Das kirchliche Leben.
Text: Ap. Gesch. II, V. 42-47.
Sie blieben aber beständig in der Apostel-Lehre und in der Gemeinschaft und im Brodbrechen und im Gebet. Es kam auch allen Seelen Furcht an, und geschahen viel Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig waren worden, waren bei einander, und hatten alle Dinge gemein, Ihre Güter und Habe verkauften sie, und theilten sie aus unter alle, nachdem jedermann Noth war. Und sie waren täglich und stets bei einander einmüthig im Tempel, und brachen das Brod hin und her in Häusern; nahmen die Speise und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen, und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber that hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeinde.
Sagt selbst, Geliebte, ist das nicht ein überaus liebliches Bild der apostolischen Urgemeinde zu Jerusalem? und mußten wir nicht wünschen, es stellte sich heute noch lebendig dar in allen unsern gegenwärtigen Gemeinden? Freilich nicht alle einzelnen Züge dieses Bildes können wiederkehren heut zu Tage, es geschehen nicht mehr die Zeichen und Wunder, wie damals, durch die Apostel, durch welche allen Seelen Furcht ankam, es ist auch nicht mehr möglich, noch nothwendig, daß wir alle Güter und Habe verkaufen und alle Dinge unter einander gemein halten; die Hauptzüge aber, welche das gemeinsame kirchliche Leben der ersten Christen bezeichneten, dürfen nicht fehlen, es muß auch heute noch von uns Allen, sofern wir wahre Christen sein wollen, heißen: „Sie waren täglich und stets bei einander einmüthig im Tempel und brachen das Brod hin und her in Häusern, nahmen die Speise, und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen, und hatten Gnade bei dem ganzen Volk.“ So laßt uns denn dies kirchlich-gottesdienstliche Leben näher betrachten 1) in seinem Zweck und 2) in seiner Feier.
Der Zweck des christlichen Gottesdienstes ist ein zwiefacher, er soll einmal eine Nahrung sein für unser Leben in Gott, er soll sodann sein ein Band unserer christlichen Gemeinschaft unter einander.
Zuerst Nahrung unseres geistlichen Lebens in Gott. Es ist keine Frage, daß wir dieselbe bedürfen. Der Herr sagt selbst: „Der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes gehet“ (Matth. 4, 4). Wie unser Leib Speise und Trank bedarf, um m bestehen, so bedarf die Seele auch Speise und Trank geistlicher Art, oder sie verkrüppelt, verhungert und geht unter; und bieten wir ihr diese Befriedigung nicht, entziehen wir ihr das Eine Nothwendige, so sind wir eben so gut Selbstmörder, weil Seelenmörder, wie derjenige, der irgend wie äußerlich Hand an sich selbst legt. Wem der Sonntag nicht mehr ein Tag der Andacht ist und wer die Kirche unbenutzt stehen läßt und versäumt: der muß allmälig immer lauer in seinem Herzen, immer kälter gegen Gott, immer gleichgültiger gegen das Himmlische, zum Guten immer verdrossener und zum muthigen Kampf gegen das Böse immer träger und lässiger werden. Wir bedürfen steter Anregungen und Ermunterungen, und unermeßlich groß ist der Schaden, den wir durch Vernachläßigung unserer kirchlichen Gottesdienste an unserer Seele erleiden. Bei den vielen Zerstreuungen, Geschäften und Genüssen, die uns immer wieder in die Welt hineinjagen, würde unser inneres geistliches Leben, wie man es ja so oft sieht, unfehlbar umkommen, wenn es keinen Tag des Herrn und keine Kirche gäbe. Darum ist für uns der Gottesdienst unentbehrlich. - Und er allein giebt uns, was unsere Seele sucht