Krummacher, Friedrich Adolf der Ältere - Predigt, gehalten den 25. September 1831, über 2. Kor. 13,5

Krummacher, Friedrich Adolf der Ältere - Predigt, gehalten den 25. September 1831, über 2. Kor. 13,5

von Dr. F. A. Krummacher, evang.-reform. Pfarrer zu Gemarke.

Eingang

“Ich weiß, an wen ich glaube und bin gewiss, dass ER mächtig ist, mir meine Beilage zu bewahren bis an jenen Tag.“

So jubelt Paulus in 2. Tim. 1,12. Das ist, will er sagen, mein Urteil über die Person des Mannes, an den ich fest geklammert bin; die Untersuchungs-Akten sind geschlossen; ich kenne den Felsen meines Heils. Ihm ist’s nun nicht mehr zweifelhaft, wie es um ihn selber stehe, und was er für die Zukunft zu erwarten habe; er ist sich seiner Annahme bei Gott auf das lebendigste bewusst und siehet seine Lebenskrone schon geflochten und im sichersten Verwahrsam für ihn aufbehalten. Köstlicher, beneidenswerter Stand! Schon, in welchem man den Tod und Teufel an seinen Siegeswagen spannt, und über die Trübsalswolken dieser Welt im Triumph sich aufschwingt wie der Sonnenadler über die Nebel der Alpentäler. Nach solchem Stande dürstet auch unsre Seele – und, wenn je, so wahrlich in den wetterschwülen Tagen, darin wir leben.

Ja, in der Tat; ein köstlich Ding ist’s, dass das Herz fest werde. Wir haben vor 14 Tagen einen Weg eingeschlagen, der uns diesem seligen Ziele näher führen könnte. O ein ernstes, höchst gewichtiges Geschäft, zu dem wir uns, veranlasst durch die verhängnisvolle Zeit, in der wir stehen, damals angeschickt haben – und das wir heute unter Gottes Beistand fortzusetzen gedenken. Wir fühlten es sämtlich auf das Lebendigste, wie in diesen Tagen der Gefahr und des Bangens alles darauf ankomme, dass man seines Glaubens recht gewiss sei – dass man einen unerschütterlichen Grund des Trostes und der Hoffnung unter seinen Füssen habe und recht feste und sichere Tritte zu tun vermöge. Wir entschlossen uns deshalb, eine Revision unserer wesentlichsten Überzeugungen und ihrer Fundamente vorzunehmen – und die Waffenrüstung zu besichtigen, in welcher wir den Drangsalen der Zukunft und den Schrecken des wider uns anrückenden Todes begegnen wollen; und namentlich die Elementar-Artikel unsres Glaubens: die Artikel von der Untrüglichkeit der Schrift – von der Existenz eines lebendigen Gottes – vom Dasein eines persönlich nahen Jesu u.s.w. einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, um mit Sicherheit zu erfahren, ob sie in der Tat auf Realität beruhen, und Verlass auf sie sei – oder ob sich’s anders verhalte. Denn wir fühlten wohl, dass es sich jetzt um ein lebendiges Erfassen dieser Elemente des Christentums handelt, und dass, wer in ihnen fest gewurzelt stehe, die Welt und alles überwinden werde. So warfen wir denn eine dreifache Frage auf. Wir fragten: ob diese Bibel, diese Basis unsres Trostes – wirklich nur, wie gegenwärtig Tausende behaupten, ein unzuverlässiger, schwankender Boden sei – oder ob sie sich zweifellos in allen ihren Teilen als eine Offenbarung Gottes legitimiere? Wir fragten, ob die Lehrsätze, die uns die teuersten sind und die uns vorzugsweise zum Ruhelager dienen in dieser sturmbewegten Zeit, in Wahrheit – wie es uns manche sagen wollen – nur Hirngespinste und Menschenerfindungen seien, oder ob sie im Wort Gottes gegründet ständen? Wir fragten, ob die Gründe, aus denen wir uns zum Volke Gottes zählen, in der Tat des Halts und der Beweiskraft ermangelten – oder ob wir recht geurteilt? Ihr wisst, zu welchem erfreulichen Resultat wir durch die Untersuchung der ersten Fragen gelangten. Wir fanden, dass die Schrift in mehr als einer Beziehung dergestalt das Gepräge einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung an der Stirne trage, dass es, auf das Gelindeste ausgedrückt – Unvernunft sei, ihr den Glauben zu verweigern. Ihr wisst, wie sich auch die zweite Frage dahin entschied, dass unsre teuersten Artikel: von dem Straftragen Christi, von der Rechtfertigung und der Bewahrung in der Gnade auf das allerzweideutigste im Buchstaben des Worts gegründet seien. Die Wahrheit des Gegenstandes unsres Glaubens unterliegt also wahrhaftig keinem gegründeten Zweifel mehr. Wir wissen, an Was und an Wen wir glauben. Jetzt geht es noch um die dritte Frage. Sind wir berechtigt, uns unter die Kinder Gottes und die Himmelserben zu zählen? – Das untersuchen wir heute. Gebe uns Gott, dass wir auch in diesem Punkt zu einem ebenso erfreulichen Resultat gelangen wie bei den andern!

Text: 2. Korinther 13,5.

