Kierkegaard, Sören - Die Krankheit zum Tode - Erster Abschnitt - Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung

Kierkegaard, Sören - Die Krankheit zum Tode - Erster Abschnitt - Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung

I. Daß Verzweiflung die Krankheit zum Tode sei

A. Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann so ein Dreifaches sein: daß man, in der Verzweiflung, sich dessen nicht bewußt ist ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); daß man, verzweifelt, nicht man selbst sein will; daß man, verzweifelt, man selbst sein will

Der Mensch ist Geist. Was ist Geist? Geist ist das Selbst. Was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält; oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; also nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.

Ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein.

Ist das Verhältnis das sich zu sich selbst verhält durch ein anderes gesetzt, so steht es als Verhältnis zu sich selbst außerdem in einem Verhältnis zu dem Dritten, das das ganze Verhältnis gesetzt hat.

Solch ein abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen: ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und in diesem Zusichselbstsichverhalten sich zu einem anderen verhält. Daher kommt es daß es zwei Formen eigentlicher Verzweiflung geben kann: verzweifelt nicht man selbst sein wollen; und verzweifelt man selbst sein wollen. Hätte das Selbst des Menschen sich selbst gesetzt, so könnte es nur in Verzweiflung nicht es selbst sein, sich selbst los sein wollen; nicht aber könnte es dann verzweifelt es selbst sein wollen. Warum nämlich kann es verzweifelt es selbst sein wollen? Weil es nicht durch sich selbst zum Gleichgewicht oder zur Ruhe kommen oder in Ruhe sein kann, sondern nur so, daß es sich in seinem Verhältnis zu sich selbst zu dem verhält was das ganze Verhältnis gesetzt hat. Deshalb ist auch diese zweite Form der Verzweiflung so wenig bloß eine besondere Art von Verzweiflung, daß sich im Gegenteil zuletzt alle Verzweiflung in sie auflösen und auf sie zurückführen läßt. Und deshalb ist ein Verzweifelnder, wenn er mit aller Macht allein durch sich selbst die Verzweiflung heben will, noch in der Verzweiflung und arbeitet sich mit allem seinem vermeintlichen Kampf gegen die Verzweiflung nur immer tiefer in tiefere Verzweiflung hinein. Das Mißverhältnis im Verzweifeln ist eben kein einfaches Mißverhältnis, sondern ein Mißverhältnis in einem Verhältnis das sich zu sich selbst verhält und von etwas anderem gesetzt ist; so daß das Mißverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis sich zugleich unendlich in dem Verhältnis zu der Macht reflektiert die es setzte.

Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt wenn die Verzweiflung ganz ausgerottet ist: indem es zu sich selbst sich verhaltend es selbst sein will, gründet sich das Selbst sich selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.

B. Möglichkeit und Wirklichkeit der Verzweiflung

Ist Verzweiflung ein Vorzug oder ein Mangel? Rein dialektisch ist sie beides. Wenn man die Verzweiflung abstrakt denken wollte, ohne an einen Verzweifelten zu denken, so müßte man sagen: sie ist ein ungeheurer Vorzug. Die Möglichkeit dieser Krankheit ist des Menschen Vorzug vor dem Tiere: verzweifeln kann der Mensch nur weil er mehr ist als Tier, nämlich ein Selbst, Geist. Die Möglichkeit dieser Krankheit ist des Menschen Vorzug vor dem Tiere; auf diese Krankheit aufmerksam zu sein ist des Christen Vorzug vor dem natürlichen Menschen; von dieser Krankheit geheilt zu sein ist des Christen Seligkeit.

Verzweifeln können ist also ein unendlicher Vorzug; Verzweifeln aber ist nicht bloß das größte Unglück und Elend, nein Verlorenheit. So verhalten sich Möglichkeit und Wirklichkeit sonst nicht zueinander. Ist es sonst ein Vorzug, das und das sein zu können, so ist es ein noch größerer Vorzug, es zu sein. Das will heißen: sonst steigt man vom Seinkönnen zum Sein auf. Was dagegen die Verzweiflung betrifft, so fällt man da aus dem Seinkönnen in das Sein hinab; und der unendlichen Höhe des Vorzugs, verzweifeln zu können, entspricht die unendliche Tiefe des Falls in die wirkliche Verzweiflung hinein. In Beziehung auf die Verzweiflung steigt man also von der Möglichkeit auf zum Nichtsein. Jedoch ist diese Bestimmung wieder zweideutig. Mit dem Nichtverzweifeltsein steht es nicht wie mit dem Nichtlahm-, Nichtblindsein und dergl. Wenn Nichtverzweifeltsein weder mehr noch weniger ist als nicht verzweifelt zu sein, so ist es gerade verzweifelt sein. Nichtverzweifeltsein und die vernichtete Möglichkeit sein, verzweifelt sein zu können; wenn es wahr sein soll, daß ein Mensch nicht verzweifelt ist, muß er in jedem Augenblick die Möglichkeit zu verzweifeln vernichten. So ist das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit sonst nicht. Zwar sagen die Denker, Wirklichkeit sei die vernichtete Möglichkeit; das ist aber nicht ganz wahr: sie ist die erfüllte, die wirkende Möglichkeit. Hier dagegen ist die Wirklichkeit (nicht verzweifelt zu sein, also eine Verneinung!) die ohnmächtige, vernichtete Möglichkeit. Sonst ist Wirklichkeit eine Bekräftigung, hier eine Vernichtigung der Möglichkeit.

Ein Selbst, ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält, ist der Mensch, weil er eine Synthese ist: eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Freiheit und Notwendigkeit. Verzweiflung ist nun das Mißverhältnis in dem Verhältnis des Selbst zu sich selbst. Die Synthese selbst aber ist nicht das Mißverhältnis, ist bloß dessen Möglichkeit; oder in der Synthese liegt die Möglichkeit des Mißverhältnisses. Wäre die Synthese selbst ein Mißverhältnis, so gäbe es gar keine Verzweiflung: Verzweiflung würde dann etwas sein was in der Natur des Menschen als solcher läge, wäre also eben nicht Verzweiflung. Sie würde dann etwas sein was dem Menschen begegnete, was er litte (wie eine Krankheit, in die der Mensch fällt; oder wie der Tod, der das Los aller ist). Nein, das Verzweifeln liegt als Möglichkeit in der Natur des Menschen, als Wirklichkeit im Menschen selbst. Wäre er keine Synthese, so könnte er gar nicht verzweifeln; und wäre die Synthese nicht ursprünglich von Gottes Hand her im rechten Verhältnis, so könnte er auch nicht verzweifeln.

Woher kommt nun die Verzweiflung? Von dem Verhältnis, worin die Synthese sich zu sich selbst verhält. Gott, der den Menschen zum Verhältnis machte, läßt ihn gleichsam aus seiner Hand; und so wird der Mensch ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält. Darin aber, daß das Verhältnis Geist ist, das Selbst ist, darin liegt die Verantwortung, unter der alle Verzweiflung steht und jeden Augenblick steht, den sie dauert; wie viel und wie sinnreich auch, sich und andere täuschend, der Verzweifelte von seiner Verzweiflung als von einem Unglück redet, das nur von außen, also ohne seine Verantwortung, über ihn gekommen sei.

Wenn so das Mißverhältnis (die Verzweiflung) eingetreten ist, folgt daraus von selbst daß es andauert? Nein, das folgt nicht von selbst; wenn das Mißverhältnis andauert, folgt das nicht aus dem Mißverhältnis, sondern aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Dies will heißen: so oft sich das Mißverhältnis äußert, und in jedem Augenblick wo es da ist, entspringt es unmittelbar aus dem Verhältnis. Sieh, man redet davon daß sich ein Mensch (z.B. durch Unvorsichtigkeit) eine Krankheit zuzieht. Die Krankheit tritt ein, und von dem Augenblick an macht sie sich als Krankheit, die da ist, geltend und ist nun eine Wirklichkeit, deren Ursprung immer mehr der Vergangenheit angehört. Es würde grausam und unmenschlich sein, wenn man dem Kranken immerzu sagen würde: „in diesem Augenblick ziehst du, Kranker, dir diese Krankheit zu.“ Das wäre, wie wenn man in jedem Augenblick die Wirklichkeit der Krankheit in ihre Möglichkeit auflösen wollte. Wahr ist, daß er sich die Krankheit zugezogen hat; das hat er aber nur einmal getan, und die Fortdauer der Krankheit ist eine einfache Folge davon daß er sie sich einmal zuzog; ihr Fortgang darf nicht in jedem Augenblick auf ihn als Ursache zurückgeführt werden. Er zog sie sich zu; aber man kann nicht sagen: er zieht sie sich zu. Anders mit dem Verzweifeln. Jeder wirkliche Augenblick der Verzweiflung ist auf ihre Möglichkeit zurückzuführen; jeden Augenblick, wo der Verzweifelte verzweifelt ist, zieht er sich das zu. Da ist beständig die gegenwärtige Zeit; es entsteht nichts Vergangenes, das der Wirklichkeit gegenüber zurückgelegt wäre; in jedem wirklichen Augenblick der Verzweiflung trägt der Verzweifelte alles was vor sich geht in der Möglichkeit als ein Gegenwärtiges. Denn zu verzweifeln liegt in der Sphäre des Geistes und verhält sich zum Ewigen im Menschen. Das Ewige aber kann der Mensch nicht loswerden, nein, in alle Ewigkeit nicht; er kann es nicht ein für allemal wegwerfen, nichts ist unmöglicher; er muß es in jedem Augenblick wo er es nicht hat jetzt von sich geworfen haben, jetzt (denn es kommt wieder) von sich werfen. Jeden Augenblick also, wo er verzweifelt ist, zieht er sich das Verzweifeln zu. Denn die Verzweiflung folgt nicht aus dem Mißverhältnis, sondern aus dem Verhältnis das sich zu sich selbst verhält. Und das Verhältnis zu sich selbst kann der Mensch nicht loswerden, so wenig wie sein Selbst (was übrigens ein und dasselbe ist, da ja das Selbst das Verhältnis zu sich selbst ist).

