Lamparter, Helmut - Golgatha - Der Berg der Versöhnung

Lamparter, Helmut - Golgatha - Der Berg der Versöhnung

Und als sie ihn hinführten, ergriffen sie einen, Simon von Kyrene, der kam vom Felde, und legten das Kreuz auf ihn; daß er’s Jesu nachtrüge. Es wurden aber auch hingeführt zwei andere Übeltäter, daß sie mit ihm abgeurteilt würden.
Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn daselbst und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun. Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand und sah zu. Und die Obersten samt ihnen spotteten sein und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Kriegsknechte, traten zu ihm und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber auch oben über ihm geschrieben die Überschrift in griechischen und lateinischen und hebräischen Buchstaben: Dies ist der Juden König.
Aber der Übeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns! Da antwortete der andre und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und wir zwar sind billig darin, denn wir empfangen, was unsre Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes getan. und er sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.
Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt, verschied er. Da aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! Und alles Volk, das dabei war und zusah, da sie sahen, was geschah, schlugen sich an ihre Brust und wandten wieder um.
Luk. 23,26 ff.

Man kann sich fragen, ob es recht und sinnvoll ist, diesen Bericht überhaupt in eine Betrachtung über die Berge der Bibel einzureihen. Was hier erzählt wird, spielt sich ja – geographisch gesehen – nicht auf einem „Berge“ ab. Golgatha, zu deutsch Schädelstätte, heißt der Ort, auf dem das Kreuz des Erlösers errichtet wird. Offenbar handelt es sich um einen kahlen Hügel, der in seiner ganzen Form an einen Totenschädel erinnern möchte. Aber auch dies ist nicht gesichert. Es mag wohl sein, daß die Stätte deshalb ihren seltsamen Namen trägt, weil es sich um einen auch sonst benutzten Platz für Hinrichtungen handelt, an dem die Schädel und Gebeine der Verfemten, denen ein ehrliches Begräbnis verweigert wurde, herumlagen, und von ihrem Ende mit Schrecken berichtet haben. Dazu kommt, daß uns bei diesem Bericht von der Hinrichtung Christi gleichsam an der tiefsten Stelle der ganzen Welt befinden, was die Tiefe des Leidens und das Ausmaß der Verachtung anbelangt. Er hat gelitten, wie keiner litt. Er ist an diesem Fluchholz der „Allerverachtetste und Unwerteste“ geworden (Jes. 53,3). Dennoch können wir bei unsrer Wanderung, die uns die Berge der Bibel entlangführt, an diesem Hügel keinesfalls vorbeigehen. Denn was die „Hilfe“ betrifft, die uns von diesen Bergen kommt, nimmt dieser Hügel Golgatha die erste und wichtigste Stelle ein. An dieser Schädelstätte hat Gott das Kreuz als Zeichen der Versöhnung aufgerichtet. Hier ist der Ort, an dem Er allen Menschen die Hand zu Frieden bietet. „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit sich selbst und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor. 5,19 f.). So wenig einladend der Anblick dieser „Schädelstätte“ zunächst erscheint, so geht doch von diesem Ort die Einladung Gottes aus an alle Menschen, sich mit Ihm versöhnen zu lassen, mit Ihm Frieden zu machen. Und wenn wir unsre Augen aufheben zu dem, der an diesem Kreuz hängt, und stirbt, so sehen wir nicht nur eine Tiefe des Leidens, sondern auch eine Größe des Erbarmens, die ebenso einmalig wie unermeßlich ist. Weit, weit sind seine Arme ausgespannt. Es ist, als ob er alle Mühseligen und Beladenen zu sich riefe und an diesem Kreuz die Schuld und den Jammer der ganzen Welt umfassen wollte. Wie könnten wir an dieser Stätte achtlos vorübergehen? Sie haben uns gewiß alle unendlich viel zu sagen, diese Berge der Bibel, aber auf diesem Hügel ist unsre Rettung, unser ewiges Heil entschieden worden.