und bedarf. Er stillt unsere Bedürfnisse, nimmt uns die Mühen und Lasten der Woche ab, erhebt uns über Zeit und Staub in den Himmel, giebt uns Muth zum Dulden, Kraft zum Wirken, Trost zum Leiden und Liebe zum Vergeben; er stimmt unwillkührlich zur Andacht und zum stillen Ernste, und senkt Kräfte einer höhern Welt hinab in die Seele. Denkt an die Festtage, die im wunderbaren Gegensatz gegen die Natur um uns her, gerade in der Zeit, wo sie ruht und schlummert, der Kirche aufgehen; an Weihnachten, wo der Herr des Himmels in menschlicher Natur auf Erden erscheint und Gott also die Welt liebt, daß er seinen eingebornen Sohn giebt, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben; an Ostern, wo der Sohn Gottes den bittersten Tod am Kreuze erleidet, um die abgefallene, sündige Welt vom ewigen Tode und der Verdamniß Schrecken zu befreien und am dritten Tage wieder aufersteht von den Todten, und die Vollendung der Erlösung, den Sieg der göttlichen Gnade über die Sünde und des Lebens über den Tod verkündigt; an Pfingsten, wo der heilige Geist über die Jünger ausgegossen wird und sie ausgehen in alle Welt, das Evangelium zu verkündigen aller Kreatur: wie mächtig erinnern diese heiligen Festtage uns Alle an unsere hocherhabene Bestimmung, daß auch wir der göttlichen Natur theilhaftig werden, der Sünde sterben, dem neuen Leben des Geistes Gottes uns je länger je mehr hingeben und unsern Wandel allezeit im Himmel führen sollen, und wie lehren sie uns beten um den heiligen Geist aus der Höhe, daß er selbst in uns wirke Wollen und Vollbringen des Gute n nach seinem Wohlgefallen! Denket an den Sonntag, der Alles, was jene Feste einzeln uns vorführen, zusammendrängt, der durch die Erinnerung an den ersten Tag der Schöpfung, an welchem Gott das Licht schuf, uns mahnt, daß wir des Lichtes Kinder sein und wie am Tage wandeln sollen, der als stehende Nachfeier des Ostertages die geistigen Ostern der Wiedergeburt und des geistlichen Lebens in uns erwecken will, und, indem er die Entstehung der Kirche am Pfingstfest uns vergegenwärtigt, uns taufen will mit Feuer und heiligem Geist, damit wir lebendige Glieder seien an dem großen Leibe, dessen Haupt Christus ist. Denket an die einzelnen Bestandtheile des Gottesdienstes, Gebet, Gesang, Predigt des göttlichen Wortes: wie stimmen sie das Gemüth ernst und freudig, bald zur Buße, bald zum Glauben, bald zum Bitten, bald zum Danken, heute in Trost und Friede, morgen in Kraft und Hoffnung, aber immer erhebend über die Schranken der Erde und der Sünde, immer in die Seele dringend als Gottes Wort und nicht als Menschenwort, immer unter Beweisungen des Geistes und der Kraft, daß wir bekennen müssen: „Herrliche Dinge werden in dir gepredigt, du Stadt Gottes! Du bist eine Werkstatt des heiligen Geistes, eine Hütte des Friedens, und bereitest uns für den Himmel und zur Aufnahme in die ewigen Hütten!“
Doch nicht blos eine Nahrung unseres Lebens in Gott bildet der Gottesdienst ab, er ist auch ein Band unserer christlichen Gemeinschaft, wie kein anderes. Er ist es äußerlich, er ist es innerlich. Aeußerlich, denn jede Trennung und Absonderung, welche sonst in der Welt Statt findet, und welche der Stand, das Alter, das Besitzthum, das Wissen eingeführt hat, hier hört sie auf; Hohe und Niedere, die sich sonst kaum mit den Augen verabreichen, Reiche und Arme, die sich fremd werden, wenn sie auch unter Einem Dache aufgewachsen sind, Gebildete und Ungebildete, die über nichts