C. Verzweiflung ist: die „Krankheit zum Tode“

Dieser Begriff, „die Krankheit zum Tode“, ist doch in besonderer Bedeutung zu nehmen. Sonst bedeutet er eine Krankheit deren Ende und Ausgang der Tod ist. So redet man von einer tödlichen Krankheit als von einer Krankheit zum Tode. In dem Sinn ist Verzweiflung keine Krankheit zum Tode. Und umgekehrt ist eine leibliche Krankheit, auch wenn sie zum Tode führt, nicht im selben Sinne wie die Verzweiflung eine Krankheit zum Tode. Denn der Tod ist nicht das Letzte, ist ja, christlich verstanden, selbst ein Übergang zum Leben. Soll im strengsten Sinn von einer Krankheit zum Tode die Rede sein, so muß es eine Krankheit sein bei der der Tod das Letzte und bei der das Letzte der Tod ist. Und dies ist eben der Fall bei der Krankheit „Verzweiflung“.

Jedoch ist Verzweiflung in einem andern Sinne noch bestimmter die Krankheit zum Tode. An dieser Krankheit stirbt man nicht (was man sonst sterben nennt); oder: diese Krankheit endet nicht mit dem leiblichen Tode. Im Gegenteil, die Qual der Verzweiflung besteht gerade darin daß man nicht sterben kann. So hat sie mehr mit dem Zustand des Todkranken gemein, der das liegt und sich mit dem Tode plagt und nicht sterben kann. „Zum Tode krank sein“ heißt also: nicht sterben können, doch nicht, als ob da noch Hoffnung auf Leben wäre; nein, das Hoffnungslose ist das, daß selbst die letzte Hoffnung, der Tod, nicht kommt. Wenn der Tod die größte Gefahr ist, hofft man auf Leben; wenn man die noch schrecklichere Gefahr kennen lernt, hofft man auf den Tod. Wenn die Gefahr so groß ist daß der Tod zum Gegenstand der Hoffnung geworden ist, dann ist das Verzweiflung daß man nicht einmal sterben zu können hofft.

In dieser letzten Bedeutung ist nun Verzweiflung die Krankheit zum Tode: diese Krankheit im Selbst, ewig zu sterben; zu sterben und doch nicht zu sterben; des Todes zu sterben. Welch qualvoller Widerspruch! Denn Sterben bedeutet, daß es vorbei ist; aber des Todes sterben bedeutet, daß man das Sterben erlebt; und läßt sich dieses einen einzigen Augenblick erleben, so erlebt man es damit für ewig. Würde ein Mensch an Verzweiflung sterben, wie man an einer Krankheit stirbt, dann müßte das Ewige in ihm, das Selbst, in demselben Sinne sterben können wie der Leib an der Krankheit stirbt. Dies ist aber eine Unmöglichkeit; das Sterben der Verzweiflung setzt sich beständig in ein Leben um. Der Verzweifelte kann nicht sterben; „so wenig wie der Doch Gedanken töten kann“, so wenig kann die Verzweiflung das Ewige, das Selbst verzehren, das der Verzweiflung zugrunde liegt, „deren Wurm nicht stirbt, und deren Feuer nicht erlischt“. Jedoch ist Verzweiflung gerade ein Sichselbstverzehren; aber eine Leidenschaft sich selbst zu verzehren, ohne die Macht sich selbst zu verzehren. und das Gefühl dieser Ohnmacht ist die Ursache neuer, potenzierter Verzweiflung: des gesteigerten, und auch wieder ohnmächtigen Verlangens sich selbst zu verzehren. Das bohrt sich dem Verzweifelten immer tiefer ein; das erzeugt den kalten Brand der Verzweiflung. Es ist für den Verzweifelten kein Trost daß ihn die Verzweiflung nicht verzehrt: im Gegenteil! Dieser Trost ist gerade die Qual: daß der Wurm nicht stirbt. Darüber eben verzweifelte, nein, verzweifelt er: daß er nicht sich selbst verzehren, nicht sich selbst loswerden, nicht zu nichts werden kann.

Ein Verzweifelnder verzweifelt über etwas. So sieht es einen Augenblick aus, aber nur einen Augenblick; in demselben Augenblick zeigt sich die wahre Verzweiflung oder die Verzweiflung in ihrer Wahrheit. Indem er über etwas verzweifelte, verzweifelte er eigentlich über sich selbst, und will nun sich selbst loswerden. Wenn so der Herrschsüchtige, dessen Losung heißt: „entweder Cäsar oder nicht“, nicht Cäsar wird, so verzweifelt er darüber. Dies bedeutet aber etwas anderes: daß er, weil er nicht Cäsar wurde, es nicht aushalten kann er selbst zu sein. Also verzweifelt er eigentlich nicht darüber daß er nicht Cäsar wurde, sondern über sich selbst, daß er nicht Cäsar wurde. Dieses Selbst, das wenn es Cäsar geworden wäre seine ganze Lust gewesen wäre (in einem andern Sinne übrigens ebenso verzweifelt), dieses Selbst ist ihm nun das Allerunerträglichste. Nicht daß er nicht Cäsar wurde, sondern dieses Selbst, das nicht Cäsar wurde, ist ihm, recht verstanden, das Unerträgliche; oder noch richtiger: das Unerträgliche ist ihm, daß er sich selbst nicht loswerden kann. Wenn er Cäsar geworden wäre, so wäre er sich verzweifelt losgeworden; nun ward er aber nicht Cäsar und kann verzweifelt sich nicht loswerden. Wesentlich ist er gleich verzweifelt; denn er hat sein Selbst nicht, er ist nicht er selbst. Dadurch daß er Cäsar geworden wäre wäre er doch nicht er selbst geworden, sondern sich selbst losgeworden; und gerät er dadurch in Verzweiflung daß er nicht Cäsar wird, so verzweifelt er darüber daß er sich selbst nicht loswerden kann. Daher kann nur ein ganz oberflächlicher Mensch, der vermutlich nie einen Verzweifelten (und nicht einmal sich selbst) gesehen hat, von einem Verzweifelten sagen (als wäre das eine Strafe!): „er verzehrt sich selbst.“ Gerade das ist es ja woran er verzweifelt; und gerade das ist es ja was er zu seiner Qual nicht kann, da durch die Verzweiflung Feuer in etwas geraten ist, was nicht verbrennen kann, ins Selbst.

Über etwas verzweifeln ist also noch keine eigentliche Verzweiflung. Es ist der Anfang: wie wenn der Arzt von einer Krankheit sagt: sie hat sich noch nicht erklärt. Das Nächste ist die erklärte Verzweiflung: über sich selbst verzweifeln. Ein junges Mädchen verzweifelt aus Liebe; sie verzweifelt also über den Verlust des Geliebten (daß er starb, oder daß er ihr untreu wurde). Ihre Verzweiflung hat sich noch nicht erklärt; in Wahrheit verzweifelt sie über sich selbst. Dieses ihr Selbst, das sie, wenn sie „seine“ Geliebte geworden wäre, auf die holdseligste Weise losgeworden wäre (oder verloren hätte!), dies Selbst ist ihr nun eine Plage, weil es ein Selbst ohne „ihn“ sein soll; dieses Selbst, das ihr (übrigens in einem andern Sinn ebenso verzweifelt) ihr Reichtum geworden wäre, ist ihr nun, da „er“ tot ist, eine widerwärtige Leere geworden, oder zum Abscheu, da es sie daran erinnert, daß „er“ sie betrogen hat. Versuche es nun und sage zu einem solchen Menschen: „du verzehrst dich selbst“; und du wirst sie antworten hören: „o nein, die Qual ist gerade daß ich das nicht kann“.

Über sich verzweifeln, verzweifelt sich selbst los sein wollen, ist die Formel für jede Verzweiflung; so daß also die zweite Form der Verzweiflung (verzweifelt man selbst sein wollen) auf die erste (verzweifelt nicht man selbst sein wollen) zurückgeführt werden kann; wie wir andererseits die Form „verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen“ in die Form „verzweifelt man selbst sein zu wollen“ aufgelöst haben. Ein Verzweifelnder will verzweifelt er selbst sein. Will er aber verzweifelt er selbst sein, so will er sich doch nicht selbst los sein? Ja, so scheint es; wenn man aber genauer zusieht, sieht man doch daß es auf dasselbe hinausläuft. Das Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst das er nicht ist (denn das Selbst sein zu wollen das er in Wahrheit ist, das ist ja gerade das Gegenteil von Verzweiflung). Er will also sein Selbst von der Macht die es setzte losreißen. Das vermag er aber nicht. Jene Macht ist stärker als er in seiner verzweifeltsten Anstrengung und zwingt ihn, das Selbst zu sein das er nicht sein will. Aber so will er ja doch sich selbst, das Selbst das er ist, los sein, um das Selbst zu sein das er selbst erfunden hat. Ein Selbst zu sein wie er es will, das würde (wenn er auch in einem andern Sinn dann ebenso verzweifelt wäre) seine ganze Lust sein; dagegen gezwungen ein Selbst zu sein wie er es nicht sein will, das ist sein Qual, die Qual, daß er sich selbst nicht loswerden kann.

Sokrates bewies die Unsterblichkeit der Seele daraus, daß wohl der Leib von der Krankheit des Leibs, nicht aber ebenso die Seele von der Krankheit der Seele verzehrt wird. So kann man auch das Ewige im Menschen daraus beweisen, daß die Verzweiflung sein Selbst nicht verzehren kann und gerade darin die Widerspruchsqual der Verzweiflung besteht. Gäbe es im Menschen nichts Ewiges, so könnte er nicht verzweifeln; könnte aber die Verzweiflung sein Selbst verzehren, so brauchte er nicht zu verzweifeln.

So ist Verzweiflung, diese Krankheit im Selbst, die Krankheit zum Tode. Der Verzweifelte ist todkrank. In ganz anderer Weise als man es sonst von einer Krankheit sagen kann hat die Krankheit die edelsten Teile angegriffen; und doch kann er nicht sterben. Da ist der Tod nicht das Letzte der Krankheit, sondern fortwährend das Letzte. Von dieser Krankheit durch den Tod gerettet zu werden ist eine Unmöglichkeit: die Krankheit und ihre Qual, und der Tod ist ja gerade, daß man nicht sterben kann. Dies ist der Zustand des Menschen in Verzweiflung. Ob es dem Verzweifelten auch entgeht daß er verzweifelt ist; ob es ihm auch gelingt, sein Selbst so ganz verloren zu haben daß er den Verlust nicht einmal merkt: die Ewigkeit wird es doch offenbaren daß sein Zustand Verzweiflung war, und wird ihm sein Selbst so festnageln daß er es auch nicht mehr in der Einbildung loswerden kann. Und so muß die Ewigkeit handeln. Denn ein Selbst zu haben, ein Selbst zu sein, das ist die größte dem Menschen gemachte Einräumung (ein wirklich unendliches Zugeständnis), und ist zugleich die Forderung der Ewigkeit an den Menschen.

