Krummacher, Gottfried Daniel - Brief an einen jungen Anverwandten, der in Jena Theologie studierte

Krummacher, Gottfried Daniel - Brief an einen jungen Anverwandten, der in Jena Theologie studierte

Elberfeld, den 18. November 1818

Dein Brief hat mich ungemein freundlich angesprochen, und da Du sagst, eine Antwort würde Dir lieb sein, so gebe ich sie auch sehr gerne. Daß Du mir so sehr lange nicht geschrieben, habe ich Dir keineswegs übel gedeutet, sondern es gerne Deinem Gutbefinden liebend überlassen. Zuweilen hörte ich doch von Dir, und das, was ich hörte, freute mich. Daß Du Dich der Theologie gewidmet hast, wollte mich anfangs beunruhigen, weil ich besorgte, es wäre nicht aus Deinem Innern hervorgegangen, bin aber jetzt erfreut, da Du mich vom Gegenteil versicherst, zumal Du dabei des barmherzigen Beistandes Gottes gedenkst und sogar des lebendigen Glaubens an den Erlöser. Das sogar wird Dir, denk' ich, nicht auffallen, wenigstens nicht zuwider sein. Denn ich halte den lebendigen Glauben für ein sehr großes Werk gemäß den hyperbolischen und doch nüchternen Ausdrücken, die Paulus Eph. 1,19.20 davon gebraucht, und die meiner eigenen Erfahrung entsprechen. Das Wort „Erlöser“ ist auch so vag (unbestimmt) geworden, daß es fast in jedes Munde eine andere, in wenigen aber die genuine (ursprüngliche) Bedeutung hat. Ich kann Dir nicht sagen, lieber N., wie sehr mir das Mäkeln mit dem Evangelium zuwider ist, wobei man noch so komplimentsweise von einem Erlöser spricht, und wenn's darauf ankommt, es doch selber zu sein meint. Glaube nicht, daß ich in diesen Worten mein Urteil über Deinen Sinn ausspreche, das sei ferne, sondern ich meine nur, so stehe es im allgemeinen, und es komme wenigstens ein zischendes Sibboleth heraus, wo es Schibboleth heißen sollte. Ich werde aber den Ephraimiten kein Leid tun. Ihre Organe können's ja nicht anders, und man muß sich schon über das Sibb freuen, meine auch von mir selbst noch nicht das Schi ganz recht zu reden. Si und Schi, 1) welch' ein kleiner Unterschied, - und doch hing Leben und Tod davon ab. Die Pforte ist enge. Wenige sind ihrer, die sie finden. (Matth. 7,14) Euch ist es gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreichs vernehmt, diesen aber ist es nicht gegeben. (Matth. 13,11)

Du siehst, lieber N., ich gehe tüchtig zu Leibe - il faut se rendre. 2) Es werden nicht alle, die zu mir sagen Herr, Herr in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun. meines Vaters im Himmel. (Matth. 7,21) Niemand kann Jesum einen Herrn heißen, ohne durch den heiligen Geist. (1. Cor. 12,3) Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissaget? - dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie erkannt, weichet alle von mir, ihr Übeltäter! (Matth. 7,22.23) 3)

Vor Bestürmungen des Unglaubens und der Zweifelsucht, wovon Du schreibst, sei in der Welt nicht bange! Das müßte ein schlechter Erlöser sein, der einem die Wahrheit doch nicht als Wahrheit einleuchtend machen und über alle Einwendung und Zweifel gänzlich erheben könnte. Von mir dürfte er nicht viel Rühmens erwarten, und wäre ich in dem Falle, zur genauen Not mir selber durchhelfen zu können, so teilte ich den Ruhm des glücklichen Ausgangs nicht gerne mit einem anderen, besonders einem solchen, der vorgegeben hat, ohne ihn könne man nichts, der also am Ende den ganzen Ruhm seiner Person vindiziert und mir nichts übrig läßt, und dem es so genau hält, daß er von Tüttelchen und Jotas redet. Will er denn alle Ehre allein haben, so schaffe er auch, daß er sie bekomme, und mache sich aus uns Gläubige und Fromme, die grundehrlich gestehen: Wir sind sein Werk! Er hat uns gemacht und nicht wir selbst. Ich habe auch wohl so ungeheuer gezweifelt, daß ich meinte es sein kein emergere (emporkommen) mehr, erfuhr aber immer, daß die dickste Finsternis einem Lichtstrahle, geschweige dem Sonnenglanze weichen muß. Laß Du den Propheten von Nazareth Deinen Professor sein! Er lehret Dich das Wesen selbst und da mag es leicht, daß Du das Bild dazu findest. Er wird sich schon an Deinem Herzen legitimieren, wenn Du von ihm lernen willst. Was gehen mich Menschen an, die allesamt Lügner sind, was Luther, Calvin und wie die minorum gentium dii (Leute geringen Schlages) heißen mögen? Einer ist euer Meister, Christus. Er lehret mich selbst und Petrum etc. verstehen, lehrt mich, ich sei ein armer Wicht, er aber der Herr, und das ist genug. Ich erwarte also auch von Tübingen nicht zu viel. Du solltest einmal ein Buch durcharbeiten wie Calvins Institutionen, welches ist instar multarum bibliothecarum (welches viele Bibliotheken aufwiegt), und wo man am eigentlichsten sehen kann, was man wollte, und wie gelehrt und gründlich man war. Wohl dem, der der heiligen Schrift wenigstens die Ehre antut, daß er sich dem Christus hingibt, daß er sich an ihm legitimiere!

…. Es scheint mir, viele junge Leute brennen, sind voll von einer guten Sache, die sie nicht kennen, eine Art Ritter von Mancha. Oder sie rollen mit Spritzen über die Straße, daß sich jedermann des Getöses wundert, und keiner weiß, wo es eigentlich brenne, wenn sie nicht gar ins Haus hineinpumpen. Jeder will ein David sein, wie auch geschrieben steht: Der Geringste wird sein wie David.

Nun, Adio, lieber Junge, sei herzlich gegrüßet! Wir alle grüßen Dich sehr, besonders

Dein Oheim

Krummacher.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

1)
Hier stehen im Originale die betreffenden hebräischen Buchstaben, die nur durch einen einzigen Punkt von einander unterschieden werden.
2)
Man muß sich ergeben
3)
Die Bibelstellen pflegte der Selige in seinen Briefen meist nur kurz anzudeuten. Zur Erleichterung des Verständnisses haben wir sie vollständig angeführt.
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