eine gemeinschaftliche, zusammenhängende Rede führen können, weil jeder von ihnen in einer andern Gedanken- und Lebens-Welt sich aufhält, Herrschaften und Dienende, die sonst nur in einem über- und einem untergeordneten, freien und abhängigen Verhältnisse sich zu einander befinden, - hier sitzen sie neben einander, wie sie einst neben einander liegen werden auf dem Kirchhofe, und jeder Unterschied hört auf, Alle erscheinen als Kinder Eines Vaters, als Brüder und Schwestern vor dem Herrn, vereinigt zu gleichen Bekenntnissen, gleichen Entschließungen, gleichen Bitten, gleichen Lehren. Wie lieblich ist schon diese Gleichstellung, und wie erhebend der Anblick einer ganzen, auf solche Weise vor Gottes Angesicht verbundenen Gemeinde! Aber höher sieht das innere Band der Gemeinschaft, zu welchem unsere Gottesdienste führen sollen. Es heißt: „Sie blieben beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brodbrechen und im Gebet (42). Die Menge der Gläubigen war Ein Herz und Eine Seele“ (4, 32), und Paulus ermahnt: „Seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens, Ein Leib und Ein Geist, wie ihr auch berufen seid auf einerlei Hoffnung euers Berufes, Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe, Ein Gott und Vater unser Aller, der da ist über euch Alle und durch euch Alle und in Euch Allen“ (Eph. 4, 3 - 6). Wie? Geliebte, sollen wir nicht Alle den Leib Christi darstellen? nicht Alle die Kirche in der Kirche und der Tempel des Herrn im äußern Tempel sein? Jesus sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Und weiter sage ich euch: Wo zwei unter euch Eins werden auf Erden, warum es ist, das sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel“ (Matth. 18, 20. 19.): müssen wir das nicht fühlen, so oft wir hier an heiliger Stätte singen und beten? Wir beten für andere, für die Kirche und ihre Diener, für den Staat und seine Obrigkeit, für das Haus und seine Bedürfnisse: können wir das, ohne uns mit ihnen im Geiste eng verbunden zu fühlen und sie in Liebe zu umfassen und allezeit, auch draußen in der Welt und zu Hause, auf dem Herzen zu tragen? Wir gehen zum heiligen Abendmahl und treten je zwei und zwei an die Stufen des Altars, mit uns erscheinen die Unsrigen und viele Andere, die wir lieb haben; der Apostel spricht: „Der gesegnete Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brod, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? denn Ein Brod ist's, so sind wir viele Ein Leib, dieweil wir Eines Brodes theilhaftig sind“ (1. Cor. 10, 16. 17.): vergegenwärtigt sich uns da nicht recht anschaulich in der sichtbaren Kirche die unsichtbare Gemeinde der Gläubigen und die Chöre aller Engel und Erzengel im Gottesreich? Und wenn endlich der Herr von seinem Worte verheißt, daß es nicht leer zu ihm zurückkommen, sondern ausrichten solle, wozu er es sendet (Jes. 55, 10. 11.): ist die Wirkung dieses göttlichen Wortes, ihr möget sie nennen, wie ihr wollt, Licht, Kraft, Trost, oder Glaube, Liebe, Hoffnung, nicht bei Hunderten, oft bei Tausenden dieselbe, und durchdringt nicht Alle zugleich Ein Gedanke, Ein Gefühl, Ein Entschluß, mit einem Worte, Ein und derselbe Geist Gottes? Es ist also klar, Nahrung unseres innern, geistlichen Lebens, engere Gemeinschaft mit unsern Brüdern: das sind die beiden Hauptzwecke und Hauptflüchte unserer Gottesdienste.
Betrachten wir nun die Feier derselben. Dreierlei kommt da in Erwägung: die Vorfeier, die Feier selbst und die Nachfeier.