II. Die Allgemeinheit dieser Krankheit (der Verzweiflung)

Wie der Arzt wohl sagen mag, daß vielleicht nicht ein einziger Mensch lebe der ganz gesund sei, so müßte man, wenn man den Menschen recht kennte, sagen, daß nicht ein einziger Mensch lebe der doch nicht etwas verzweifelt sei, in dessen Innern nicht eine Unruhe, ein Unfriede, eine Disharmonie, eine Angst wohne, eine Angst vor einem unbekannten Etwas, oder vor einem Etwas, das er nicht einmal kennen zu lernen wagt; eine Angst vor einer gewissen Möglichkeit des Daseins oder eine Angst vor sich selbst; so daß er (wie der Arzt sagt, man trage eine Krankheit in sich) eine Krankheit des Geistes in sich trägt, die ab und zu blitzartig in und mit dieser ihm selbst unerklärlichen Angst merken läßt daß sie da ist. Und auf jeden Fall: außerhalb der Christenheit hat kein Mensch gelegt und lebt kein Mensch der nicht verzweifelt wäre, und in der Christenheit keiner, er sei denn ein wahrer Christ; und sofern einer dies nicht ganz ist, ist auch er etwas verzweifelt.

Diese Betrachtung wird gewiß manchem wie eine paradoxe Übertreibung vorkommen, und dabei wie eine düstere und verstimmende Anschauung. Doch ist sie nichts von alledem. Sie ist nicht düster, sucht im Gegenteil an das Licht zu bringen was man gemeinhin in einem gewissen Dunkel lassen möchte; sie ist nicht verstimmend, im Gegenteil erhebend, da sie jeden unter die höchste Anforderung gestellt sieht unter der er tatsächlich steht: daß er Geist sein soll; sie ist auch kein Paradox, im Gegenteil eine konsequent durchgeführte Grundanschauung; und insofern ist sie auch keine Übertreibung.

Die gewöhnliche Betrachtung der Verzweiflung bleibt dagegen beim Anschein stehen und ist so eine oberflächliche Betrachtung, das heißt gar keine Betrachtung. Sie nimmt an, daß jeder Mensch ja am besten bei sich selbst wissen müsse, ob er verzweifelt sei oder nicht. Wer von sich selbst sagt daß er verzweifelt sei, der gilt für verzweifelt; wer sich nicht für verzweifelt hält, gilt auch nicht dafür. Infolge davon wird Verzweiflung zu einer ziemlich seltenen Erscheinung, da sie doch das ganz Gewöhnliche ist. Nicht das ist das Seltene, daß einer verzweifelt ist; nein, das Seltene, das sehr Seltene ist, daß es einer in Wahrheit nicht ist.

Aber die vulgäre Betrachtung versteht sich sehr mangelhaft auf Verzweiflung. So übersieht sie unter anderem ganz (um bloß dies zu nennen, was doch richtig verstanden Tausende und aber Tausende und Millionen unter die Bestimmung Verzweiflung bringt), daß es eben eine Form von Verzweiflung ist nicht verzweifelt zu sein, nämlich sich dessen nicht bewußt zu sein daß man verzweifelt ist. Es geht der vulgären Betrachtung bei ihrer Ansicht von der Verzweiflung in viel tieferem Sinne so, wie es ihr zuweilen bei ihrem Urteil über Krankheit und Gesundheit geht, in viel tieferem Sinne; denn die vulgäre Betrachtung versteht sich noch viel weniger auf Geist (und ohne das kann man sich auch nicht auf Verzweiflung verstehen) als auf Krankheit und Gesundheit. Gewöhnlich nimmt man an, daß ein Mensch, wenn er nicht selbst sagt daß er krank sei, auch gesund sei, und vollends wenn er selbst sagt er sei gesund. Der Arzt dagegen betrachtet die Krankheit anders. Und warum? Weil er eine bestimmte und entwickelte Vorstellung von Gesundheit hat und nach dieser den Zustand eines Menschen prüft. Der Arzt weiß, daß es wie Krankheit so auch Gesundheit gibt dir nur auf Einbildung beruht. Daher wendet er, wenn er dies vermutet, erst Mittel an damit die Krankheit offenbar werde. Überhaupt hat der Arzt, eben weil er Arzt (der Sachverständige) ist, kein unbedingtes Zutrauen zu der eignen Aussage des Menschen über sein Befinden. Wenn dem so wäre, daß man unbedingt auf das bauen könnte was jeder von seinem Befinden sagt (ob er gesund oder krank sei, wie sehr er leide usw.), so wäre Arztsein eine Einbildung. Denn der Arzt hat nicht nur Heilmittel zu verschreiben, sondern vor allem die Krankheit zu erkennen, und also vor allem zu erkennen, ob der vermeintlich Kranke auch wirklich krank, der vermeintlich Gesunde auch wirklich gesund ist.

Wie der Arzt zur Krankheit, stellt sich der Seelenkundige zur Verzweiflung. Als Sachverständiger begnügt er sich nicht mit der Aussage eines Menschen, daß er nicht verzweifelt sei oder verzweifelt sei. Es muß nämlich bemerkt werden, daß in gewissem Sinn auch die nicht immer verzweifelt sind, die es von sich behaupten. Man kann ja Verzweiflung affektieren, und man kann sich auch irren und Verzweiflung, die ein Zustand des Geistes ist, mit allerhand Verstimmtheit und Zerrissenheit verwechseln, die vorübergeht ohne es bis zur Verzweiflung zu bringen. Indes sieht der Seelenkundige freilich auch hierin Formen von Verzweiflung. Er sieht ganz gut, daß es Affektation ist, aber eben diese Affektation ist Verzweiflung. Er sieht ganz gut, daß diese Verstimmung usw. nicht viel zu bedeuten hat, aber eben dies, daß sie nicht viel zu bedeuten hat, ist Verzweiflung.

Die vulgäre Betrachtung übersieht ferner, daß Verzweiflung als Krankheit des Geistes anders dialektisch ist als was man sonst Krankheit nennt. Und dieses Dialektische in der Verzweiflung bringt, richtig verstanden, wieder Tausende unter die Rubrik Verzweiflung. Wenn sich nämlich der Arzt zu einer gewissen Zeit überzeugt hat daß der und der gesund ist, und dieser dann später krank wird: so kann der Arzt darin recht haben, daß dieser Mensch damals gesund war; jetzt dagegen ist er krank. Anders mit der Verzweiflung. Sobald sich Verzweiflung zeigt, zeigt sich auch das daß der Mensch verzweifelt war. Denn wenn das eintritt was ihn zur Verzweiflung bringt, so wird es in demselben Augenblick offenbar daß er sein ganzes vergangenes Leben hindurch verzweifelt gewesen ist. Dagegen wird es, wenn er Fieber bekommt, keineswegs offenbar daß er sein ganzes Leben hindurch Fieber gehabt habe. Aber Verzweiflung ist eine Bestimmtheit des Geistes, verhält sich also zum Ewigen, und hat daher in ihrer Dialektik etwas vom Ewigen.

Verzweiflung hat nicht nur eine andere Dialektik als eine sonstige Krankheit, sondern bei ihr sind alle Kennzeichen doppeldeutig; und darum täuscht sich die oberflächliche Betrachtung so leicht über ihr Vorhandensein. Nicht verzweifelt sein kann nämlich gerade bedeuten daß man verzweifelt ist; und es kann bedeuten, daß man von der Verzweiflung gerettet ist. Sicherheit kann bedeuten daß man verzweifelt ist, kann Verzweiflung sein; und kann bedeuten, daß man die Verzweiflung überwunden und Frieden gefunden hat. Mit dem Nichtverzweifeltsein steht es anders als mit dem Nichtkranksein. Nichtkranksein ist doch niemals Kranksein; aber Nichtverzweifeltsein kann gerade Verzweiflung sein. Mit der Verzweiflung ist es nicht wie mit einer Krankheit: daß das Übelbefinden die Krankheit ist. Keineswegs. Das Übelbefinden ist da wieder doppeldeutig. Wer dies Übelbefinden nie empfunden hat ist eben verzweifelt.

Dies will sagen und hat seinen Grund darin, daß der Geist (und will man von Verzweiflung reden, muß man den Menschen unter der Kategorie Geist betrachten) immer in einem kritischen Zustand ist. Von einer Krisis redet man bei Krankheit, nicht bei Gesundheit. Warum nicht? Weil leibliche Gesundheit eine unmittelbare Bestimmtheit ist, die erst im Zustande der Krankheit dialektisch wird; wo dann auch von Krisis geredet wird. Aber geistig, oder wenn der Mensch als Geist betrachtet wird, ist sowohl Gesundheit als Krankheit kritisch; unmittelbare Gesundheit des Geistes gibt es nicht.