Vermutlich haben wir diesen Satz oder ähnliches schon oft gehört. Daß Jesus Christus für unsre und aller Welt Sünde gestorben ist, daß er uns durch seinen Gehorsam bis zum Tod am Kreuz Gerechtigkeit, Heil und Frieden erworben hat, gehört zu jenen „Grundwahrheiten des Christentums“, die uns vertraut sind von Jugend auf. Wir haben uns daran gewöhnt, dies mit einer gewissen Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Besteht nicht die Gefahr, daß aus seinem Kreuzestod unter uns eine dogmatische Formel wird, durch die kein Mensch mehr im Innersten bewegt und erschüttert wird? Wir verbergen uns, daß dies Kreuz auf Golgatha alles andre als die Demonstration einer allgemeinen Wahrheit ist. Es ist ein Leidens- und Todeskampf von erschütternder Realität. Wer meint, daß der Ausgang dieses Kampfes von vornherein feststand und entschieden war, irrt ganz gewaltig. Die Passion Christi ist, so wenig wie seine Versuchung in der Wüste, ein Scheingefecht. Wenn wir dem Bericht des Lukas folgen, so erblicken wir um dieses Kreuz her eine furchtbare, unheimliche Finsternis. Wir sehen, wie Jesus, „der Juden König“, verhöhnt und geschändet zwischen Himmel und Erde hängt, mit Schmerzen beladen, von Jüngern verlassen, von der Menge der Zuschauer begafft und verhöhnt, von dem Schächer gelästert, ja von Gott selbst preisgegeben in das äußerste Verderben. Daß er in dieser Finsternis das Licht bleibt (getreu seinem Wort „Ich bin das Licht der Welt“), das alle Finsternis durchbricht, ist nichts weniger als selbstverständlich. Das ist die Frucht eines Ringens, dessen Schwere wir nur von ferne ahnen. Dafür wurde der schwerste und höchste Preis bezahlt. Hindurchgeglaubt, hindurchgeliebt, hindurchgerungen hat sich dieser Mann am Kreuz mitten durch all diese Finsternis. So geschieht das Wunderbare, daß die Christenheit über diesem Kreuz Gott preisen darf. Laßt uns hinauswandern nach Golgatha, damit unsre stumpfen Herzen von dem, was hier geschieht, ernstlich bewegt und ergriffen werden!

„Und als sie ihn hinführten“ – so beginnt unser Bericht. Die Verurteilung Jesu zum Tod am Kreuz ist bereits erfolgt. Die Würfel sind gefallen, und es bleibt nur noch übrig, das schreckliche Urteil zu vollstrecken. Inmitten zweier Übeltäter – es mag sich um Banditen oder politische Rebellen handeln – wird er abgeführt, gefolgt von jenem Simon, der gezwungen wird, sein Kreuz zu tragen, damit für alle Zeiten sichtbar würde, daß in der Spur Jesu gehen und bleiben nichts weniger bedeutet als dies: Sein Kreuz übernehmen und ihm nachtragen (Matth. 16,24). Noch haben wir die unbeschreibliche Hoheit und Herrlichkeit vor Augen, welche die Gestalt Jesu auf dem Berg der Verklärung umleuchtet hat. Welch ein Absturz, was für ein Kontrast! Man kann es kaum fassen, daß es derselbe ist, den Gott dort auf dem Tabor so wunderbar verklärt hat und der nun, verfemt und verworfen, zum schimpflichsten, schrecklichsten Tod der Erde verurteilt, hinausgeführt wird aus Jerusalem zur Hinrichtung. Er (der Einzige!), der von keiner Sünde wußte, geschweige denn je eine Sünde tat und auch nur einen Finger breit vom Weg des Gehorsams wich, wird abgeurteilt, zum Verbrecher gestempelt. Und das Allerseltsamste: Er lehnt sich nicht dagegen auf. Er klagt niemand an noch beklagt er sich selbst. Er scheint mit dem Weg, den er geführt wird, völlig einig zu sein. Wer meint, er sei das wehrlose Opfer eines tragischen Justizmords, verkennt völlig, was hier geschieht. Jesus will sterben, dieser Gang ans Kreuz ist seine Tat. Warum will er’s? Weil es der Vater will, daß er sein Leben zum Sühn- und Schuldopfer gebe und seinen Lauf leidend und sterbend vollende.

„Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn daselbst und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken.“ Ermessen wir, was das heißt, wenn wir in irgendeiner Kirche oder an einer Wegrain ein Kruzifix erblicken? Haben wir überhaupt noch ein Auge, ein Ohr und ein Herz dafür, was dieses Wort umschließt an Qual und Schmerz, an Schmach und Schande, an Fluch und Bitterkeit: Sie kreuzigten ihn?! Verflucht ist, wer am Holze hängt! Nicht nur in den Augen der Menschen, sondern auch in Gottes Augen hat sein Lebensrecht verwirkt, wer immer an dieses Holz genagelt wird. Das gibt dieser Art der Hinrichtung ihre besondre Bitterkeit. Gewiß: Jesus hat schon immer gelitten, beginnt doch – recht verstanden –seine Passion schon bei der Geburt in der elenden Krippe, als ihm die Welt die Herberge verweigert hat. Gelitten hat er unter dem Unverstand der Jünger und unter der Verblendung der Feinde, gelitten unter der Anfeindung des Satans von innen und von außen, gelitten unter Tränen um Jerusalem, das ihn verwarf, gelitten wie nie zuvor in der Nacht, da er in Gethsemane auf den Knien lag und mit dem Tode rang. Nun aber, an dieser Schädelstätte, bekommt das Leiden seinen tödlichen Ernst. Es ist, als ob ihm die Welt nicht mehr einen Fußbreit Erde gönnte. Er wird „erhöht“, an zwei Pfähle geheftet. Öffentlich entehrt, gebrandmarkt als Aufrührer und Gotteslästerer, muß er zwischen zwei Verbrechern sterben. Der letzte Rest von Ehre wird ihm genommen: Seiner Kleider beraubt, gibt man den Verurteilten den gaffenden Blicken der Menge preis. Und seine (scheinbare!) Ohnmacht wird den Obersten Israels mitsamt dem Volk zum Anlaß, seiner Leiden noch zu spotten: „Andern hat er geholfen, helfe er sich selber, ist er Christus, der Auserwählte Gottes!“ Da ist kein Mitleid, keine Teilnahme, kein Erbarmen, nichts als brutale zynische Verachtung. Nicht einen Schluck Wassers gönnen ihm die Söldner, die sein Kreuz bewachen, um jeden Versuch einer gewaltsamen Befreiung durch seine Anhänger zu vereiteln. „Sie brachten ihm Essig“ – das ist der blanke Hohn! Wahrlich eine Stätte des Leidens ist die Schädelstätte. Alles, was wir Leiden nennen und beseufzen, verblaßt, so oft wir dieses Kreuz betrachten. Jesus hat den bittersten Kelch getrunken, und er hat ihn bis zur Neige geleert. Ihm blieb nichts, aber auch nichts erspart. „Christus hat gelitten für uns“ (1. Petr. 2,21), nicht nur so obenhin, sondern bitterlich. Er hat sich martern lassen „wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“. Hier ist kein Wort zuviel gesagt.

