genießen, und singen es gerne mit: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt. Wir danken auch Gott für die städtische Gemeinschaft, in der wir stehen, und freuen uns, dass wir Wittenberger Bürger sind. Aber viel höher steht uns doch die evangelische Gemeinschaft, die Gemeinschaft mit dem Wort des Heils und die Gemeinschaft mit allen denen, die am Wort des Heils hangen. Denn in und mit dieser Gemeinschaft haben wir alles, was uns glücklich macht, die Vergebung der Sünden, die Versöhnung mit Gott und das ewige Leben. Tausend, tausend Mal sei dir, liebster Jesu, Dank dafür.
Und ich bin desselbigen in guter Zuversicht, so fährt Paulus im Texte fort, dass, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird's auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi. Der Apostel verbindet mit dem Ausdruck seines Dankes für den schönen Anfang, den die Philipper in der Gemeinschaft am Evangelium gemacht haben, den Ausdruck seiner Zuversicht auf einen schönen Fortgang und Ausgang. Er sieht zunächst dabei ganz davon ab, wie viel bei einem gesegneten Fortgang bis zur Vollendung auf das Verhalten der Philipper selber ankomme. Er setzt seine Hoffnung für die Zukunft allein auf Gott. Gott tut nichts Halbes, Gott lässt sein Werk nicht liegen. Gott hat das gute Werk des evangelischen Christentums unter den Philippern angefangen; und was Er angefangen, das wird er auch hinausführen bis zu dem großen Tage, da der gekreuzigte und auferstandene Heiland wieder kommen wird, seine ganze ewige Herrlichkeit zu offenbaren. Wir lernen: Wo immer Gemeinschaft am Evangelium ist, da trägt sie, sofern sie Gottes gutes Werk ist, die Zukunft, ja die Ewigkeit in sich. Es gibt keine Gemeinschaft von so hoffnungsreicher Art, als die Gemeinschaft am Evangelio.
Die Philipper, an die Paulus weiland seine herrliche Epistel schrieb, sind längst den Weg alles Fleisches gegangen und ihre schöne Griechenstadt ist vom Erdboden verschwunden, nur ein kümmerliches Dorf Felia liegt heutzutage bei den alten Ruinen. Aber wir dürfen gewiss sein, dass Gott das gute Werk, das er in den Seelen der Lydia und ihrer Glaubensschwestern, des Epaphroditus und seiner Glaubensbrüder begonnen hatte, auch vollendet hat, und dass die Philipper durch den Glauben an Jesum Christum in Frieden dahin gefahren und längst mit Himmelsglanz umgeben sind. Über ihren Gräbern ist die Gemeinschaft am Evangelium weiter gediehen und hat sich ausgebreitet von einem Geschlecht zum andern. Als Paulus in Philippi die ersten Seelen für den Herrn gewann, lag das ganze übrige Europa noch in Finsternis und Schatten des Todes; jetzt gibt es kein einziges Land mehr in Europa, in dem nicht das Evangelium gepredigt würde, in dem nicht der Ruf erschallte: Lasst euch versöhnen mit Gott in Christo, in dem nicht gläubige Jünger Jesu Christi wären. Das Evangelium ist bei seinem Gange durch Europa durch manche Verdunkelungen gegangen, aber es hat auch immer wieder strahlend geleuchtet als die Sonne, die durch Wolken bricht. Ja, Gott hat durch das gute Werk der Reformation dem Evangelium eine besondere Heimstätte bereitet in der evangelischen Kirche, unsrer teuren geistlichen Mutter. Und durch wie viel Gedränge auch immer die evangelische Kirche gegangen ist, Gott hat ihr mit starker Hand hindurch geholfen, und Er wird ihr auch hindurch helfen durch alle Beengungen und Beängstigungen der Gegenwart, durch alle Kämpfe der Zukunft, dass auch die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen können. So lange Christus Christus ist, wird seine Kirche dauern; nicht Menschenwitz, noch Macht und List zerstören ihre Mauern.