Sobald man den Menschen nicht unter der Kategorie Geist betrachtet (und tut man dies nicht, kann man auch nicht von Verzweiflung reden), sondern nur als seelisch-leibliche Synthese, ist Gesundheit eine unmittelbare Bestimmtheit und erst Krankheit der Seele oder des Leibes die dialektische Bestimmtheit. Aber das ist eben Verzweiflung, daß sich der Mensch nicht bewußt ist als Geist bestimmt zu sein. Selbst was, menschlich gesprochen, das Schönste und Lieblichste von allem ist, eine weibliche Jugendlichkeit, die eitel Harmonie, Friede und Freude ist, das ist doch Verzweiflung. Dies ist nämlich Glück; aber weit, weit drinnen, innerst in der verstecktesten Verborgenheit des Glücks, da wohnt auch die Angst, d.h. die Verzweiflung. Da nistet sich ja die Verzweiflung am liebsten ein: mitten drin im Glück. Glück ist nämlich nicht Geist, ist Unmittelbarkeit; und alle Unmittelbarkeit ist trotz ihrer eingebildeten Ruhe und Sicherheit Angst, und darum ganz konsequent meist Angst vor nichts. Man macht der Unmittelbarkeit mit der schauerlichsten Beschreibung der schrecklichsten Sache nicht so angst wie durch ein hinterlistig, fast nachlässig, aber doch mit sicher zielender Reflexion hingeworfenes halbes Wort von etwas Unbestimmtem; ja man macht der Unmittelbarkeit am allermeisten Angst, indem man ihr auf listige Weise andeutet daß sie selbst schon wisse wovon man rede. Denn freilich weiß es die Unmittelbarkeit nicht; nie aber fängt die Reflexion so sicher, wie wenn sie ihre Schlinge aus nichts dreht, und nie ist die Reflexion so sie selbst, wie wenn sie, nichts ist. Es gehört eine eminente Reflexion, oder richtiger: es gehört ein großer Glaube dazu, die Reflexion des Nichts, das ist die unendliche Reflexion, aushalten zu können. Also selbst das Schönste und Lieblichste von allem, eine weibliche Jugendlichkeit, ist doch Verzweiflung, ist Glück. Daher glückt es wohl auch nicht, mit dieser Unmittelbarkeit durchs Leben zu schlüpfen. Und glückt es doch, ja das hilft nur wenig; denn es ist Verzweiflung. Verzweiflung ist nämlich, gerade weil sie ganz doppeldeutig ist, die Krankheit, die nie gehabt zu haben das größte Unglück ist, ein wahres Gottesglück sie zu bekommen, ob sie auch die allergefährlichste Krankheit ist, wenn man von ihr nicht geheilt werden will. Sonst kann ja doch nur davon die Rede sein daß es ein Glück ist von einer Krankheit geheilt zu werden; die Krankheit selbst ist das Unglück.

Daher irrt sich die vulgäre Betrachtung vollständig, wenn sie annimmt Verzweiflung sei etwas Seltenes; sie ist im Gegenteil das ganz Allgemeine. Die vulgäre Betrachtung irrt sich ganz und gar, wenn sie annimmt, daß jeder, der sich nicht verzweifelt glaubt oder fühlt, es auch nicht sei, sondern nur der es sei der es von sich aussagt. Im Gegenteil ist wer das ohne Affektation von sich sagt, der Heilung ein wenig, einen Schritt näher als alle die sich nicht für verzweifelt halten. Aber eben dies ist (worin mir gewiß der Seelenkundige recht gegen wird) das Allgemeine, daß die Menschen dahinleben, ohne sich dessen recht bewußt zu werden daß sie Geist sind und sein sollen; und daß sie eben deshalb so sicher sind, so zufrieden mit dem Leben usw./ was gerade Verzweiflung ist. Die sich dagegen verzweifelt nennen, haben entweder eine so viel tiefere Natur, daß sie sich dessen bewußt werden müssen Geist zu sein, oder es haben ihnen schwere Ereignisse und furchtbare Entscheidungen dazu verholfen. Die sind dann, wie gesagt, der Heilung einen Schritt näher; einer aber, der in Wahrheit nicht (nicht mehr!) verzweifelt ist, findet sich gewiß sehr selten.

Man redet, ach, so viel von menschlicher Not und menschlichem Elend, ich suche es zu verstehen, habe auch manches davon näher kennen gelernt; man redet so viel davon, wie manche Menschen das Leben verscherzen: aber nur der Mensch hat sein Leben verscherzt, der, von den Freuden oder sorgen des Lebens betrogen, so dahinlebte, daß er sich seiner selbst nie ewig entscheidend als Geist, als Selbst bewußt wurde; der (was dasselbe ist) nie darauf aufmerksam wurde, nie im tiefsten Sinn den Eindruck davon empfing, daß ein Gott da ist und „er“ (er selbst, sein Selbst) vor diesem Gott da ist: welcher Gewinn (daß die Unendlichkeit gewonnen wird!) freilich nie erreicht wird außer durch Verzweiflung hindurch. Ach, und dieses Elend, daß so viele so dahinleben, um den seligsten aller Gedanken betrogen; dieses Elend, daß man die Menschen mit allem Möglichen beschäftigt, aber nie sie an diese Seligkeit erinnert, daß man sie, um sie als Maschinen gebrauchen zu können, in Massen zusammenballt, statt die Masse in Einzelne zu zersplittern damit jeder Einzelne das Höchste, das Einzige gewinne wofür es sich zu leben verlohnt, und worin zu leben eine Ewigkeit nicht zu lang ist: mich dünkt, ich könnte eine Ewigkeit darüber weinen, daß dieses Elend da ist! Und dies ist in meinen Gedanken, ach, ein neuer Grund des Erschreckens über diese allerfürchterlichste Krankheit und Not: ihre Verborgenheit! Nicht bloß, daß wer daran leidet sie so zu verbergen vermag, daß keiner, keiner sie entdeckt; nein, daß sie so versteckt in einem Menschen sein kann, daß er selbst nichts davon weiß! O, und wenn dann einmal das Stundenglas abgelaufen ist, das Stundenglas der Zeitlichkeit; wenn der Lärm der Weltlichkeit verstummt ist und die arbeitsame Geschäftigkeit oder der geschäftige Müßiggang ein Ende fand; wenn alles um dich still ist, wie es in der Ewigkeit ist, ob du Mann oder Weib, reich oder arm, abhängig oder unabhängig, glücklich oder unglücklich warst; ob du in Hoheit den Glanz der Krone oder in geringer Unbemerktheit nur des Tages Last und Hitze trugst; ob dein Name in Erinnerung blieb so lange die Welt stand, oder du ohne Namen als bloß auch einer in der zahllosen Menge mitliefst, oder das strengste, entehrendste menschliche Urteil dich brandmarkte, die Ewigkeit fragt dich und jeden einzelnen unter diesen unzähligen Millionen nur nach Einem: ob du verzweifelt gelebt hast oder nicht; ob so verzweifelt daß du von deiner Verzweiflung nichts wußtest, oder so daß du diese Krankheit als dein nagendes Geheimnis versteckt in deinem innersten trugst, oder so daß du, für andere ein Schrecken, in Verzweiflung rastest. Und wenn dem so ist; wenn du verzweifelt gelebt hast, was du sonst auch gewannst oder verlorst: dann ist für dich alles verloren. Die Ewigkeit bekennt sich nicht zu dir, kannte dich nie! Oder noch schrecklicher: sie kennt dich, wie du erkannt bist; sie setzt dich durch dein Selbst fest in der Verzweiflung!

III. Die Formen dieser Krankheit (der Verzweiflung)

Die Formen der Verzweiflung müssen sich konstruieren lassen, wenn man auf die Momente reflektiert, aus denen das Selbst als Synthese besteht. Das Selbst ist gebildet aus Unendlichkeit und Endlichkeit. Diese Synthese ist aber ein Verhältnis; und zwar ein solches, das, ob auch abgeleitet, sich zu sich selbst verhält. Das ist Freiheit. Das Selbst ist Freiheit. Freiheit ist aber das Dialektische in den Kategorien Möglichkeit und Notwendigkeit.

Hauptsächlich muß die Verzweiflung doch auf ihre Bewußtheit betrachtet werden. Ob sie bewußt oder unbewußt ist bildet den qualitativen Unterschied zwischen Verzweiflung und Verzweiflung. Freilich ist alle Verzweiflung ihrem Begriff nach bewußt; daraus folgt aber nicht, daß der dessen Zustand unter den Begriff Verzweiflung fällt sich dessen bewußt ist. So ist das Bewußtsein das Entscheidende. Überhaupt ist für das Selbst Bewußtsein (Selbst-Bewußtsein) das Entscheidende. Je ehr Bewußtsein, desto mehr Selbst; je mehr Bewußtsein desto mehr Wille, je mehr Wille desto mehr Selbst. Ein Mensch der gar keinen Willen hat ist kein Selbst; je mehr Willen er aber hat, desto mehr Selbstbewußtsein hat er auch.

A. Verzweiflung so betrachtet, daß man nicht darauf achtet ob sie bewußt oder unbewußt ist; so daß man also bloß auf die Momente der Synthese achtet

Verzweiflung gesehen unter der Bestimmung Endlichkeit, Unendlichkeit

Das Selbst ist die bewußte Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, die sich zu sich selbst verhält; deren Aufgabe ist, man selbst zu werden: was nur durch das Verhältnis zu Gott sich verwirklichen läßt. Man selbst werden heißt aber konkret werden. Konkret werden heißt aber weder „endlich werden“ noch „unendlich werden“; denn was konkret werden soll, ist ja eine Synthese. Also muß die Entwicklung darin bestehen, daß man zugleich in Verunendlichung des Selbst von sich selbst sich loslöst und in Verendlichung des Selbst zu sich selbst zurückkommt. Wird das Selbst nicht so es selbst, so ist es verzweifelt; gleichgültig, ob es davon weiß oder nicht. Jedoch ist ein Selbst in jedem Augenblick da es da ist, im Werden; denn als Selbst χατά δύναμν ist es nicht wirklich da, ist es bloß das was entstehen soll. Insofern als das Selbst nicht es selbst wird, ist es nicht es selbst; aber nicht man selbst sein, das ist eben Verzweiflung.

a. Die Verzweiflung der Unendlichkeit besteht in dem Mangel an Endlichkeit

Daß dieses so ist, liegt darin, daß das Selbst eine Synthese (sich gegenseitig aufhebender Momente) ist; weshalb das Eine beständig sein Gegensatz ist. Eine Form der Verzweiflung läßt sich nie direkt (d.h. undialektisch) bestimmen, immer nur dadurch daß man zugleich an ihr Gegenteil denkt. Man kann den Zustand des Verzweifelten in seiner Verzweiflung ja wohl direkt beschreiben, wie es ja der Dichter tut, wenn er dem Verzweifelten Sprache gibt, das Wort zur Replik gibt. Bestimmen aber kann man die Verzweiflung nur durch ihr Gegenteil; und soll ihr Ausdruck dichterischen Wert haben, muß er in seinem Kolorit den Reflex des dialektischen Gegensatzes enthalten. Also ist jede menschliche Existenz die unendlich geworden ist oder es auch nur sein will (ja jeder Augenblick, wo eine menschliche Existenz unendlich geworden ist oder es auch nur sein will) Verzweiflung. Denn das Selbst ist die Synthese, in der das Endliche das Begrenzende, das Unendliche das Ausweitende ist. Die Verzweiflung der Unendlichkeit ist daher das Phantastische, das Grenzenlose; denn nur dann ist das Selbst gesund und frei von Verzweiflung, wenn es, gerade dadurch, daß es verzweifelt hat, sich selbst durchsichtig sich gründet in Gott.