Vom Kreuzesbalken, der nun sein „Thron“ geworden ist, blickt er herab auf die Menge, die den Schauplatz der Hinrichtung umlagert. Er blickt auf die Spötter, die ihn höhnen und schmähen. Er blickt auf die Schergen, die an seinen durchbohrten Gliedern ihr grausames Handwerk verrichtet haben. Und er blickt darüber hinaus auf alle, die mitschuldig sind, daß er sterben muß – ach, es ist ein großes Heer, es umfaßt (recht verstanden) das ganze Menschengeschlecht, weil und so gewiß sie alle gesündigt haben. mit einem einzigen Blick umfaßt er sie alle und spricht: “Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Wußten sie es wirklich nicht? Und wir, die wir so leichtfertig mit den Geboten Gottes umgehen, wissen wir es wirklich nicht, daß wir Ihm damit die Ehre rauben? O freilich! Es ist uns gesagt, was gut ist und was der Herr von uns fordert. Insofern haben wir keine Entschuldigung. Nicht anders steht es um die Nächstschuldigen: Wider besseres Wissen und Gewissen hat Pilatus (diesmal gerade kein Jude!) das Todesurteil verhängt und seine Vollstreckung angeordnet. Und wenn schon die Priesterschaft Israels in wachsender Verblendung diesen Jesus von sich stieß, wenn schon die Kriegsknechte auf dienstlichen Befehl gehandelt haben, so ist doch eben diese Verblendung, dieser blinde, stumpfe Gehorsam, der nicht nach Recht und Unrecht fragt, Schuld genug. Dennoch spricht Jesus: Sie wissen nicht, was sie tun, will sagen, sie wissen nicht, was für ein furchtbares Gewicht, welche schreckliche Tragweite ihr Handeln hat. In der Tat, das haben wir alle nicht gewußt, und das verbergen wir uns immer wieder, wenn wir mit der Sünde spielen. Was unsre Sünde anrichtet, wie schwer sie in Gottes Augen wiegt, das geht uns erst auf, wenn wir das Kreuz Jesu zu Gesicht bekommen. Dann erst erkennen wir, daß sie den Sohn Gottes das Leben kostet! Um dieser „Unwissenheit“ willen wagt er, das Erbarmen Gottes auf die Schuldigen herabzuflehen. Dieses „Vater, vergib“ ist alles andre als eine ohnmächtige Bitte. Seine Fürsprache hat rettende Macht. Er gewinnt das Recht und die Freiheit zu diesem Gebet, weil er selbst an unsre Stelle getreten ist, bereit und entschlossen, durch sein Sterben zu sühnen, was seine Feinde und Mörder, was uns und alle Welt vor Gott verklagt. Alle leben wir, ob wir es wissen oder nicht, von der rettenden Macht dieser Fürbitte. und damit wir erkennen, wie groß und wunderbar die erlösende Kraft seines Opfers ist, tut Jesus am Kreuz ein letztes Zeichen. Er nimmt den armen, sterbenden „Schächer“ zu seiner Rechten in den Frieden Gottes auf.

Wir wissen nicht, was diesen namenlosen Häftling an dem Pfahl der Schande brachte. Dunkel, aber gewiß randvoll Schuld ist seine Vergangenheit. Nicht umsonst verwehrt er dem trotzigen Gesellen und Schicksalsgefährten zur Linken, der auch jetzt noch aufbegehrt, seine lästerliche Rede mit den Worten: „Wir empfangen, was unsre Taten wert sind.“ Man sollte meinen, daß der Sohn Gottes an solch einen Ehrlosen, dessen Leben in Fluch und Schande endet, kein Wort, keinen Blick verschwenden würde. Aber er sieht das Fünklein Glauben in seiner Seele. Selbst schon ein Sterbender, bleibt er – bis zuletzt – seinem Beruf treu, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Voll Erbarmen wendet er dem Schächer sein Antlitz zu und spricht: „Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Das Paradies ist der Ort, wo nach der Hoffnung Israels die Gerechten die Auferstehung der Toten erwarten dürfen. Das heißt also: Aus dem Übeltäter ist ein Gerechter geworden. Er darf im Frieden mit Gott sterben. Wenn das nicht Gnade ist! Es ist freilich keine billige Gnade, sie ist teuer erkauft. Dieser Freispruch des Verdammten ist nur dadurch möglich, daß der Sohn Gottes selbst das Paradies mit der Hölle der Passion vertauscht. Damit ist die Rechnung des Schächers – unser aller Rechnung – vor Gott beglichen worden. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten. Nun tut sich das verschlossene Tor des Paradieses auf.