„Bewahre deinen Fuß, wenn du ins Haus Gottes gehest,“ sagt Salomo, (Prediger 4,7.) und giebt damit zu verstehen, daß es nicht gleichgültig ist, wie wir im Heilighum des Herrn erscheinen, daß vielmehr eine gewisse Vorfeier erforderlich ist, wenn wir mit Segen und Erbauung den Gottesdiensten des Allerhöchsten beiwohnen wollen. In den frühem, schönern Zeiten unserer Kirche konnte man solche Vorbereitungsfeier am Vorabende des heiligen Tages auch gar nicht entbehren, und wenn an demselben das Geräusch der irdischen Thätigkeit früher als gewöhnlich verstummte, vereinigte man sich zu Betrachtungen und Uebungen, die den Tag des Herrn würdig einleiten sollten; an den meisten Orten wurde überdies der Seelenfesttag durch feierliches Glockengeläut eingeläutet. Glücklich, wo diese christlich - fromme Sitte noch herrscht! Denn ohne stille Sammlung und Vorbereitung, ohne Einkehr in uns selbst und inbrünstiges Flehen zum Herrn, daß Er seinen Tag in uns segnen wolle, ohne reges Bedürfniß nach dem stärkenden Zusammensein mit unsern Brüdern und der Erbauung aus dem göttlichen Worte giebt es unter uns keine gesegnete Sonntagsfeier. Traurig ist es, wenn man den Gottesdiensten des Herrn gar nicht beiwohnt, oder nur erscheint aus hergebrachter Sitte und gedankenloser Gewohnheit, weil man es von Jugend auf so gethan, oder in dem Wahn, Gott damit einen Dienst zu erzeigen, daß man sich an dem ihm geweiheten Orte einfindet, gleichviel in welcher Gesinnung, oder um eine leere Zeit auf diese Weise auszufüllen und sich einen flüchtigen Genuß, wo nicht Stoff zu de n alltäglichsten Gesprächen, zu verschaffen; traurig ist das/ aber nicht minder traurig, wenn man ins Haus Gottes kommt, die Seele voll störender Gedanken und Zerstreuungen, Arbeiten und Sorgen, welche die Woche über sie beschäftigt und gemartert haben, und nun unfähig ist, recht zu hören und aufzufassen und sich zu eigen zu machen, was hier für uns zu erlangen sieht. Kommt denn gesammelt, betend, eure Bedürftigkeit und das Verlangen nach Gnade fühlend; kommt mit dem Zöllnergebet: „Gott, sei mir Sünder gnädig,“ oder wie Maria, um euch zu Jesu Füßen zu setzen: und die Stunde im Tempel wird euch eine der heiligsten und gesegnetsten Stunden des Lebens sein.
Die Glocken, die vom Himmel herab in euer Ohr erschallen, und die Töne der Orgel, die himmelwärts rufen, werden euch heimathlich umwehen und zu feierlicher Stille einladen, und ihr werdet beim Eintritt in das Haus des Herrn sprechen: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts denn Gottes Haus! Hier ist die Pforte des Himmels!“ Wenn dann der Gesang der versammelten Gemeinde anhebt und vor dem Altar die Herzen sich vereinigen zu gemeinsamen Bekenntniß der Sünde, zum Flehen um Segen über das zu verkündigende Wort und zur Ablegung des allerheiligsten Glaubens; wenn darauf der Diener Gottes, getragen durch die Gebete der Gemeinde, erleuchtet und gehalten vom Geiste Gottes, nach bestem Vermögen die heilige Schrift auslegt, und so viel der Herr darreicht, in ihre Tiefen einführt und versenkt; wenn endlich die Kindlein dem Herrn dargebracht werden im Sakrament der heiligen Taufe, oder Jüngling und Jungfrau nahen mit dem Ehegelübde heiliger Liebe, oder das Allerheiligste gar gespendet wird, Leib und Blut Christi, nicht als von Menschen, sondern als von Gott; welchen Eindruck, welche Erbauung wird und muß das Alles in euch hervorrufen, und wie werdet ihr euch sehnen, daß bald ein neuer Gnadentag wiederkehre!