Freilich ist das Phantastische zunächst eine Ausschweifung der Phantasie; aber die Phantasie steht wieder in Beziehung zum Gefühl, zur Erkenntnis, zum Willen, so daß ein Mensch ein phantastisches Gefühl, eine phantastische Erkenntnis, einen phantastischen Willen haben kann. Die Phantasie ist überhaupt das Medium der Verunendlichung; sie ist nicht ein Vermögen wie die andern Vermögen, sie ist, wenn man so will, das Vermögen instar omnium. Wieviel Gefühl, Erkenntnis, Willen jemand hat, beruht doch zu guter Letzt darauf, wieviel Phantasie er hat, darauf nämlich, wie sich sein Fühle, Erkennen, Wollen reflektiert; also auf der Phantasie. Die Phantasie ist die unendlichmachende Reflexion; weshalb der ältere Fichte selbst in Bezug auf die Erkenntnis mit Recht annahm daß die Phantasie der Ursprung der Kategorien sei. Das Selbst ist Reflexion; und die Phantasie ist Reflexion: ist Wiedergabe des Selbst, also die Möglichkeit des Selbst. Die Phantasie ist die Möglichkeit aller Reflexion; ohne Intensität der Phantasie keine Intensität des Selbst.

Das Phantastische ist überhaupt das, was einen Menschen so in das Unendliche hinausführt, daß es ihn nur von sich wegführt und dadurch abhält zu sich selbst zurückzukommen.

Wenn so das Gefühl phantastisch wird, verflüchtigt sich das Selbst immer mehr; es wird zuletzt eine Art abstrakter Gefühligkeit, worin nicht mehr der einzelne wirkliche Mensch den einzelnen wirklichen Menschen menschlich fühlt, sondern der Mensch in abstracto unmenschlich sozusagen an dem Schicksal irgendeines Abstraktums (z.B. der Menschheit) gefühlvoll teilnimmt. Wie der Rheumatische seiner sinnlichen Empfindungen nicht Herr ist, sondern diese vom Wind und Wetter abhängen, so daß er es unwillkürlich an sich merkt wenn eine Luftveränderung usw. eintritt, so bei dem dessen Gefühl phantastisch geworden ist: er wird gewissermaßen unendlich; aber nicht so, daß er mehr und mehr er selbst wird: denn er verliert mehr und mehr sich selbst.

Ebenso bei der Erkenntnis, wenn sie phantastisch wird. Das Gesetz für die Entwicklung des Selbst in Hinsicht auf Erkenntnis ist (wenn das Selbst wirklich es selbst wird): daß der Grad der Erkenntnis dem Grade der Selbsterkenntnis entspricht; daß also das Selbst, je mehr es erkennt, desto mehr sich selbst erkennt. Geschieht dies nicht, so wird die Erkenntnis, je höher sie steigt, desto mehr eine Art unmenschliches Wissen, zu dessen Erwerbung das Selbst des Menschen verschwendet wird: ungefähr wie zum Bauen von Pyramiden Menschen verschwendet wurden; oder wie in jener russischen Blechmusik Menschen dazu verschwendet werden, daß sie nicht mehr noch weniger sind als ein Ton.

Wenn der Wille phantastisch wird, so verflüchtigt sich gleichfalls das Selbst mehr und mehr. Der Wille wird dann nicht im selben Grade konkret wie abstrakt: so daß er über die Endlichkeit sich erhebend sich zugleich auf die Endlichkeit einstellte; also in Vorsatz und Entschluß von sich selbst am weitesten entfernt sich in demselben Augenblick am allernächsten wäre, um den unendlich kleinen Teil der Arbeit auszuführen, der sich noch heute, noch in dieser Stunde, noch in diesem Augenblick ausführen läßt.

Und wenn so das Gefühl oder die Erkenntnis oder der Wille phantastisch geworden ist, so kann zuletzt das ganze Selbst phantastisch werden: entweder in einer mehr aktiven Form (so daß der Mensch sich in das Phantastische stürzt), oder in einer mehr leidenden Form (so daß er von dem Phantastischen hingerissen wird), immer aber unter eigener Verantwortung. Das Selbst führt dann eine phantastische Existenz in abstrakter Unendlichkeit oder in abstrakter Vereinzelung; doch immer seines Selbsts ermangelnd, von dem es sich nur immer weiter entfernt. So z.B. auf religiösem Gebiet. Das Gottesverhältnis macht unendlich; aber dieses Unendlichwerden kann einen Menschen so phantastisch hinreißen daß es bloß ein Rausch wird. Es kann einem Menschen sein, als wäre es nicht zum Aushalten daß man vor Gott da ist: weil er nämlich nicht zu sich zurückkommen, nicht er selbst werden kann. Solch ein phantastisch Religiöser würde sagen (um ihn durch eine Replik zu charakterisieren): „Daß ein Sperling leben kann ist begreiflich: der weiß nicht, daß er vor Gott da ist. Aber zu wissen daß man vor Gott da ist, und dann nicht in demselben Augenblick verrückt oder zu nichts zu werden!“

Wenn ein Mensch aber so phantastisch geworden ist (also verzweifelt ist), kann er doch ganz gut als Mensch, wie es scheint, dahinleben, sich mit dem Zeitlichen beschäftigen, sich verheiraten, Kinder zeugen, in Ehre und Ansehen stehn, und man merkt es vielleicht nicht, daß ihm in tieferem Sinne ein Selbst fehlt. Von so was macht man in der Welt kein großes Aufheben; denn ein Selbst ist das wonach in der Welt am wenigsten gefragt wird, und ist das von dessen Besitz sich etwas merken zu lassen das Allergefährlichste ist. Das wirklich Gefährlichste und Schlimmste (sich selbst zu verlieren) kann in der Welt so still hingehen als wäre es nichts. Kein andrer Verlust kann so still hingehen; daß man einen Arm, ein Bein, fünf Taler, ein Weib usw. verliert, das merkt man doch!

b. Die Verzweiflung der Endlichkeit besteht in dem Mangel an Unendlichkeit

Daß sich dieses so verhält liegt (wie wir unter a nachwiesen) darin, daß das Selbst eine Synthese (sich gegenseitig aufhebender Momente) ist; weshalb das Eine sein Gegensatz ist.

Mangel an Unendlichkeit ist verzweifelte Begrenztheit, Borniertheit. Dabei ist natürlich nur im ethischen Sinn von Borniertheit und Beschränktheit die Rede. In der Welt redet man eigentlich nur von intellektueller oder ästhetischer Beschränktheit: von dem Gleichgültigen also, von dem ja in der Welt immer am meisten die Rede ist; denn das ist ja eben Weltlichkeit, dem Gleichgültigen unendlichen Wert beilegen. Die weltliche Betrachtung klammert sich immer an die Unterschiede zwischen Mensch und Mensch, hat also natürlich für das eine Notwendige kein Verständnis (das wäre ja Geist), und daher auch kein Verständnis dafür, daß es Beschränktheit, Borniertheit ist, sich selbst verloren zu haben, nicht durch Verflüchtigung ins Unendliche, sondern dadurch, daß man ganz endlich und (statt ein Selbst) eine Zahl, ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr in diesem ewigen Einerlei geworden ist.

Die verzweifelte Borniertheit ist Mangel an Primitivität; oder daß man sich seiner Primitivität beraubt, sich in geistigem Sinn selbst entmannt hat. Jeder Mensch ist nämlich primitiv angelegt, als ein Selbst mit der Bestimmung er selbst zu werden. Nun ist freilich jedes Selbst als solches eckig; aber daraus folgt bloß daß es zugeschliffen, nicht daß es abgeschliffen werden soll. Der Mensch soll es nicht aus Menschenfurcht aufgeben er selbst zu sein: in seiner wesentlichen Zufälligkeit, in welcher er eben selbst ist für sich selbst. Während man nun in einer Art von Verzweiflung sich in das Unendliche verirrt und so sich selbst verliert, läßt man sich in einer anderen Art von Verzweiflung gleichsam sein Selbst von „den andern“ ablocken. Indem ein solcher Mensch die Menge Menschen um sich sieht, und mit allerhand weltlichen Dingen zu tun bekommt, und sich darauf verstehen lernt wie es in der Welt zugeht, vergißt er sich selbst, wagt nicht sich auf sich selbst zu verlassen, findet es viel leichter und sicherer wie die andern zu sein; und so wird er, statt er selbst, eine Nummer mit in der Menge.

Auf diese Form der Verzweiflung wird man in der Welt so gut wie gar nicht aufmerksam. Denn wer so sich selbst aufgibt, gewinnt dadurch gerade die Möglichkeit sein Glück in der Welt zu machen. Ihm bereitet sein Selbst und dessen Streben nach Unendlichkeit keine Schwierigkeit; er ist abgeschliffen wie ein Kieselstein, kurant wie eine gangbare Münze. Für verzweifelt hält man ihn so wenig, daß er gerade für einen Menschen gilt wie sich’s gehört. Welt hat überhaupt (wie sich von selbst versteht) für das wahrhaft Schreckliche kein Verständnis. Eine Verzweiflung die nicht nur keine Ungelegenheit im Leben verursacht, sondern einem das Leben bequem und behaglich macht, wird natürlich durchaus nicht als Verzweiflung angesehen. Das sieht man unter anderem auch beinahe aus allen Sprichwörtern, die ja zumeist nur Klugheitsregeln sind. So sagt man, daß man zehnmal bereue geredet zu haben, für einmal wo man geschwiegen hat; und warum? Weil das Reden als ein Hinaustreten in die Wirklichkeit in Unbehaglichkeiten verwickeln kann. Aber geschwiegen zu haben! Und doch ist dies das Allergefährlichste. Denn im Schweigen bleibt der Mensch sich selbst überlassen; da kommt ihm die Wirklichkeit nicht zu Hilfe, indem sie ihn strafte, indem sie die Folgen seiner Rede über ihn brächte. Nein, insofern bringt das Schweigen keine Gefahr. Wer aber weiß was das Schreckliche ist, fürchtet am meisten gerade jede Sünde die ihre Richtung nach innen nimmt und keine Spur im Äußeren hinterläßt. So ist es in den Augen der Welt gefährlich zu wagen, und warum? Weil man dabei verlieren kann. Aber nicht wagen, das ist klug! Und doch kann man, wenn man nicht wagt, so schrecklich leicht gerade das verlieren, was man wagend doch schwerlich verliert (wieviel man auch verlieren mag), und auf jeden Fall nicht so, nicht so leicht, so ganz als wäre es nichts verliert, nämlich sich selbst. Habe ich verkehrt gewagt, nun wohl, so hilft mir das Leben mit Strafe. Habe ich aber gar nicht gewagt, wer hilft mir dann? Und wenn ich dadurch daß ich im höchsten Sinne nicht wage, statt auf mich selbst aufmerksam zu werden feige alle irdischen Vorteile gewinne?