Nach diesem Wort Jesu an den Schächer, den er wie eine erste Siegesbeute mit sich führen will, setzt nach dem Bericht des Lukas eine große, furchtbare Stille ein. Von den sieben Worten Jesu am Kreuz bringt dieser Evangelist nur noch sein letztes Sterbegebet. Im übrigen schweigt der Herr. Er leidet schweigend, von der sechsten bis zur neunten Stunde. Wir hören, wie sich der Himmel verdüstert und eine wachsende Finsternis das Kreuz umhüllt. „Die Sonne verlor ihren Schein“, zum Zeichen, daß dieses Sterben die ganze Schöpfung, Himmel und Erde bewegt. Wie sollte sie nicht klagen und trauern, wenn der Fürst des Lebens in den Tod sinkt, durch den alle Dinge geschaffen sind? Was geht vor in dieser Finsternis? Kein Menschenmund vermag es auszusagen. Nur ein seltsames Zeichen ist uns gegeben, an dem wir erkennen mögen, daß dieses schuldlose Leiden und Sterben des Gerechten nicht vergeblich ist: Der Vorhang im Tempel zerreißt! Es ist der Vorhang, der das Heiligtum von dem Allerheiligsten geschieden hat. Nur einmal im Jahr hat ihn der Hohepriester durchschritten am großen Versöhnungstag. Im übrigen hat er jeden Besucher des Tempels daran erinnert, daß kein Sünder Zutritt hat zu dem „Heiligen in Israel“. Was will’s bedeuten, daß nun dieser Vorhang von unsichtbarer Hand erfaßt und zerrissen wird? „Das Zeichen hat eine zweifache Bedeutung; es weissagt Gericht über das Heiligtum Israels und Gnade für die, denen Jesu Sterben gilt“ (Adolf Schlatter). Der Tempel verliert seine Heiligkeit und wird von Gott entweiht. Zugleich aber fällt die Schranke, die das Gesetz zwischen Gott und den Sündern aufgerichtet hat. Sterbend hat uns Jesus der „große Hohepriester“, einen offenen Zugang zu Gott bereitet, so daß wir „die Freudigkeit haben zum Eingang in das Heiligtum“ (Hebr. 10,19). An diesem Zeichen wird deutlich: Sein Leiden und Sterben geschieht nicht um seinetwillen, sondern ganz und gar um unsretwillen. Es hat einen stellvertretenden Sinn und eine sühnende Kraft.

„Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“ Das ist das Letzte, was unser der Bericht des Lukas über das Ende Jesu sagt. Wie ihn der Tod umfängt, eh ihm die Sinne schwinden und das Herz zerbricht, wendet er den Blick zum “Vater“ und befiehlt seinen Geist sterbend in seine Hand. Es ist ein Schriftwort (Psalm 31,6), zu dem der Herr am Kreuz seine Zuflucht nimmt. Mit den Worten der Schrift hat er sich zur Wehr gesetzt, als ihn der Teufel hart versuchte in der Wüste. Mit einem Gebetswort der Schrift beschließt er seinen Lauf. Wir sollten es nicht anders halten, wenn die Stunde kommt, da wir selbst nicht mehr beten können. Es ist ein großer Gewinn, daß uns Lukas im unterscheid zu den andern Evangelien, die nur von einem letzten „Schrei“ des Gekreuzigten erzählen, dieses Sterbegebet Jesu überliefert hat. Wir ersehen daraus, daß er – mitten in der Qual, mitten in der unheimlichen Finsternis – dennoch im Frieden Gottes stirbt. Versunken ist die Welt mit allem, was sie an ihm gefrevelt hat, nicht anders, wie sie hinter uns versinkt, wenn es zum Sterben geht. Das letzte Wort, der letzte Aufblick Jesu gilt dem Vater allein, von dem, durch den und zu dem alle Dinge sind. In seine Hand legt er seinen Geist, weil er in dieser Hand wohl geborgen ist. Mag das Bewußtsein schwinden – Gottes Hand umfängt ihn, das ist genug. Schlichter und ergreifender hat der „König aller Könige“ nicht sterben können.