Doch mit dem letzten Orgelton ist die heilige Feier noch nicht beendet. In der Kirche ist sie zwar aus, aber im Herzen beginnt sie nun erst in der Nachfeier der festlichen Stunde. Der äußere Sabbath soll ja in einen innern übergehen, und wir sollen nicht blos Hörer des Wortes sein, sondern Thäter desselben, damit wir uns selbst nicht betrügen. Daheim fängst du an, das Gehörte für dich still zu überdenken, auf deine Verhältnisse und deinen Gemüthszustand es anzuwenden, es ins Leben einzuführen, und Allem, was du nun thust die folgenden Tage der Woche, eine höhere Weihe mitzutheilen. Deine Gedanken werden Gebete, deine Handlungen werden Opfer, deine Entwürfe werden Zurüstungen zu irgend einem hohen Feste, deine Freuden werden Lobgesänge; Alles um dich verwandelst du in Heiligthümer des Herrn, die Werktage in Sonntage, die sichtbare Kirche in eine unsichtbare, und mit Entzücken gedenkst du endlich des ewigen Sabbaths, wo die Pforten des himmlischen Jerusalems sich dir öffnen und du durch das Perlenthor in die Gottesstadt eingehen und kommen wirst vor den Stuhl Gottes, um da mit den Engeln zu singen: Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichthum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.„ (Offenb. 5, 12.)
O selig, wen der Sonntag so der Welt entfremdet und dem Himmel befreundet; wer aus der Kirche gehend vergißt, seinen Nachbar zu fragen: wie ihm die Predigt gefallen? weil er sich selbst genug zu fragen hat: was sie auf ihn gewirkt habe? und wer von Sonntag zu Sonntag immer hungriger wird nach dem Genuß des ewigen Lebensbrodes, dem himmlischen Manna! Eine Welt solcher Menschen wäre die wahrhaftige Gottesstadt auf Erden; da würden die Könige und Fürsten mit David sprechen: „Ich halte mich, Herr, zu Deinem Altar, da man höret die Stimme des Danks und predigt alle Deine Wunder. Herr, ich habe lieb die Stätte Deines Hauses und den Ort, da Deine Ehre wohnt. (Ps. 26, 6-8.) Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gern, daß ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Lebenlang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu besuchen. (Ps. 27 4.) Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Ein Tag in Deinen Vorhöfen ist besser, denn sonst tausend; ich will lieber die Thür hüten in meines Gottes Hause, denn lange wohnen in der Gottlosen Hütten“ (Ps. 84, 2. 9. 11.). Da würden die Kinder und Unmündigen schon dem Herrn ein Lob zubereiten, und die Knaben sprechen: „Muß ich nicht sein in dem, das meines Vaters ist?“ (Luc. 2,49.) und die Männer mit Paulus bekennen: „Ich schäme mich des Evangelii von Christo nicht, welches ist eine Kraft Gottes, selig zu machen Alle, die daran glauben“ (Röm. 1, 16.) und die Greise, wie Simeon und Hanna, nimmer vom Tempel kommen und Gott dienen mit Fasten und Beten Tag und Nacht. Ja, da würden Alle unter einander ermahnen, und Einer den Andern erbauen, und untereinander wahrnehmen mit Reizen zur Liebe und guten Werken und festhalten an dem Bekenntniß der Hoffnung und nicht wanken. (Ebräer 10, 23-25.)
Warum finden wir nun dies kirchliche und christliche leben in der Welt nicht, Geliebte? und warum ist das Reich Gottes noch immer nicht gekommen auf Erden? Zu Jesu Zeit drängte sich das Volk, das Wort Gottes zu hören (Luc. 5, 1.): warum gewahren wir unter uns dieses Volksdrängen nicht um Gottes willen? Auf allen Straßen stürmt und lärmt es, still ist es auf den Straßen, die zum Gotteshause hinführen. Wo Geld zu gewinnen sieht, wo Ehre zu erlangen, wo Vergnügungen und Lustbarkeiten zu genießen sind, wo der eitelste Tand vor unsere Augen tritt ja, wo auf irgend eine Weise die kostbare und so flüchtige Zeit gelodtet wird: da ist Leben und Treiben, Bewegung und Thätigkeit. Aber wo Gottes Wort verkündigt und der unsterblichen Seele Nahrung für's ewige Leben angeboten wird: da zieht man sich zurück, und wir müssen es mit tiefer Betrübniß sehen und hören, daß die Klagen über Unkirchlichkeit immer allgemeiner und lauter werden, daß namentlich auch in unserer Stadt zwischen der Einwohnerzahl und den Kirchgängern gar kein Verhältniß statt findet, daß unter 260,000 Menschen sonntäglich keine 20000 die Schwelle des Gotteshauses betreten, und es ganze Häuser, ja ganze Straßen giebt, wo auch nicht Eine Seele sich um das Heiligthum Gottes und um den Tag des Herrn bekümmert. Wäre ein rechtes Drängen nach dem Worte Gottes bei uns, die Kirchen würden die Menschenmenge bald nicht zu fassen vermögen. Warum liegt also das kirchliche Leben so sehr danieder in unserer Mitte?