Und so ist es gerade mit der Verzweiflung der Endlichkeit. Ist ein Mensch so verzweifelt, darum kann er doch ganz gut (und eigentlich gerade desto besser) in der Zeitlichkeit dahinleben, mit allen Aufgaben der Zeitlichkeit beschäftigt, von andern gepriesen, angesehen und geehrt, ein volles, glückliches Menschenleben, wie es scheint. Was man die Welt nennt besteht aus lauter solchen Menschen, die sich, sozusagen, der Welt verschreiben. Sie gebrauchen ihre Gaben, treiben weltliche Geschäfte, berechnen klug, sammeln Geld usw. usw., werden vielleicht sogar in der Geschichte genannt, aber sie selbst sind sie nicht, ein Selbst im geistigen Sinn haben sie nicht: ein Selbst um dessentwillen sie alles wagen könnten, ein Selbst vor Gott, wie selbstisch sie sonst auch sein mögen.

b. Verzweiflung unter der Bestimmung: Möglichkeit, Notwendigkeit

Um zu werden (und das Selbst soll ja es selbst werden), sind Möglichkeit und Notwendigkeit gleich wesentlich. Wie zum Selbst Unendlichkeit und Endlichkeit gehört, so auch Möglichkeit und Notwendigkeit. Ein Selbst das keine Möglichkeit hat ist verzweifelt; und ein Selbst das keine Notwendigkeit hat ist ebenfalls verzweifelt.

α. Die Verzweiflung der Möglichkeit besteht in dem Mangel an Notwendigkeit

Daß sich dieses so verhält liegt, wie wir nachwiesen, am Dialektischen.

Wie die Unendlichkeit durch die Endlichkeit begrenzt wird, so wird die Möglichkeit durch die Notwendigkeit gehemmt. Ist das Selbst als Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit χατά δύναμν gesetzt um zu werden, so reflektiert es sich im Medium der Phantasie als unendliche Möglichkeit. Es soll aber doch „es selbst“ werden: soll das Selbst werden, als das es gesetzt ist. Als Selbst, das es selbst werden soll, ist es in der freien Möglichkeit des Werdens an die Notwendigkeit gebunden, zu werden, was es ist. wie es eine Möglichkeit ist, so ist es auch eine Notwendigkeit.

Läuft nun die Möglichkeit die Notwendigkeit über den Haufen, so daß das Selbst in der Möglichkeit von sich selbst wegläuft, ohne eine Notwendigkeit zu der es zurück soll: so ist dies die Verzweiflung der Möglichkeit. Das Selbst wird eine abstrakte Möglichkeit; es zappelt sich in Möglichkeiten müde, kommt aber nicht von der Stelle und auch nicht zu der Stelle. Das Notwendige eben ist die Stelle, auf der das Selbst es selbst werden soll und auch allein werden kann.

Dem Selbst ohne Notwendigkeit erweitert sich der Bereich der Möglichkeit mehr und mehr, weil nichts wirklich wird. Zuletzt ist es als wäre alles möglich; zuletzt, wenn der Abgrund das Selbst verschlungen hat. Jede kleine Möglichkeit würde um Wirklichkeit zu werden etwas Zeit brauchen. Aber zuletzt wird die Zeit für die Verwirklichung der Möglichkeit kürzer und kürzer; alles wird immer mehr Sache des Augenblicks. Die Möglichkeit wird immer intensiver, im Sinn der Möglichkeit, nicht im Sinn der Wirklichkeit; denn im Sinn der Wirklichkeit ist das Intensive: daß von dem was möglich ist doch etwas wirklich wird. Da zeigt sich etwas als möglich; und dann zeigt sich eine neue Möglichkeit; und zuletzt folgen diese Phantasmagorien so hurtig aufeinander, daß es ist als wäre alles möglich, und das ist gerade der letzte Augenblick, wo das Individuum selbst eine bloße Möglichkeit zu allem Möglichen geworden ist.

Was dem Selbst nun fehlt ist freilich Wirklichkeit; so sagt man ja auch daß ein Mensch unwirklich geworden sei. Aber bei genauerem Nachsehen fehlt ihm eigentlich die Notwendigkeit. Es ist nämlich nicht so, wie die Philosophen erklären, daß die Notwendigkeit die Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit wäre; nein, die Wirklichkeit ist die Einheit von Möglichkeit und Notwendigkeit.

Es ist auch nicht bloß ein Mangel an Kraft, wenn sich sein Selbst so in dem Bereich der Möglichkeit verläuft; wenigstens ist der Mangel an Kraft, der allerdings vorliegt, nicht so zu verstehen wie es gewöhnlich geschieht. Was fehlt, ist die Kraft zu gehorchen, sich unter die im eignen Selbst liegende Notwendigkeit (die eigne Grenze) zu beugen. Das Unglück ist daher auch nicht daß ein solcher Mensch nichts in der Welt wurde; nein, das Unglück ist, daß er nicht auf sich selbst aufmerksam wurde (darauf, daß sein Selbst ein ganz bestimmtes Etwas und also das Notwendigste ist). Das Unglück ist daß er sich selbst verlor, indem sich sein Selbst phantastisch in dem Spiegel der Möglichkeit reflektierte. Der Spiegel der Möglichkeit muß mit der äußersten Vorsicht gebraucht werden. Denn von diesem Spiegel gilt im höchsten Sinn daß er unwahr ist. Daß ein Selbst in der Möglichkeit seiner selbst so und so aussieht, ist nur die halbe Wahrheit; denn in der Möglichkeit seiner selbst ist das Selbst nur halb es selbst. Es kommt darauf an, in welcher Möglichkeit das Selbst sich verwirklichen wird; und das bestimmt das Es-selbst, als das das Selbst gesetzt ist: die Notwendigkeit dieses Selbsts.

Doch in der Möglichkeit ist alles möglich. Daher kann man sich in der Möglichkeit auf alle möglichen Weisen verlaufen; doch immer entweder in Sehnsucht oder in Angst. Die Sage erzählt von einem Ritter, der plötzlich einen wunderschönen Vogel erblickt. Der Vogel scheint erst so nahe daß der Ritter ihn greifen zu können glaubt. Dann fliegt der Vogel eine Strecke fort, und der Ritter läuft ihm nach. Und so geht es weiter, bis der Ritter in eine Wildnis verlockt ist aus der er den Rückweg nicht mehr finden kann. Dies die Geschichte dessen der in sehnsüchtigem Hoffen sich selbst verliert: er läuft der Möglichkeit nach, ohne sich Schritt für Schritt auf die Notwendigkeit seiner selbst zu besinnen, bis er sich nicht mehr zu sich selbst zurückzufinden vermag. In der Schwermut geschieht dasselbe, nur in entgegengesetzter Richtung. Da läßt sich ein Mensch von einer ängstenden Möglichkeit immer weiter weglocken von sich selbst, hinaus in das grenzenlose Gebiet des abstrakt Möglichen, bis er endlich in der Angst überhaupt versinkt, oder gerade in das sich stürzt wovor ihm graute.

β. Die Verzweiflung der Notwendigkeit besteht in dem Mangel an Möglichkeit

Wenn eine menschliche Existenz dahin gebracht ist daß ihr Möglichkeit fehlt, so ist sie verzweifelt; und ist es in jedem Augenblick wo ihr Möglichkeit fehlt.

Gewöhnlich meint man, daß ein gewisses Alter besonders reich an Hoffnung sei; oder man redet davon, daß man zu einer gewissen Zeit seines Lebens so reich an Hoffnung, an Möglichkeit gewesen sei. All dies ist doch bloß menschliche Rede, die nicht bis zum Wahren kommt; dies Hoffen ist noch nicht das wahre Hoffen, an diesem Hoffen verzweifeln noch nicht das wahre Verzweifeln.

Das Entscheidende ist: für Gott ist alles möglich. Dies ist ewig wahr, und also in jedem Augenblick wahr. Man sagt wohl so weil man so sagt; aber Ernst wird es damit doch erst dann, wenn der Mensch bis zum Äußersten gebracht ist, so daß es für ihn (menschlich gesprochen) keine Möglichkeit mehr gibt. Da gilt es, ob er glauben will, daß für Gott alles möglich ist; das heißt: ob er glauben will. Aber ist das nicht ganz um den Verstand darüber zu verlieren? Gewiß! Glauben bedeutet eben: den Verstand verlieren, um Gott zu gewinnen.

Denke dir einen Menschen, der sich mit dem ganzen Grauen einer erschreckten Einbildungskraft irgend etwas Schreckliches als unbedingt nicht auszuhalten vorgestellt hat. Nun begegnet es ihm; gerade dies Schreckliche begegnet ihm. Menschlich gesprochen ist sein Untergang das Allergewisseste, und verzweifelt kämpft die Verzweiflung seiner Seele um die Erlaubnis zu verzweifeln, um Ruhe (wenn man so will) zum Verzweifeln, um die Zustimmung der ganzen Persönlichkeit zum und beim Verzweifeln: so daß er nichts leidenschaftlicher verwünschen würde als den Versuch ihn am Verzweifeln zu hindern. „Verwünscht sei, wer mich ablenkt von dem bequemen Wege zur Verzweiflung!“ läßt der Dichter seinen unglücklichen Helden ausrufen (Richard II., 3. Akt, 2 Szene). So ist also, menschlich gesprochen, Rettung das Unmöglichste von allem; für Gott aber ist alles möglich! Dies ist der Kampf des Glaubens, ein, wenn man so will, wahnsinniger Kampf um Möglichkeit. Denn Möglichkeit ist das allein Rettende. Wenn einer ohnmächtig wird, so ruft man nach Wasser, Eau de Cologne oder Hoffmannstropfen; wenn aber einer verzweifeln will, so heißt es: „Schaffe Möglichkeit! schaffe Möglichkeit! Möglichkeit ist das einzig Rettende.“ Eine Möglichkeit! dann atmet der Verzweifelnde wieder, lebt wieder auf; ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam keine Luft bekommen. Zuweilen kann da wohl die Erfindsamkeit menschlicher Phantasie ausreichen, Möglichkeit zu schaffen; zuletzt aber hilft nur dies, daß für Gott alles möglich ist. Und dann erst handelt es sich um Glauben.