“Versuchet euch selbst, ob ihr im Glauben seid; prüfet selbst; oder erkennt ihr euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist? Es sei denn, dass ihr untüchtig seid.“

Sammlung ist es – Einkehr in uns selbst – Untersuchung unsres Standes, wozu der Apostel in den vorgelesenen Worten uns aufruft. Wir sollen uns prüfen und erkunden, ob wir in Wahrheit dem Volke Gottes uns beizählen dürfen oder unecht sind – und noch zu denen gehören, die draußen wandeln. Wohlan, zu was für einem Resultat wir auch gelangen mögen – wir geben der apostolischen Ermahnung Gehör, und unternehmen das ernstlichste aller Geschäfte. Wir fragen nicht irgend ein menschliches System oder eine überlieferte Ästhetik – nein: wir fragen das Wort des Höchsten selbst, woraus es abzunehmen sei, ob man wirklich in der Gefahr stehe; und nachdem wir das erfahren, legen wir den gesunden Maßstab an unser Herz, und sprechen uns nach demselben das Urteil.

Welches sind denn nun die Zeichen eines wahren Gnadenstandes? Lasst uns sehen! Wir betrachten:

  1. Die Merkmale, die nicht erfordert werden.
  2. Diejenigen, die nicht zureichen;
  3. und endlich die, welche genügend, aber auch unerlässlich sind.

I.

Zuvörderst denn, meine Lieben!, ein Wort uns allen zum Trost. Es hat Menschen gegeben und gibt dergleichen noch, die, aus Unbekanntschaft mit der Schrift, das Aneignungsrecht der evangelischen Verheißungen an Bedingungen knüpfen wollen, die wir von vornherein als unbiblisch, als überspannt und aus der Luft gegriffen von uns weisen. Da will man uns, wer weiß, auf welchen Höhen erst erblicken, bevor man uns gestatten will, dass wir uns zu den Kindern Gottes zählen. Da sollen wir uns das Bewusstsein der göttlichen Kindschaft erst durch Lösung gewisser moralischer Aufgaben erkaufen, welche noch nie ein Mensch auf Erden löste. Erschrecken wir nun vor dem Gericht solcher übermenschlicher Anforderungen und rufen ängstlich aus: „Wer darf dann glauben, dass er selig werde?“ – so wird uns der traurige Bescheid: „Ja, nicht mancher darf es!“ – und die Kirche Gottes wird uns dargestellt wie ein Ölbaum nach der Ernte: hie und da ein Beerlein – sonst nichts als Laub und Blätter für das Feuer.

Menschen, welche zwar von der Heiligkeit Jehovas eine Ahnung hatten, aber um den Artikel von der Rechtfertigung durch den Glauben nicht wussten, konnten leicht auf die Gedanken geraten, dass ein Christ nicht eher mit einiger Sicherheit sich des Wohlgefallens Gottes getrösten dürfe, bis er unter göttlichem Beistande eine wenigstens in etwa vollendete Heiligkeit und Reinheit sich angestrebt habe. Stellen, wie die: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel. Ich bin heilig – und ihr sollt auch heilig sein“ u.s.w – konnten sie in ihrer Meinung leicht bestärken. Und allerdings, von ihrem Standpunkt aus betrachtet, erscheint ihr Urteil nicht so gar verkehrt und töricht. Aber wir wissen, dass wir die Heiligkeit, welche Gott zur unerlässlichen Bedingung unsres Seligwerdens setzte, außer uns in Christo besitzen – und dass es der Aufweisung einer persönlichen Vollkommenheit von unsrer Seite keineswegs bedarf, um zu den Erbteil der Heiligen im Licht zu gelangen. – Jakobus nennt sich einen Knecht Gottes und Jesu Christi, trotzdem, dass er bekennen muss: „Wir fehlen alle mannigfaltig.“ Johannes war gewiss ein rechter Gottesliebling und doch ruft er daher: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst.“ – Paulus wusste, dass nichts ihn scheiden werde von der Liebe Gottes; wurde nun etwa dieses Bewusstsein in ihm getrübt, als er das Gesetz in seinen Gliedern wahrnahm, das noch fort und fort dem Gesetz in seinem Gemüt das Widerspiel hielt? Nicht im Geringsten. Paulus hatte an dem Leben der Korinther und Galater noch gar nicht viel zu tadeln und auszusetzen. Spricht er ihnen deshalb den Stand der Gnade ab? Im Gegenteil – er nennt sie nach wie vor seine Brüder in dem Herrn – Geheiligte in Christo – ja Geliebte Gottes; und wir meinen doch nicht, dass er sie bloß komplimentarisch unter solchen Titeln angeredet habe. Nein, es kann einer noch recht weit von dem Ziel einer vollendeten Heiligung entfernt sein, und er braucht darum noch nicht zu zweifeln, dass sein Name im Buch des Lebens geschrieben stehe. Es kann einer noch in großer Schwachheit seinen Wandel führen, und seine Schuld in einer bedeutenden Weise noch täglich vergrößern – und doch kann er so eng wie irgend jemand in das Bündlein der Lebendigen mit eingeflochten sein, und im Besitz derselben Gottesliebe stehen, wie ein Paulus und Johannes. Persönliche Makellosigkeit gehört also mit zu den erträumten Merkmalen, nach denen wir unsern Stand nicht zu taxieren haben. Nach diesem Maß misst Gott seine Kinder nicht. Das Wort: Jesu nimmt die Sünder an – es wird wohl, aber es darf auch an allen, die selig werden, bis zu ihrem letzten Atemzug seine Geltung behalten.