Die Einen entgegnen: „Ich habe dazu keine Zeit; mein Beruf, meine Arbeit, die Sorge für meine Familie erfordert meine angestrengteste Thätigkeit und Aufmerksamkeit“ Erste Lüge! Für die Welt und die Erde, für den Körper und seine Bedürfnisse, für eure Vergnügen und Gesellschaften habt ihr Zeit: nur für Gott und die Seele und die Ewigkeit nicht? Gesteht's nur ehrlich, Zeit würbe sich auch dazu finden, wie sie sich zu allem Andern findet; aber ihr wollt sie nicht finden, die Lust fehlt, der innere Trieb und das heiße Verlangen der Seele, der Hunger und Durst nach Gottes Gerechtigkeit. Unsere Alten pflegten zu sagen: „Kirchengehen säumet nicht:“ o wohnte in euerm Herzen nur recht brennende Liebe zu Christo, wäre euch nur recht bange um euer ewiges Heil: ihr würdet kommen und suchen, und die Kirche würde euer Kommen mit Wucher bezahlen, ihr würdet eine Stunde in der Kirche mehr gewinnen, als die ganze Woche bei der Arbeit, und Gottes Segen würde euch begleiten auf allen Schritten und Tritten. Durch Kirchengehen verliert man keine Zeit, man gewinnt und erübrigt sie.
Die Andern sagen: „wozu soll ich erst in die Kirche gehen? Das Kirchengehen macht den Christen nicht aus; auch kann ich mich zu Hause erbauen.“ Zweite Lüge! Allerdings macht das Kirchengehen den Christen nicht aus, aber seid ihr wahre Christen, so werdet ihr das Kirchengehen um seines doppelten Zweckes willen nicht lassen können, ihr werdet euch selbst, ihr werdet eure Brüder durch euer Exempel erbauen wollen. Auch ist es wahr, daß ihr euch zu Haufe erbauen könnt, so gut wie in der Kirche, der Herr ist überall mit seinem Geiste gegenwärtig, und wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen, ist er mitten unter ihnen: aber thut ihr's auch? und vergeht kein Sonntag in euern Häusern ohne Andacht, und Gebet, ohne Predigt- und Bibellesen? Wehe, wenn eure Entschuldigung nichts als Lüge und Heuchelei ist! Das Wort des Herrn würde euch treffen: „Ich weiß deine Werke, daß du Weder kalt noch warm bist: ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde!“ (Offbg. 3, 16.) Es ist schmerzlich genug, wenn Krankheit hindert, das Haus des Herrn zu besuchen, und ihr euch zu Hause allein erbauen müßt und des Segens der christlichen Gemeinschaft verlustig geht; aber wollet doch nicht eigenmächtig und muthwillig euern Mitbrüdern anstößig und euerm eignen Seelenheil hinderlich werden!