So bleibt es denn auch nicht aus, daß die Augenzeugen seines Sterbens vom Ende dieses Gerechten sichtlich bewegt und ergriffen werden. „Sie schlugen an ihre Brust“ – alle die Vielen, die wie zu einem Schauspiel hinausgezogen waren, um dieser Hinrichtung beizuwohnen. Still und erschüttert kehren sie in die Stadt zurück. Der Hauptmann aber, der bei der Vollstreckung des Urteils das Kommando führte, „pries Gott und sprach: Fürwahr, dies ist ein frommer Mensch gewesen!“ Er wird zu der Überzeugung geführt, daß hier keine Schuld vorlag, die des Todes würdig war. An diesem Kreuz ist ein Mensch gestorben, der bis zuletzt Gott in Ehren hielt und ihm einen ganzen Gehorsam brachte. Er spricht aus, was wir alle spüren, wenn wir uns in diesen Bericht von Jesu Tod am Kreuz versenken. Und doch genügt es in keiner Weise, wenn wir dieses Bekenntnis unterschreiben. Damit, daß wir die Unschuld Jesu zugestehen, seine Feindesliebe, sein Erbarmen mit dem Schächer, seinen Gehorsam gegen den Vater preisen, haben wir noch nicht in seiner ganzen Tiefe und Größe erfaßt, was an diesem Kreuz geschehen ist. Eine „rettende Gotteskraft“, wie Paulus sagt (Röm. 1,16), wird uns die Botschaft von diesem Kreuz erst dann, wenn uns aufgeht, daß sich in diesem Sterben Gottes Rat erfüllt. Es ist mehr, viel mehr als ein ergreifendes Martyrium. “Gott war in Christo“ – so haben wir gehört, Er hat an diesem Kreuz gehandelt. Daß Er sich dabei der schuldhaften Verblendung Israels bedient, schließt nicht aus, sondern ein, daß Er, Gott selbst, dieses Ende des Sohnes gewollt und verordnet hat. Von der ersten Leidensankündigung bis zum letzten Atemzug am Kreuz nimmt denn auch Jesus selbst den „Kelch“ nicht aus der Menschen, sondern ganz und gar aus der Vaters Hand. Wollen wir seinen Tod recht verstehen, so gilt es, seine Passion als die Aktion Gottes zu begreifen. Nicht nur der Menschen Urteil, das Urteil des Kaiphas und Pilatus, Gottes Urteil ist über ihn ergangen. Darum ist dieses Sterben von solch unermeßlicher Bedeutung für alle Menschen und Völker, Zeiten und Geschlechter. Eben darum ist es nicht nur eine letzte Gehorsamsprobe für den Sohn (geschweige denn eine „Tragödie“ neben tausend andern Tragödien der Weltgeschichte), sondern bewirkt unsre Rettung, verbürgt unsre Versöhnung, schafft unser Heil. Was hat es zu bedeuten, daß Gott diesen Einen, der von keiner Sünde wußte, zum Tod am Kreuz verurteilt hat? Wir antworten:

1. Seine Verwerfung ist unsre Versöhnung

Am Fluchholz hängt der Gerechte. Das heißt: Er ist ganz und gar ein Verworfener geworden. Nicht nur, daß ihn Israel und seine Priesterschaft verwarf und von sich stieß mit dem fanatischen Schrei: Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Gott selbst hat ihn – verflucht. Dieser Satz mag uns erschrecken, aber er spricht nur aus, was dieses „Holz“ nach dem Zeugnis der Schrift tatsächlich darstellt (vgl. 5. Mose 21,23) und was der Apostel Paulus mit den Worten bezeugt: „Christus… ward ein Fluch für uns (Gal. 3,13). Soviel steht fest: Diesen Fluch hat Jesus mit nichts verdient. Auf ihm ruhte Gottes Wohlgefallen. Trifft ihn dennoch dieser Fluch, so trifft er ihn nicht um seinetwillen, sondern um unsretwillen. Man kann es noch genauer sagen: Er trifft ihn darum, weil er sich selbst mit unsrer Sünde beladen hat. Sieh nur, wie er auf seinem Weg ins Leiden und Sterben alle nur möglichen und denkbaren Sünden an sich geschehen läßt, gleichsam auf sich sammelt, um sie an seinem unschuldigen Leibe „hinaufzutragen auf das Holz!“ (1. Petr. 2,24). Das geschah nicht von ungefähr, sondern nach Gottes Rat. „Er hat Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor. 5,21) oder in der Sprache des Propheten: „Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg; aber der Herr warf unser aller Sünden auf ihn“ (Jes. 53,6). Warum? Weil sie uns so hart verklagt, daß sie uns die Feindschaft Gottes zugezogen hat. Wozu? Damit sie an ihm, an seinem unschuldigen Leibe, verurteilt, gesühnt und gerichtet werde. War dies notwendig? Nun, darüber zu entscheiden, ist nicht unsre Sache. „Wir wissen nicht, was wir tun.“ Wir haben keine Ahnung davon, wie schwer unser Ungehorsam in der Waage des ewigen Richters wiegt, wie sehr Gott unter dem Raub seiner Ehre leidet. unsre Sache ist es, Gott zu preisen, daß Er den Gerechten hingab für die Ungerechten und an seinem Kreuz den Ort der Sühne schuf. Er „versöhnte die Welt mit sich selbst“ – Er wurde nicht versöhnt, sondern schuf selbst die Sühne, hat aus freiem Erbarmen die Hand zur Versöhnung geboten, indem Er alles, was uns verklagt, an Jesu Kreuz gerichtet und in seinem Grab begraben hat.

2. Seine Verurteilung ist unser Freispruch

„Er ist des Todes schuldig“ – so lautete das einmütige Urteil des Hohen Rats. Unter der Anklage der Gotteslästerung ist dieses Urteil zustande gekommen und wurde mit Hilfe und Einverständnis des römischen Gouverneurs vollstreckt. Wir haben, wenn wir das Sterben Jesu betrachten, nicht den Eindruck, als ob hier ein Lästerer Gottes stürbe. Die Art, wie er litt und starb, überzeugte den Schächer zu seiner Rechten und den Hauptmann zu seinen Füßen – gewiß zwei unvoreingenommene Zeugen – genau vom Gegenteil. Dennoch gibt ihn Gott dem Tode preis. Warum? Darum, weil wir mit unsren Sünden den Tod verdient haben. „Der Tod ist der Sünde Sold“ (Röm. 6,23) – nicht nur der zeitliche Tod, den der Mensch, wenn er des Lebens und Treibens müde ist, zuletzt als einen Freund und Wohltäter begrüßt -, sondern dieser Tod, der Straftod unter dem Urteil Gottes. Genau den Tod haben wir verdient, den dieser Mann am Kreuz an unserer Statt erleidet. Wenn uns dies aufgeht, dann schauen wir dieses Kreuz auf Golgatha mit andern Augen an – nicht nur mit dem Gefühl des Mitleids und der Ergriffenheit, sondern mit einem zutiefst erschrockenen Gewissen. Wir erkennen: Hier hat ein Blitz eingeschlagen, der von Rechts wegen uns treffen mußte. Ein Urteil wurde hier vollstreckt mit schonungsloser Schärfe und Gerechtigkeit, das wie ein drohendes Schwert über unsrem Haupte hing. Zugleich aber vertreibt gerade der Anblick dieses Kreuzes alle Furcht und Angst aus unsren Herzen. Das Urteil ist vollstreckt, rechtsgültig und wirksam, ein für allemal. Damit, daß Jesus den Tod erleidet, der Gerechte für die Ungerechten, ist unsre und aller Welt Schuld abgegolten. Gottes Urteil spricht uns frei!

Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe!
Der gute Hirte leidet für die Schafe;
die Schuld bezahlt der König, der Gerechte
für seine Knechte.

Der Fromme stirbt, der recht und richtig wandelt;
der Böse lebt, der wider Gott mißhandelt.
Der Mensch verwirkt den Tod und ist entgangen,
der Herr gefangen!

Wäre es anders, dann könnte Jesus mit dem Schächer zu seiner Rechten nicht vom offenen Tor des Paradieses sprechen. Daß diesem über und über mit Schuld Beladenen als Erstem dieser Freispruch widerfährt, bestärkt uns in der Gewißheit, daß es keine Schuld gib, die unter diesem Kreuz nicht Vergebung fände. „Wenn eure Sünde gleich blutrot wäre, soll sie doch schneeweiß werden“, so gewiß dieser Gekreuzigte mit seinem Blut dafür bezahlt. Wir können alles, was dieser „Berg der Versöhnung“ an Heil und Rettung für uns bedeutet, nicht besser zusammenfassen, als es in dem unergründlichen Wort aus Jesaja geschehen ist:

3. Durch seine Wunden sind wir geheilt

Zu Tode verwundet, hängt der „Herr der Herrlichkeit“ am Marterholz. Nicht nur die Nägel, die man ihm durch die Hände und Füße schlug, nicht nur die spitzen Stacheln der Dornenkrone, nicht nur der Lanzenstich des Söldners, von dem Johannes berichtet (19,34), haben ihm Wunden über Wunden verursacht. Verwundet ist er vom Hohn und Haß seiner Feinde, verwundet von dem Verrat seines Apostels, verwundet bis ins Herz hinein von all den Sünden und Missetaten, um deretwillen er solches alles erleiden muß. Wie sollen wir es verstehen und begreifen, daß uns diese Wunden “heilen“? Wunden müssen Wunden heilen, so heißt es in einem bekannten Lied von Hiller, dem schwäbischen Gotteszeugen. Aber warum das so ist, kann er uns auch nicht erklären. Das Geheimnis ist groß! Wir denken an das Wort des Johannes, der unter dem Kreuz Jesu stand und zusah, wie sein Blut den Stamm des Kreuzes und die Erde netzte: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde“ (1. Joh. 1,7). Wir wissen, es ist nicht irgendein Blut, sondern ein „heiliges, teures Blut“, vergossen und hingegeben in einem Gehorsam ohnegleichen. Dennoch wird unsre Vernunft dieses Geheimnis nicht ergründen. Was gilt’s? Viel wichtiger ist, daß wir es annehmen und dadurch gereinigt, entsühnt, errettet werden. Seltsam, daß wir in dieser Frage überhaupt so sehr auf das „Begreifen“ pochen! Was tut der Mensch, der auf den Tod krank ist und dem der Arzt ein Heilmittel verordnet, von dem er mit Bestimmtheit sagen kann, daß es dem Patienten Heilung und Hilfe bringt? Macht er den Entschluß, dieses Medikament einzunehmen, davon abhängig, daß ihm der Arzt zuvor die chemische Zusammensetzung des Präparats erklärt? Ich möchte vermuten, daß wir alle anders handeln. Wir greifen zu – unendlich dankbar, daß uns Hilfe wird. Wir sollten es, wenn uns Jesus Christus in seinem Hl. Mahl seinen Leib und sein Blut anbietet – vergossen zur Vergebung unsrer Sünden – nicht anders halten. Ihm sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!

Weg mit den Schätzen dieser Welt,
Demanten, Perlen, Gold und Geld!
Ich hab ein Bessres funden:
Herr Jesu Christ, mein großes Gut
ist dein für mich vergoßnes Blut,
das Heil in deinen Wunden.

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