Wie nun, wie wir gesehen, von manchen Seiten die Anforderungen an die Heiligkeit der Kinder Gottes höchst übertrieben werden, so übertreiben andere dagegen nicht selten die Ansprüche, die sie an den Glauben derselben machen. Wer kennt nicht die brillanten Menschenideale, die in funkelndem Aufzug so häufig unter dem Namen wahrer Christen – z. B. in den declamatorischen Vorträgen poetischer Nationalisten, oder angehender, zwar rechtsinniger, jedoch in der Praxis des wahren Christentums noch unerfahrener Prediger vorgeführt werden. Da werden denn dem Himmel die Farben entnommen, um damit dieses Phantasiegebilde von Jesu Jüngern zu schmücken. Die Züge der Seligen und der Engel werden Ihm aufgeprägt; den Triumph und die Siegesfreudigkeit der vollendeten Gerechten trägt man auf das Gemälde seines Glaubenshelden über; und so erscheint denn ein Mensch, der Tag für Tag in dem Genuss derselben ununterbrochenen Friedens dahin geht; ein Mensch, der in jedem Moment mit leuchtendem Angesicht über Grab und Tod die Siegesfahne schwingt; ein Mensch, dem beim Gedanken an sein letztes Stündlein nie anders zumute wird, als einem Müden beim Gedanken an die Stunde des Schlafengehens; ein Mensch, der nichts als Gebete atmet – nichts als Liebe fühlt – der unermüdet mit allem, was in ihm ist, in die Höhe und im Heiligtum wohnt – und der, wo es einmal zu streiten gibt, gleich wie ein Gott seine Feinde dämpft, und sich die Siegeskränze bricht, leicht wie man Blumen pflückt. Dieses Ideal, von nichts als Himmelssinn, Ruhe, Geduld, Kraft und Tapferkeit hält man uns nun vor als das Bild eines wahren Gläubigen, und begehrt von uns, dass wir darin uns spiegeln, daran uns messen sollen. O ja, so dürften wir sein wie jene Leute, den Christen beschreiben – und wir wären wirklich so, wenn wir aus dem offenen Brunnen der Verdienste Jesu frischer zu schöpfen, und die Privilegien, die uns gegeben sind, besser zu gebrauchen verständen. Aber wir sind nicht so, wir sind es höchstens nur zu Zeiten. – Sollen wir nun den Glauben an die Echtheit unsres Christentums fahren lassen? Das sei ferne. Es kann mit jemandes Glauben sehr armselig bestellt sein; es kann einer wie ein zertretener Wurm im Staube sich krümmen, und nichts anders mehr zu schreien wissen als mit Paulus: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes“ – als mit Daniel: „Meine Kraft ist dahin, und ist kein Odem mehr in mir“ – als mit Simon Petrus: „Herr, gehe von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch!“ – oder mit den Jüngern im Schifflein: „Herr, hilf uns, wir verderben!“ – und er kann darum doch ein wahrhaftiges Schaf der Herde Christi und dem Ewigen unaussprechlich wert und teuer sein. Also hinweg auch mit diesem falschen und pomphaften Maßstab und Gewicht! Die Waage des Heiligtums ist eine andere.

Es gibt endlich Leute, welche das Reich der Finsternis nicht kennen noch um die satanischen Anläufe wissen, unter denen auch die Kinder Gottes nicht selten bitterlich zu leiden haben. Diese Unerfahrenen denken sich das Innere eines wahren Christen als einen heiligen Tempel, in dem nur Göttliches zur Sprache komme – in welchem Tag und Nacht nur Psalmen und Lobgesänge auf Jehova tönten; wo nichts als himmlische Begierden und Gedanken zum Vorschein kämen, und kein Mißklang mehr die reine Harmonie des Lobes Gottes unterbräche. Auch diese Leute sind nicht geschickt, uns den Maßstab an die Hand zu geben, an dem wir uns zu messen hätten, und ein richtiges Urteil über unsern Stand zu fällen. Sie würden uns auf der Stelle verwerfen, wollten wir ihnen sagen, was wir mitunter in unserm Innern für Erfahrungen machten; sie würden uns ohne weiteres unter die verweisen, die draußen sind, – wollten wir ihnen erzählen, was sich je und dann in unserm Innern zuträgt. Ach ja, eine ununterbrochene Harmonie von nichts als Lob und Preis zum Herrn in unsrer Seele! Ei, wollte Gott, dem wäre so! Aber welche Feuerpfeile aus der Hölle, die uns zuweilen durchs Gemüt schwirren; welche Wirbel und Orkane, die der Satan auch im Herzen eines Heiligen Gottes erregen kann, wenn er das innere Lob mit den lästerlichsten Gedanken unterbricht; wenn er Ideen uns in die Seele schleudert, vor denen uns selbst die Haare zu Berge steigen; wenn er mit Reizungen uns innerlich zusetzt, die verfluchter sind als sich’s sagen lässt – und Lüste in uns aufregt, so schändlich, als wir sie kaum im unbekehrten Stande kannten, und so mächtig, dass wir die ganze Kraft unsers Glaubens zusammen nehmen müssen, um ihnen zu begegnen, und ihrer Meister zu werden. Nur ein geringes Wörtlein brauchten wir diesen Leuten von jenen Sachen zu verraten, und keinen Augenblick würden sie mehr Anstand nehmen, unser ganzes Christentum für einen unerhörten Selbstbetrug, für eine vermessene Einbildung zu erklären. Und vielleicht doch mit großem Unrecht; denn alle jene entsetzlichen Vorgänge können in der Seele eines Menschen sich ereignen, der nichts desto weniger ein Mensch Gottes ist – mit dem Blute Christi gewaschen, und in das Bündlein der Lebendigen und der Gerechten eingebunden. Wir protestieren deshalb auch gegen diesen Maßstab: denn er ist nicht biblisch – nicht von Gott gegeben. – Diese vollkommene Tempelharmonie des Innern gehört nicht minder zu den Kennzeichen, die nicht erfordert werden als die vorhin genannte fleckenlose Reinheit unseres Wesens und die ununterbrochene Glaubensfreudigkeit des innern Menschen.