So wird da gekämpft. Ob der so Kämpfende untergehen wird, beruft einzig und allein darauf, ob er Möglichkeit schaffen, d.h. ob er glauben wird. Und doch versteht er, daß menschlich gesprochen sein Untergang das Allergewisseste ist. Dies ist das Dialektische im Glauben. Gewöhnlich weiß ein Mensch nichts andres als daß ihm dies und das hoffentlich, vermutlich usw. nicht begegnen werde. Begegnet es ihm dann doch, so geht er unter. Der Dummdreiste fordert gefährliche Möglichkeiten heraus, deren Verwirklichung er im Geiste doch nicht erwartet; treten sie dann wirklich ein, so verzweifelt er und geht unter. Der Glaubende versteht, daß was ihm droht oder was er wagt nach menschlicher Berechnung sein Untergang sein muß; aber er glaubt. Er stellt es ganz Gott anheim wie ihm geholfen werden wird; aber er glaubt daß für Gott alles möglich ist. Seinen Untergang glauben ist ein Widersinn. Geglaubt wird nur an die Möglichkeit der Hilfe; und geglaubt im strengen Sinn wird nur, wo der Mensch eine Möglichkeit der Hilfe nicht mehr entdecken kann. Dann hilft ihm Gott auch; vielleicht indem er ihm das Schreckliche erspart; vielleicht im Schrecklichen selbst durch eine unerwartete, wunderbare Hilfe. Eine wunderbare! denn das ist doch eine besondere Ziererei, daß nur vor 1800 Jahren Menschen wunderbar geholfen worden sei. Ob einem Menschen wunderbar geholfen worden ist, beruht wesentlich darauf, mit welcher Leidenschaft des Verstandes er verstanden hat, daß Hilfe unmöglich war; und weiter darauf, wie redlich er dann gegen die Macht ist die ihm dennoch half. Aber in der Regel tun die Menschen weder das eine noch das andere; sie schreien daß Hilfe unmöglich sei, ohne ihren Verstand angestrengt zu haben Hilfe zu finden; und hinterher wollen sie es undankbar nicht Wort haben, daß sie Hilfe für unmöglich hielten, ihnen also wunderbar geholfen worden sei.

Der Glaubende besitzt das ewig sichere Gegengift gegen Verzweiflung: Möglichkeit; denn für Gott ist in jedem Augenblick alles möglich. Dies ist die Gesundheit des Glaubens. Gesundheit ist das Vermögen Widersprüche zu lösen. So leibliche oder physisch. Zug ist ein Widerspruch, denn Zug ist disparate oder undialektische Kälte und Wärme; aber ein gesunder Körper löst diesen Widerspruch und merkt meinen Zug. so auch mit dem Glauben. Er löst den Widerspruch, daß der Untergang gewiß ist und dann doch Möglichkeit da ist.

Das Fehlen der Möglichkeit bedeutet entweder daß alles notwendig, oder daß alles Trivialität geworden ist.

Der Determinist, der Fatalist ist verzweifelt und hat als Verzweifelter sein Selbst verloren, weil für ihn alles Notwendigkeit ist. Die Persönlichkeit ist eine Synthese von Möglichkeit und Notwendigkeit. Sie kann daher in der bloßen Notwendigkeit so wenig leben wie in der bloßen Möglichkeit. In dieser verdampft sie sozusagen; in jener gefriert sie., Der Determinist, der Fatalist ist verzweifelt, hat Gott verloren, und hat so sein Selbst verloren: wer keinen Gott hat, hat auch kein Selbst. Der Fatalist aber hat keinen Gott. Für Gott ist alles möglich: also ist Gott für den Menschen das, daß alles möglich ist. Für den Fatalisten ist alles notwendig. Sein Gott ist Notwendigkeit; das heißt: er hat keinen Gott. Daher ist der Gottesdienst des Fatalisten höchstens eine Interjektion, wesentlich aber stumme Unterwerfung. Der Fatalist kann nicht beten. Beten ist ein Atmen; und die Möglichkeit ist für das Selbst was der Sauerstoff für das Atmen ist. So wenig aber ein Mensch nur Sauerstoff oder nur Stickstoff atmen kann, so wenig kann Möglichkeit allein oder Notwendigkeit allein den Atemzug des Gebets bewirken. Zum Beten gehört ein Gott, ein Selbst, und Möglichkeit; oder ein Selbst und Möglichkeit in prägnantem Sinn. Denn Gott bedeutet, daß alles möglich ist; oder daß alles möglich ist, bedeutet Gott; und nur der, dessen Wesen so erschüttert wurde daß er Geist wurde, indem er verstand daß alles möglich ist, nur der hat sich mit Gott eingelassen. Dies, daß Gottes Wille das Mögliche ist, macht daß ich beten kann; ist er nur das Notwendige, so ist der Mensch wesentlich ebenso sprachlos wie das Tier.

Auf der Spießbürgerlichkeit, der Trivialität fehlt wesentlich die Möglichkeit; doch steht es mit ihr etwas anders. Spießbürgerlichkeit ist Geistlosigkeit, Determinismus und Fatalismus ist Geistes-Verzweiflung; aber Geistlosigkeit ist auch Verzweiflung. Die Spießbürgerlichkeit geht im Wahrscheinlichen auf, in welchem das Mögliche auch sein bißchen Platz findet; aber daß alles (auch das Unwahrscheinliche, das Unmögliche) möglich sei, das kommt ihr nicht in den Sinn, und so wird sie auch nicht aufmerksam auf Gott. Ohne Phantasie, wie der Spießbürger immer ist (er sei Bierwirt oder Staatsminister), lebt er in einem gewissen trivialen Inbegriff von Erfahrungen: wie es zugehe; was möglich sei; was zu geschehen pflege. So hat er sich selbst und Gott verloren. Denn daß der Mensch auf sein Selbst und auf Gott aufmerksam werde, dazu muß die Phantasie ihn höher hinauftreiben als bis zum Dunstkreis des Wahrscheinlichen, muß ihn aus diesem herausreißen, und ihn, indem sie möglich macht was das quantum satis aller Erfahrung überschreiet, hoffen und fürchten oder fürchten und hoffen lehren. Aber Phantasie hat der Spießbürger nicht und will er nicht haben; sie ist ihm nur als phantastisch zum Ärgernis und kann ihn also nichts lehren. Hilft denn das Dasein mit Schrecken nach die die Papageienweisheit der trivialen Erfahrung überschreien, so verzweifelt die Spießbürgerlichkeit; das heißt: so wird offenbar daß sie Verzweiflung war. Ihr fehlt dann die Möglichkeit des Glaubens, um durch Gott ein Selbst aus dem gewissen Untergang retten zu können.

Fatalismus und Determinismus haben doch Phantasie genug an der Möglichkeit zu verzweifeln, Möglichkeit genug die Unmöglichkeit zu entdecken; die Spießbürgerlichkeit beruhigt sich in dem Trivialen, gleich verzweifelt ob es gut oder schlimm geht. Dem Fatalismus und Determinismus fehlt Möglichkeit zum Abspannen, zum Temperieren der Notwendigkeit, also Möglichkeit als Milderung; der Spießbürgerlichkeit fehlt Möglichkeit als Aufweckung. Denn die Spießbürgerlichkeit meint die Möglichkeit in die Falle oder das Irrenhaus der Wahrscheinlichkeit hineingelockt zu haben, führt sie im Käfig der Wahrscheinlichkeit gefangen herum, zeigt sie vor, bildet sich ein über ihre ungeheure Spannkraft frei verfügen zu können, und merkt nicht, daß sie dadurch nur sich selbst gefangen hat, um ein Sklave der Geistlosigkeit zu sein und das Erbärmlichste von allem. Mit der Dreistigkeit der Verzweiflung überfliegt die Wirklichkeit, wer die Notwendigkeit verlor; in dumpfer Verzweiflung verhebt sich an der Wirklichkeit, wer die Möglichkeit verlor; der Spießbürger feiert selbstzufrieden, ohne Notwendigkeit und ohne Möglichkeit, den Triumph der Geistlosigkeit.

B. Verzweiflung unter der Bestimmung: Bewußtsein

Der Grad des Bewußtseins ist sozusagen der Exponent der Potenz der Verzweiflung: je mehr Bewußtsein, desto intensiver die Verzweiflung. .Dies zeigt sich überall, am deutlichsten im Maximum und Minimum der Verzweiflung. die Verzweiflung des Teufels ist die intensivste Verzweiflung, denn der Teufel ist nur Geist und insofern absolutes Bewußtsein, ohne eine Dunkelheit die zu mildernder Entschuldigung dienen könnte; daher ist seine Verzweiflung der absolute Trotz. Dies ist das Maximum der Verzweiflung. Das Minimum der Verzweiflung ist ein Zustand, der (ja man könnte sich menschlich versucht fühlen, so zu reden) in einer Art Unschuld nicht einmal weiß daß er Verzweiflung ist, fällt also zusammen mit dem Minimum von Bewußtsein. Da kann es dem Beobachter sogar fraglich werden, ob er überhaupt recht daran tut einen solchen zustand Verzweiflung zu nennen.

a. Die Verzweiflung die nicht weiß daß sie Verzweiflung ist; oder die verzweifelte Unwissenheit um das, daß man ein Selbst hat und ein ewiges Selbst

Daß dieser Zustand gleichwohl Verzweiflung ist und mit Recht so genannt wird, ist ein Ausdruck für das, was man im guten Sinne die Rechthaberei der Wahrheit nennen kann. Veritas est index sui et falsi. Aber auf diese Rechthaberei der Wahrheit achtet man freilich nicht; wie ja die Menschen im allgemeinen daß sie ein Verhältnis zum Wahren haben durchaus nicht für das höchste Gut ansehen, so daß sie es sokratisch für das größte Unglück hielten in einem Irrtum befangen zu sein. Das Sinnliche hat bei ihnen meistens weitaus das Übergewicht über ihre Intellektualität. Wenn so ein Mensch glücklich zu sein sich einbildet, während er doch im Licht der Wahrheit betrachtet unglücklich ist, so wünscht er meistens durchaus nicht aus diesem Irrtum gerissen zu werden. Er wird im Gegenteil erbittert; er sieht in dem Angriff auf seinen Wahn nur ein Attentat auf sein Glück, in dem Angreifer seinen ärgsten Feind. Woher kommt das? Es kommt daher, daß ihnen das Sinnliche und das Sinnlich-Seelische ganz beherrscht; es kommt daher, daß er in den Kategorien des Sinnlichen, dem Angenehmen und Unangenehmen, lebt und dem Geist, der Wahrheit und dergleichen Lebewohl sagt; es kommt daher, daß er zu sinnlich ist, um es zu wagen und auszuhalten Geist zu sein.