Die Dritten entgegnen: „Was soll ich in der Kirche? Was mir der Prediger sagt, kann ich mir selbst sagen; es ist ja immer nur das längst Bekannte, warum soll ich es wieder und immer wieder hören?“ Dritte Lüge! Es ist nicht wahr, ihr hört nicht immer dasselbe, und wenn ihr es meint zu hören, so liegt das nicht am Worte, sondern an euch, weil ihr immer dieselben seid, dieselben sinnlichen, vereitelten Menschen, die am Buchstaben kleben und den Geist nicht zu fassen vermögen; das Wort Gottes bei der Unerschöpflichkeit seines Inhalts ist immer alt und immer neu. Zu keiner Zeit hat der Mensch es ganz erwogen und in allen Stücken auf sich angewendet; selbst der Weiseste und Schriftgelehrteste findet aus demselben allezeit zu lernen; und gerade wenn wir glauben fertig zu sein, sind wir erst auf dem Wege, gut anzufangen. Darum schreibt Paulus an die Philipper (3,1): „Daß ich euch immer Einerlei schreibe, verdrießt mich nicht, und macht euch desto gewisser.“ Auch sollen wir in der Kirche nicht blos Neues lernen, sondern auch an das Bekannte erinnert werden, damit wir in den Augenblicken, wo es gilt, daran denken. „Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde,“ (Ebr. 13, 9.) sagt die Schrift: wie kann es aber fest werden, wenn wir nicht immer wieder von neuem hören, was wir sonst so leicht vergessen? - Denket euch, es hörte einmal plötzlich und gänzlich auf jeder Gottesdienst in unserm Lande, kein Sonntag unterbräche mehr die Reihe der Alltagswerke, kein Glockengeläut, kein Orgelton dränge mehr in euer Ohr, die Kirchen würden zu andern Zwecken verwandt oder niedergerissen, keine Predigt, keine Taufe, kein Abendmahl, kein feierliches Begräbniß fände mehr Statt, es ruhte alle öffentliche Anbetung Gottes: wie? würde euch nicht angst und bange werden? würdet ihr euch nicht wie in eine Wüstenei verstoßen glauben? würde das Leben euch nicht entsetzlich arm und trostlos, alles Reizes und Werthes beraubt erscheinen? O pfleget, pfleget das kirchliche Leben in eurer Mitte, bleibet nicht weg, als wenn die größte Noth oder die heiligste Liebe euch abhält, Gottesdienst gehe euch vor Herrendienst, jede Sonntagsarbeit sei euch ein Kirchenraub, und unausgesetzt sei euch der Tag und das Haus des Herrn heilig. Wo wahrhaft geistliches Leben in einer Gemeinde und in einem Herzen ist, da wird und muß es sich auch als kirchliches Leben erweisen, denn das Eine ist die Folge vom Andern, und es werden die einzelnen Glieder unter einander wetteifern, die fleißigsten Kirchenbesucher und andächtigsten Zuhörer des göttlichen Worts zu sein; Jeder möchte gern der Erste beim Eingange und der Letzte beim Ausgange werden; Jedem ist das Haus des Herrn sein liebster Aufenthalt, der Sonntag ein wahrer Wonnetag und der Gottesdienst das heiligste Geschäft auf Erden. Man siedelt sich recht eigentlich an im Gotteshause, und fühlt sich da wohl, und nirgends so von ganzer Seele und heimathlich wohl, als in diesen Friedenshallen.
Geliebte! Es ist keine Frage: der Sonntag ist gegenwärtig unter uns tief gesunken, und man möchte manchmal fragen: wen betet denn die Christenheit am Tage des Herrn eigentlich an? und weß ist sein Bild und seine Ueberschrift? ist's Gott oder ist's der Teufel? denn es geht fast an keinem Tage so heillos her, wie am Sonntage. Helfet denn, daß er wieder zu Würden komme und wieder werde, was er sein soll, Tag des Herrn, Tag des Lichts, Tag der Ruhe, Tag der Auferstehung! Fanget bei euch zuerst an und setzet es dann fort bei den Eurigen: Gott wird's euch segnen! Und glaubet nur, es wird mit unserm häuslichen und bürgerlichen Leben erst dann wahrhaft besser werden, wenn seine Grundlage, das kirchliche Leben, wieder unter uns aufblüht. Man kann dem Kaiser nur erst geben, was des Kaisers ist, wenn man zuvor Gotte giebt, was Gottes ist. So laßt uns denn das erkennen und üben. Die Ihn anlaufen und anschreien, derer Angesicht wird nicht zu Schanden! Amen.