II.

1. Ich zweifle nicht daran, meine Lieben, dass das bisher Bemerkte manchem unter euch zu einiger Ermutigung gereicht hat. Ja, höre ich sagen: „Wir fürchten uns in der Tat jetzt schon ungleich weniger vor der Untersuchung unsers Standes als zu Anfang“ – und unser Hoffen auf ein erfreuliches Ergebnis derselben für uns beginnt sich zu befestigen und zu erstarken. Nun wohl, meine Freunde! Wir wünschen euch Glück dazu. – Möge sich nur in unsern ferneren Erwägungen kein Abgrund öffnen, der eure Hoffnungen wieder verschlänge! Was ihr nicht in euch zu befinden braucht, um euch der Gnade Gottes in Christo getrösten zu dürfen, das habt ihr eben gehört. Welches sind denn die Gründe, auf die ihr den Glauben an eure Gotteskindschaft stützet? „Nun, höre ich sagen – ich glaube dem Worte Gottes in seinem ganzen Umfang von Mose bis auf Johannes.“ Gut, mein Freund, daran tust du wohl. Aber darin findest du noch nicht das Merkmal der Kindschaft. Weißt du nicht, dass auch die Teufel glauben und zittern? Glaubte nicht auch ein Bileam und fuhr zur Hölle? Dein Glaube ist vielleicht nur Faulheit, Stumpfsinn, Rachegeplapper. Freund, dies Zeichen reicht nicht hin. Beweise die Echtheit deines Glaubens! – Du sprichst: „Ich habe Lust an Gottes Wort.“ Schön, mein Lieber, – das ist schon etwas mehr oder auch nicht. Wie viele hundert Schriftgelehrten, Poeten und Philosophen haben schon ihr Ergötzen an Gottes Wort gehabt und haben’s noch – und doch werden wir sie schwerlich droben wiederfinden. Das mag leicht sein, dass man der Bibel eine interessante Seite abgewinnt. Also weiter. „Ich liebe die öffentlichen Gottesdienste.“ So! Das tat ich schon, ehe noch ein Funken Gnade in mir war. Der Gesang ergötzte mich – und eine Predigt anzuhören und zu kritisieren, das war mir ein angenehmer Zeitvertreib. Also fortgefahren. „Ich halte mich zu den Christen und habe sie lieb.“ Wirklich? – Nun, das ist schön. Aber warum solltest du das auch nicht tun? Sind sie doch die ehrlichsten, geradesten und liebenswürdigsten Leute – und von Jugend auf, ja vielleicht durch das Exempel deiner eigenen Eltern lerntest du sie als solche kennen und verehren. – Das weißt du aber auch, was Johannes von gewissen Menschen schreibt, die sich lange zu dem Gemeindlein Jesu hielten; später aber schieden sie aus – da schrieb Johannes: „Sie waren von den Unsrigen nicht.“ Zeig also bessere Dokumente deines Gnadenstandes. „Ich bete!“ Nun, das lässt sich schon eher hören. Du denkst an das „Siehe, er betet!“, das der Herr dem Ananias zurief, da er ihm den Saul empfehlen wollte. Wohl, mein Lieber! Aber denke auch an das andere Wort des Herrn: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen ,Herr, Herr,’ ins Himmelreich kommen“ und dass das Beten an sich (auch die Pharisäer, ja die Teufel beteten) noch kein untrügliches Zeichen einer innern Umkehr ist. Also weiter: „Ich lebe exemplarisch!“ – Was sagst du da? – o du armer Mensch! Das ist dir wohl nur entschlüpft? Oder meinst du’s wirklich so? – O dann denke doch nur an jenen reichen Jüngling; wie exemplarisch hatte der gelebt – und wie weit war er von dem Reiche Gottes. Also bessere und andere Zeichen! Was – du verstummst – weißt weiter nichts zu nennen, warum du dich zum Volke Gottes zählst – wirst schon verlegen? –