Und auch uns einzelne, die wir innerhalb der Mauern der evangelischen Kirche im Glauben dahinleben und dahinsterben, wird der gnädige und starke Gott im Glauben und damit in der Heilsgewissheit heiligen und erhalten, bis an unser seliges Ende. Wir müssen uns nur von ihm führen lassen. Ist es aber nicht also: Je älter man wird im evangelischen Glauben und in der evangelischen Erkenntnis, desto demütiger senkt sich die Seele in Gottes Herz und Hände, desto kindlicher betet sie: „Ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt, wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit.“ Der Herr aber behütet jede gläubige Seele wie seinen Augapfel und nimmt am letzten Ende jedes Schäflein seiner Herde auf seine Achsel und trägt es heim in die ewige Hürde. Die evangelische Gemeinschaft, die Gemeinschaft am Evangelium ist die hoffnungsreichste Gemeinschaft, denn sie verbürgt auch ihrem schwächsten Gliede die Seligkeit in Ewigkeit.
Wie es denn mir billig ist, so schließt unser Text, dass ich dermaßen von euch allen halte, darum, dass ich euch in meinem Herzen habe in diesem meinem Gefängnis, darin ich das Evangelium verantworte und bekräftige, als die ihr alle mit mir der Gnade teilhaftig seid. Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Christo Jesu. Bisher hatte der dankbare und hoffnungsfrohe Paulus gesprochen; nun spricht der liebende, liebevolle Paulus. In der zartesten Weise deutet er an, dass, so sehr er auf Gott seine Hoffnung setze für den geistlichen Fortschritt der Philipper, sie selber doch auch durch ferneres frommes Verhalten dazu mitwirken müssten; dass sie es tun würden, sagt ihm die Liebe, die er für sie im Herzen trägt; denn diese Liebe macht ihn nicht blind, sondern sehend, wie ähnlich die rechte Mutterliebe im Herzen des geliebten Kindes liest, was kein anderer darin entdeckt. Die Gemeinschaft der Philipper am Evangelium war aber auch eine Gemeinschaft mit ihm selber, der ihnen einst das Evangelium gebracht hatte; Paulus und die Philipper waren auf Grund des Evangeliums in innigster Liebe verbunden. Paulus war ferne von ihnen in Rom, ein gefangener Mann, aber auch in der Gefangenschaft für das Evangelium nicht nur leidend, sondern auch wirkend. Die philippischen Mitgenossen seiner Gnade hätten in ihrer Liebe gern für Paulus, mit Paulus gelitten; da sie das nicht konnten, so taten sie für ihn, was sie konnten, und schickten ihm aus ihrer Mitte einen Boten mit Liebesworten und Liebesgaben. Paulus andererseits fühlte mitten in der lärmenden Weltstadt Heimweh nach der stillen Gemeinschaft in Philippi und da er nicht zu ihnen reisen kann, so tut er, was er kann, und schreibt dankend diese wundervolle Epistel, in welcher jede Zeile vom Hauch der Liebe durchweht ist. Die Gemeinschaft am Evangelium erweist sich als die liebevollste Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft am Evangelium, der wir nicht nur von Geburt, sondern von Herzen angehören, die deutsche evangelische Kirche weiß von der Liebe der Gläubigen gar köstliche Lieder zu singen. Sie preist: Heilig, selig ist die Freundschaft und Gemeinschaft, die wir haben und darinnen uns erlaben. Sie jubelt: Längst vermisste Brüder find' ich nun in Jesu Jüngern wieder. Sie mahnt: Herz und Herz vereint zusammen sucht in Gottes Herzen Ruh, lasset eure Liebesflammen lodern auf den Heiland zu. Wenn nun auch das wirkliche Leben meist zurückbleibt hinter dem Leben, wie es von den Dichtern verklärt ist, so muss man doch zur Ehre Gottes sagen, dass auch heutzutage noch die Gemeinschaft am Evangelium tausendfältig sich als die liebevollste Gemeinschaft bewährt und beweist. Noch heute flammt in Tausenden von evangelischen Herzen eine solche Glut der Liebe zu Jesu Christo, dass sie ihn im Staube ehren und sich in seinem Dienst verzehren. Noch heute, ja gerade heutzutage breitet sich das Netz missionierender evangelischer Liebe über alle fünf Erdteile und die Inseln der Ozeane aus. Noch heute werden in Zion barmherzige Samariter geboren, salbende Marien, freigebige Philipper. Mitten in einer eiskalten, selbstsüchtigen Welt feiert noch heute die warme evangelische Liebe ihre prunklosen Triumphe, die Liebe aus Glauben, die Liebe ohne Lohn, die Liebe ums ewige Leben.
Gepriesen sei die Gemeinschaft am Evangelium. Sie ist die dankenswerteste, die hoffnungsreichste, die liebevollste Gemeinschaft. Amen.
Phil_1