Wohlan, ich helfe dir auf die Spur. Erfuhrst du niemals etwas von Erweckung, Busse, innerlicher Tröstung u.s.f.? Das sage uns. Ja, sprichst du: Dies und jenes Wort schnitt mir einmal durchs Herz und ich fühlte, es müsse anders mit mir werden. Wohl dir, dass du es fühltest. Aber weißt du auch, dass nicht alle selig werden, die aus dem Schlaf gerüttelt wurden und dass der Same, der auf den Fels fiel, wohl schnell emporschoss, aber dass das Pflänzlein auch schnell wieder welkte, weil es nicht Wurzel hatte. Auch auf die Erweckung ist mithin noch nichts zu bauen. Sag, kennst du auch den Sündenschmerz und die Reuetränen? Ja, sprichst du, ich kenne auch sie. Ich habe schon einmal mein Bett mit Tränen geschwemmt meiner Missetaten wegen. Gut das, du hattest dazu Ursache. Aber Kain und Judas beweinten ihren Frevel auch, und gingen winselnd in die Hölle. Also auch in deinen Tränen liegt noch kein sicheres Argument für deine Kindschaft. Sag, spürtest du auch wohl schon etwas vom Trost des Evangeliums in deinem Herzen? O, erwiderst du, wohl öfters schon hat mich das Evangelium getröstet. Nun, so weißt du auch, wie süß es ist; aber gib auch darauf nicht zu viel. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die sich den Trost des Evangeliums zu eigen machten, und doch verlorengingen, weil sie mit ungewaschenen Händen sich eines Kleinods bemächtigten, das ihnen nicht zukam. Sag, besitzest du auch wohl Mut, den Namen Jesu offen zu bekennen und seines Evangelium dich nicht zu schämen? Ja, sprichst du, mit glühendem Eifer habe ich seine Sache oft verfochten. Gut das: sie ist es wert. Aber erwäge, dass steintote, orthodoxe Leute oft am heftigsten für das Evangelium eifern, weil das Evangelium ihr System ist und sie wollen nicht dafür gehalten sein, etwas Unvernünftiges zu glauben; dass also das Bekennen, ja selbst das Schmachtragen um solchen Bekennens willen noch kein untrügliches Merkmal ist, dass man sich imstande der Gnade befinde. Nun, wie ist es: sind das die Beweisgründe alle, die du für deine Kindschaft aufzuführen hast? Hast du in Wahrheit weiter nichts zu nennen, was deinen Gnadenstand dokumentierte – oder wohl gar weniger noch, als das bisher Genannte? Nun so spreche ich dir nach der Regel des Wortes eines wahrhaftigen Gottes das Urteil, dass es dir durchaus an einer gegründeten Ursache mangelt, dich dem Volke Gottes beizuzählen; dass vielleicht wohl manche Züge einer verlaufenden Gnade an dein Herz gekommen sind; dass dir aber das Siegel und Gepräge der Schafe Christi noch fehlt, und dass du in das Reich Gottes nimmer kommen wirst, sofern sich nicht dein flaues Trachten nach dem Eingang durch die enge Pforte in ein feuriges Ringen umgestaltet. –

III.

1. Das ist hart – sagt ihr. Ja, das mag so sein. Aber soll ich euch Lügen geben statt der Wahrheit, weil die letztere gemeiniglich Spieß und Nägel mit sich führt? Soll ich mit Sand zu euch kommen statt mit Augensalbe, weil diese beißt und einigen Schmerz erregt? Aber, sprecht ihr, wenn alle jene Merkmale uns noch keine Berechtigung geben, uns den Kindern Gottes beizuzählen – was berechtigt uns dann dazu? Nun, meine Lieben, das eben will ich euch jetzt noch in der Kürze sagen; doch nicht ich, sondern ein anderer. In das Archiv der Schrift greife ich hinein, den göttlichen Maßstab enthülle ich vor euren Augen und lebe der festen Überzeugung, dass, wie manche unter uns bei diesem Anblick erschrecken, so andere hingegen, und recht viele, nicht nur neuen Mut gewinnen, sondern auch mit erneuerter Freudigkeit zu dem seligen Bewusstsein gelangen werden: „Ja, auch ich gehöre zu Seinen Schafen!“

Es liegt ganz unleugbar am Tage, dass der Heiland in den Seligpreisungen seiner Bergpredigt keine andere Absicht hatte, als die innere Physiognomie seiner wahren Jünger und Erben uns vor die Augen zu malen. Alles, was anderweitig in der Schrift als Kennzeichen der Wiedergeburt und des wahren seligmachenden Glaubens aufgeführt wird, ist nur Wiederholung, oder weitere Ausführung dessen, was der Herr hier in bündiger Kürze namhaft macht. Die geistlichen Lebenszüge nun, welche der Herr in jenen Seligpreisungen zusammenstellt, bilden in ihrer Gesamtheit das Wesen der neuen Kreatur, der Charakter jenes inwendigen, nach Gott geschaffenen Menschen, ohne dessen Vorhandensein alle äußere Gottseligkeit vor Gott ein Unflat ist. Diese Züge müssen also alle in uns gefunden werden, wenn wir wahre Christen sind. Alle? – Ja, vom ersten bis zum letzten – alle! Doch erschrecket nicht zu sehr über dieses Wörtlein. Es verhält sich mit jenen Zügen also: Wo einer derselben in wahrhafter Ausgeburt vorhanden ist, da sind sie sicher sämtlich – wie sie denn auch sicher sämtlich fehlen, wo ein einziger derselben vermisst wird. Allerdings kann der eine oder andere jener Züge wohl einmal stärker, wahrnehmbarer und lebendiger ausgeprägt erscheinen, während die übrigen mehr in die Hintergründe unseres Wesens zurücktreten und sich den Augen entziehen. Aber setzt man die Sonde nur ein wenig tiefer, so finden sich auch diese; vorhanden sind sie doch. Die verdunkelnde Wolke reißt, und die vermissten Sternlein scheinen uns wieder in die Augen.

Welches sind denn nun jene geistlichen Lineamente und Charakterzüge wahrer Gotteskinder? Der erste ist die geistliche Armut. Der Herr preist sie selig und vermacht ihr feierlich seinen Himmel. Leset in der Schrift; überall wird sie als unerlässliches Merkmal göttlicher Kindschaft aufgeführt. Nur bei den Elenden wohnet Gott; nur den zerschlagenen Herzen wird Heil und Frieden angesagt; nur was gering ist, erhöht Er aus dem Staube; die in sich selbst etwas sind, stürzt Er vom Thron – und den Demütigen gibt Er Gnade – und wie die Stellen alle heißen. Ratlos sein in sich: im Blick aufs Seligwerden an aller eignen Gerechtigkeit und Kraft verzagen; nicht wissen, wo ein noch aus, wenn nicht eine Hand der Erbarmung sich helfend ausstreckt – keinen andern Trost mehr haben, als die freie Gnade: das ist geistlich arm sein. Brüder! fühlt ihr euch so – ist es Wahrheit, dieses Gefühl, ist es herzhaft, ist es Leben, drängt es euch aus euch selbst heraus, treibt es euch, den Retterarm zu erfassen, der sich aus den Wolken reckt, und jagt es euch zu der einen Zufluchtstätte, die uns offensteht: O dann Heil euch! Heil euch! Ein Zug des Gnadenlebens ist in euch vorhanden und ist er rechter Art, so gebt nur acht, dann sind sie alle da. Aber wie weiß ich, ob er rechter Art sei? Wie – zweifelst du daran? Nun, dann forsche nur, ob einer von den übrigen Zügen rechter Art in dir sei. Findest du, dass es einer ist, sei überzeugt, dann sind sie es alle.

Ein zweites Merkmal der göttlichen Natur ist das Leidtragen. Der Heiland preist es selig, und verheißt ihm eine überschwängliche Tröstung. Es ist das Leidtragen um die Sünde. Schauet euch um in der Bibel, wohin ihr wollt, überall erscheint euch der neue Mensch mit dem Wehmutszuge der göttlichen Traurigkeit, eines tiefen Betrübtseins um die dem Herrn zugefügten Beleidigungen, eines schmerzlichen Bedauerns, Ihm seine Freundlichkeit und Güte so übel vergolten zu haben. – Kennt ihr nun dieses heilige Bekümmern auch? Findet auch ihr solche köstliche Tränenperlen am Wimper eures inwendigen Menschen? Erfahrt auch ihr es, wenn ihr Den einmal verleugnetet, der sich eurer so herzlich annahm – wie dann die Liebe im Herzen sitzen kann und weinen – und wie dann alles, was in uns ist, uns treibet und drängt, gleich einem zärtlichen Kinde, mit Tränen oder mit abbittenden Küssen dem gekränkten lieben, lieben Herrn um den Hals zu fallen? Ich meine nicht das, was ihr gewöhnlich unter dem Wörtlein Buße versteht; ich rede nicht von dem Akt des ersten Selbstgerichts; ich rede von etwas Bleibendem, von etwas immer Wiederkehrendem; von jener permanenten Wehmut über den Kaltsinn unseres Herzens und den schlechten Dank, den man dem Herrn zollt; von jenem Seelenschmerze, der den Herzensfrieden nicht zu unterbrechen braucht – aber der, solange wir in diesem Todesleibe hausen, doch immer mehr oder minder der Freude der Heiligen sich beimischt, und ihr den stillen, sinnigen Charakter gibt. Kennt ihr den? – O dann selig seid ihr! Ihr entdeckt in ihm ein neues Zeichen, dass ihr nicht mehr draußen seid. –

Ein dritter wesentlicher Zug der neuen Kreatur ist die Sanftmut. Der Herr benedeiet sie: Sie soll das Erdreich besitzen. Sie ist zunächst nicht das, was wir gewöhnlich unter jenen Worten verstehen; sie ist die stille Beugung unter alle Veranstaltungen Gottes; sie ist das Sichgefallenlassen des Weges, den der Herr uns führt – man lässt Ihn mit sich machen; sie ist das Gerneseligwerdenwollen aus Gnaden durch den Glauben, ohne Verdienst der Werke – und das innere aufrichtige Sichdarlegen: „Tu was du willst mit mir – werd ich nur zugericht zu deinem Preis und Zier.“ – Ich sage nicht, dass es nicht mit dieser Kindeswilligkeit je zuweilen durch harte Kämpfe hindurch gehen könne; aber nichts desto weniger ist sie doch unverrückt vorhanden und bildet allemal den Grundton eines erneuerten Gemütes. Wäre sie nicht in dir, du wärest kein Christ. – Aber, nicht wahr, siehest du genauer zu, so findest du sie auch in dir, wenn auch noch so tief verborgen. Freue dich: ein köstlicher, verheißungsvoller Fund, den du tatest. –

Das Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit Christi ist der vierte Zug begnadigter Seelen. Der Herr preiset es selig, und verheißt ihm eine ewige Sättigung. Es ist das paulinische unverrückbare Trachten, nicht in seiner eigenen, sondern in der Gerechtigkeit erfunden zu werden, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. Es ist dies die Richtung jenes frommen Alten, der da sprach: „Ich würde meine Seele verdammen, sobald ich sie in einer anderen Gerechtigkeit fände als in derjenigen meines Gottes.“ Es ist dies das Tersteegen’sche:

„Hätt ich der Engel Heiligkeit, –
ich legte ab das schöne Kleid, –
und wollt in Jesum mich verhüllen.“

Es ist dies das nicht Rast noch Ruhe haben können, bis man sich in Christo geliebt und wohlgefällig weiß vor Gott; bis man mit Paulo sagen kann: „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch Jesum Christum.“ Wo dieses heilige Gelüsten, wo dieses schmachtende Sichausstrecken nach dem Schmuck, in dem wir einzig Gott gefallen, fehlt; da fehlt alles. Wo aber dieses Dürsten brennt, da ist es wie ein Beben einer Wünschelrute über einem reichen Schacht; da ist es wie ein geheimnisvolles Flämmlein, das das Vorhandensein der ganzen neuen Lebensfülle anzeigt.

Der fünfte Zug des neuen Menschen ist die Barmherzigkeit. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Ja, wo einer der bisher genannten Züge in echter Gestalt vorhanden ist, da kann dieser auch nicht fehlen. Ich sage nicht, dass nicht ein wahrer Christ anfechtungsweise und aus Schwachheit in Unbarmherzigkeit verfallen könnte. Aber die Barmherzigkeit muss doch der Grundton seines Wesens sein, – oder mit seinem Christentum ist es nichts. O ja, es hat manch einer von Haus aus eine härtere, unbarmherzigere Natur als ein anderer; und so kann es denn auch wohl sein, dass es selbst imstande der Gnaden noch ihm schwerer wird als manchem seiner Brüder, dieselbe zu überwinden und sich leutselig, hilfreich und erbarmend zu erweisen. Aber von Grund seiner Seele meint er’s doch gut mit den Leuten; von Grund seiner Seele wünscht er allen dasselbe Heil, dessen er teilhaftig geworden. Er beweint, er richtet, er verdammt den harten Kern, sobald er ihn wieder in seinem Wesen gewahr wird. Er geht mit heiligem Eifer dagegen an, ihn zu bekämpfen, und im lebendigen Ergreifen und Genießen der Gnade und Barmherzigkeit, die ihm von Gott zuteil geworden, wird’s auch ihm immer leichter und geläufiger, Mitleiden zu fühlen und Barmherzigkeit zu üben.

Ein reines Herz – so heißt das sechste Erfordernis. Nur die reinen Herzens sind, heißt es allerwegen in der heiligen Schrift, werden Gott schauen. Dieses Merkmal ist von allen das wichtigste, das beachtenswerteste, weil es den sichern Prüfstein bildet, an dem die Echtheit aller andern zu erkunden ist. Wo das reine Herz fehlt, da finde du der Kennzeichen deiner Kindschaft so viele an dir, als du willst: es ist alles Trug und Täuscherei. Keine einzige der Signaturen der Kinder Gottes kann echt und in wahrhaftiger Gestalt in dir vorhanden sein. Ihr erschreckt! Nun ja, erschreckt nur; doch erschreckt nicht ohne Grund und ohne Ursache. Allerdings, wenn der Herr von einem reinen Herzen redet, so versteht Er nicht etwa, wie man das Wort wohl gerne deuten mag, ein Herz darunter, das von Selbstgerechtigkeit frei ist; sondern der Ausdruck will nach seinem nächsten und buchstäblichen Sinne verstanden sein. Von einem gereinigten, von der Herrschaft der Sünde frei gemachten Herzen redet der Herr. Nun aber haben wir freilich unter einem reinen Herzen nicht ein solches zu verstehen, in welchem gar kein sündlicher Gedanke, kein unreines Gelüste mehr emporstiege; wo wäre ein solches Herz zu finden? Sondern ein reines Herz ist nach der Meinung Jesu ein solches, das feierlich und förmlich mit der Sünde gebrochen hat, das gegen das Reich der Finsternis in der entschiedensten Opposition sich befindet, das wie das Meer den toten Leichnam, unwillkürlich jenes unreine Element von sich auszustoßen strebt, – das mit allem Ernst und Eifer nicht allein Lust hat an Gottes Gesetz, sondern auch denselben in allen Stücken nachzufolgen begehrt; das die Übertretung ernstlich und ungeheuchelt richtet, und über seine Fehltritte nicht anders als mit dem Blute Christi sich zu beruhigen weiß. Wo dieser innere Kampf wider die Sünde fehlt – wo dieser lebendige, entschiedene und unwandelbare Lust und Liebe zu allem, was heilig, rein und göttlich ist, vermisst wird, da fehlen mit diesem einen Charakterzug der Kinder Gottes alle miteinander. Wo hingegen dieses eine Merkmal lebendig vorhanden ist, da werden unausbleiblich auch alle miteinander sich befinden. –

Nun seht, Geliebte, dies ist die Waage des Heiligtums; dies der einzig echte und untrügliche Maßstab, an dem ihr euern Stand zu messen habt. Wohlan denn, zur Prüfung jetzt! Wie steht’s mit euch? Dürft ihr euch noch zu Zions Kindern zählen? – Wie, ihr verstummt, ihr schlagt die Augen nieder, ihr seid traurig? Was ist das, meine Brüder? Ward in dieser Stunde auch an eure Wand geschrieben: „Gewogen und – zu leicht befunden!?“ Seid ihr inneworden, was ihr Erfreuliches und Gutes bisher von euch gehalten, ein Trug- und Gaukelbild des Feindes sei’s gewesen? Ich bitte euch, redet! Was vermisset ihr an euch? „Ach, höre ich sagen, ich vermisse das Wesentlichste von allem. – Das reine Herz, nein, nein, das finde ich nicht in mir. – O ich kann nicht sagen, wie ich mich sündig fühle, und was mir das für Schmerz, für Kummer macht!“ – Und du? – „Wehe, klagst du, ich bin nicht barmherzig. O, wenn du wüsstest, wie ich mich noch so hart, so mitleidlos und so aufs Irdische versessen finde. Ach, wer löst mir diese Banden, dass ich hoffen darf, auch zu der Herde Christi zu gehören!“ – Und du? – „O ich Armer, ich fühle das Hungern und das Dürsten nach dem Herrn Jesu nicht! Ich sehe es ein, wie alles, was in mir ist, sich diesem einigen Heiland, diesem Liebenswürdigsten entgegenranken sollte! Aber, meine Liebe, wie ist sie kühl; mein Verlangen nach Ihm, wie lau; mein Sehnen wie matt, wie wenig feurig!“ – Nun, ihr Klagenden, ist es das alles, worüber ihr zu seufzen habt? – „Ach, erwidert ihr, ist denn das noch nicht genug?“ – O ja, zum traurig sein genug; aber zum Verzagen noch viel zu wenig. – O verkennet euch doch selber nicht, ihr blöden Seelen. – Du, der du über den Mangel des reinen Herzens klagtest, wisse, was du nicht in dir siehst, das greifen wir in diesem Augenblick in dir mit Händen. Siehe, in deinem Kummer, in deiner Klage, in deinen Seufzern und in der Träne deines Auges, in dem allen wird ja gerade das handgreiflich offenbar, was du vermissen willst. – Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Denn es ist nicht so, dass dir die Sünde zu einem Kreuz, zu einer Last geworden ist, und zwar zur schwersten unter allen deinen Lasten? Sehnst du dich nicht von Grund der Seele, ihrer los zu werden, und sehnst du nicht schmerzlicher, nicht heißer dich darnach, als nach irgend etwas anderem? Du hast also mit der Sünde gebrochen. Nicht sie beherrscht mehr dich, sondern du beherrschest sie. Wisse denn – das eben ist das reine Herz, von dem der Heiland redet. Darum getrost! Die Gnade hat ihre Werkstatt in dir aufgeschlagen. – Du, der du der Unbarmherzigkeit dich zeihest, was sage ich dir? Trägt nicht auch deine Selbstanklage wieder ihre Nullität in sich selber? Dein Schmerz wird zu deinem Anwalt. Dein tiefes und aufrichtiges Betrüben, dass du nicht liebender dich findest, ist Zeuge, dass du liebest. Ja, auch dieser Zug der Kindschaft findet sich in deinem Wesen, durch welche Kämpfe mit einer steinernen Natur er sich auch nach oben ringe. – Und endlich du, der du dich verklagst, dich hungere und dürste nicht nach Jesu, fälle dir selbst kein ungerechtes Urteil. – Was ist denn dein Weinen und Betrüben, dass dich nicht brünstiger nach Jesu dürste, als eben ein brünstig Dürsten nach dem Herrn Jesus? – Was ist denn dein Sehnen: „Ach, sehnte ich mich doch inniger nach Seiner Nähe!“ als wirklich ein lebendig Sehnen nach seiner Nähe? – Hinweg drum mit den Sorgen, die des Grundes mangeln, und festgehalten an dem Satze: „Wo von den Signaturen des neuen Lebens lebendig ausgeprägt nur eine einzige sich findet, da sind sie alle!“ –

O selig dann, wenn nicht eine schwebende Hoffnung bloß oder ein trüglich Menschenurteil, sondern wem ein unzweideutig göttliches Gepräge in seinem Innern das Zeugnis gibt, er sei nicht mehr der Welt, sondern aus der Welt erwählet. O ein solcher ziehe seine Straße fröhlich. Die Liebe Gottes ist über ihm sein Panier, und Fittiche einer ewigen Erbarmung bedecken ihn. – Mit Christo schon versetzt in das himmlische Wesen, sieht er Welt und Sünde, Tod und Teufel geschlagen zu seinen Füßen liegen. – „Wer will verdammen!“ heißt seine Losung. „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes!“ die Schrift in seinem Fähnlein. – „Tritt, meine Seele, auf die Starken!“ sei sein Feldgeschrei, und in die Jubel-Akkorde seiner Harfe töne der Freudenschrei: „Heah! die ewigen Höhen sind unser Erbe worden!“ Amen.

Quelle: Fliedner, Theodor - Ein Herr, ein Glaube

Sprachlich angepasst durch Fritz

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