Wie eitel und eingebildet auch die Menschen sein können, so haben sie doch meist eine sehr geringe Vorstellung von sich selbst: haben keine Vorstellung davon, daß sie Geist sind, oder das Absolute sind (wie der Mensch es eben sein kann); sondern eitel und eingebildet sind sie, vergleichsweise. Ein Haus, bestehend aus Kellerwohnung, Parterre und erstem Stock, sei so bewohnt oder so eingerichtet daß zwischen den Bewohnern jeder Etage ein Standesunterschied wäre oder sein sollte; und das Wesen des Menschen sei einem solchen Hause zu vergleichen: so trifft leider bei den meisten Menschen das Traurige oder Lächerliche zu, daß sie in ihrem eigenen Hause am liebsten im Keller wohnen. Jeder Mensch ist als seelisch-leibliche Synthese darauf angelegt Geist zu sein: dies ist der Bau; aber er zieht es vor im Keller zu wohnen, d.h. in den Bestimmungen der Sinnlichkeit. Und er zieht es nicht bloß vor im Keller zu wohnen, nein, er liebt das in dem Grade, daß er erbittert wird wenn ihm jemand vorschlägt die Beletage einzunehmen, die leer zu seiner Disposition steht, es ist ja sein eigenes Haus, in dem er wohnt.

Nein, in einem Irrtum zu sein fürchten die Menschen, ganz unsokratisch, am allerwenigsten. Man kann erstaunliche Beispiele sehen, die dies in einem ungeheuren Maße zeigen. Ein Denker führt einen gewaltigen Bau auf, ein System, ein das ganze Dasein und die Weltgeschichte usw. umfassendes System, und betrachtet man sein persönliches Leben, so entdeckt man zu seinem Erstaunen dies Schreckliche und Lächerliche, daß er selbst diesen ungeheuren, hochgewölbten Palast nicht persönlich bewohnt, sondern die Hundehütte oder ein beiseiteliegendes Wirtschaftsgebäude oder höchstens die Portierstube. Würde man sich erlauben ihn mit einem einzigen Wort auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen, so würde er beleidigt werden. Denn in einem Irrtum zu sein fürchtet er nicht, wenn er bloß das System fertig bekommt, mit Hilfe dessen daß er in einem Irrtum ist.

Daß also der Verzweifelte davon selbst nichts weiß daß sein Zustand Verzweiflung ist, tut nichts zur Sache; er ist gleichwohl verzweifelt. Was er vor dem bewußt Verzweifelten voraus hat, ist nur daß er zugleich in einem Irrtum ist. Und mag er sich darin noch so wohl befinden: in Wahrheit ist er von der rettenden Wahrheit nur noch einen Schritt weiter entfernt als der bewußt Verzweifelte. Um gerettet zu werden muß er ja erst zu der Erkenntnis kommen daß er in Verzweiflung ist. Andrerseits ist der bewußt Verzweifelte, wenn er um seine Verzweiflung wissend in der Verzweiflung bleibt, von der Rettung ferner, da seine Verzweiflung intensiver ist. Die Unwissenheit hebt aber so wenig die Verzweiflung auf oder macht sie zur Nichtverzweiflung, daß sie im Gegenteil die gefährlichste Form der Verzweiflung sein kann. In der Unwissenheit ist der Verzweifelte, aber zu seinem eignen Verderben, gewissermaßen dagegen gesichert aufmerksam zu werden, ist also ganz sicher in der Gewalt der Verzweiflung.

In dem Nicht-Wissen um seine Verzweiflung ist der Mensch am weitesten davon entfernt, seiner selbst als Geist bewußt zu sein. Aber eben das, seiner nicht als Geist bewußt sein, ist Verzweiflung, ist Geistlosigkeit; mag nun der Zustand im Übrigen vollständige Abgestorbenheit sein oder ein bloß vegetierendes Leben der ein potenziertes Leben, dessen Geheimnis doch auch Verzweiflung ist. Da geht es dem Verzweifelten wie dem Auszehrenden: gerade dann befindet er sich am besten, kommt er sich am allergesündesten vor, scheint er vielleicht auch anderen vor Gesundheit zu blühen, gerade dann, wenn die Krankheit am gefährlichsten ist.

Diese Form der Verzweiflung (daß man ohne es zu wissen verzweifelt ist) ist in der Welt die allgemeinste; ja was man die Welt nennt (oder genauer, was das Christentum die Welt nennt: das Heidentum und der natürliche Mensch in der Christenheit; das Heidentum außerhalb und innerhalb der Christenheit) ist gerade eine derartige Verzweiflung; ist Verzweiflung in der man sich nur nicht als verzweifelt weiß. Zwar macht auch das Heidentum wie der natürliche Mensch in der Christenheit einen Unterschied zwischen verzweifelten und nicht-verzweifelten Menschen. Aber diese Unterscheidung ist ebenso trügerisch wie die, die das Heidentum und der natürliche Mensch in der Christenheit zwischen Liebe und Eigenliebe macht. Auch diese „Liebe“ ist wesentlich Eigenliebe. Doch weiter als zu dieser trügerischen Unterscheidung konnte und kann das Heidentum und der natürliche Mensch unmöglich kommen; denn das Eigentümliche seiner Verzweiflung ist eben dies, daß er nicht weiß daß er verzweifelt ist.

Hieraus ersieht man leicht, daß was Verzweiflung ist nicht nach dem ästhetischen Begriff von Geist, Geistreichtum, Geistlosigkeit zu beurteilen ist. Das ist übrigens ganz in der Ordnung. Da es sich ästhetisch nicht bestimmen läßt was in Wahrheit Geist ist, wie sollte da das Ästhetische eine Frage beantworten können die für das Ästhetische gar nicht da ist? Im ästhetischen Sinn aber ist dem Heiden und dem natürlichen Menschen in der Christenheit Geist durchaus nicht abzusprechen. Es wäre ja eine ungeheure Dummheit, wenn man leugnen wollte daß sowohl heidnische Nationen en masse als auch einzelne Heiden erstaunliche Taten vollbracht haben, welche die Dichter begeistert haben und begeistern werden; wenn man leugnen wollte, daß das Heidentum Beispiele von dem aufweist was man ästhetisch nicht genug bewundern kann. Auch wäre es eine Torheit, zu leugnen daß ein am größten ästhetischen Genuß reiches Leben im Heidentum geführt worden ist und von dem natürlichen Menschen unter uns geführt werden kann; ein Leben, das jede sich bietende Begünstigung auf die geschmackvollste Weise benutzt und sogar Kunst und Wissenschaft dazu dienen läßt, den Genuß zu erhöhen, zu verschönern, zu veredeln. Und doch ist der Heide und natürliche Mensch verzweifelt: nicht weil er keinen Geist hätte (Geistlosigkeit im ästhetischen Sinn), sondern weil er nicht Geist ist (Geistlosigkeit im sittlich-religiösen Sinn). Jede menschliche Existenz die sich nicht als Geist weiß, vor Gott persönlich als Geist weiß; jede menschliche Existenz die sich nicht durchsichtig auf Gott gründet, sondern dunkel in etwas abstrakt Universellem (Staat, Nation usw.) ruht oder aufgeht und in Dunkelheit über ihr Selbst ihre Gaben nur als Kräfte zum Wirken nimmt, ohne sich in tieferem Sinn bewußt zu werden woher sie sie hat, und ihr Selbst als ein unerklärliches Etwas nimmt während es nach innen verstanden werden sollte, jede solche Existenz, was sie auch ausrichten mag (ob das Allererstaunlichste), was sie auch erklären mag (ob das ganze Dasein), wie intensiv sie auch das Leben ästhetisch genießen mag: jede solche Existenz ist doch Verzweiflung. Dies meinten die alten Lehrer der Kirche, wenn sie davon sprachen daß die Tugenden der Heiden glänzende Laster seien; sie meinten, daß das Innerste der Heiden Verzweiflung sei, daß der Heide sich nicht vor Gott als Geist wisse. Daher kommt es auch (um dies hier nur als ein Beispiel anzuführen, während es doch zugleich eine tiefere Beziehung zu dieser ganzen Untersuchung hat), daß der Heide so merkwürdig leichtsinnig über den Selbstmord urteilte, ja ihn anpries, während es doch die entschiedenste Sünde ist (Aufruhr gegen Gott), so aus dem Dasein auszubrechen. Dem Heiden fehlte die geistige Bestimmung eines Selbst: darum urteilte er so über den Selbstmord; und darum tat das derselbe Heide, der über Diebstahl, Unzucht u. dgl. sittlich streng urteilte. Für Selbstmord fehlte ihm der Gesichtspunkt: das Gottesverhältnis und das Selbst. Rein heidnisch gedacht ist der Selbstmord etwas Gleichgültiges; etwas was jeder tun kann wie es ihm beliebt, weil es niemand etwas angeht. Sollte vom Standpunkt des Heidentums aus vor Selbstmord gewarnt werden, so müßte das auf dem weiten Umwege geschehen, daß man zeigte, es werde durch den Selbstmord das Pflichtverhältnis gegen andere Menschen gebrochen. Die Pointe beim Selbstmord, daß er ein Verbrechen gegen Gott ist, entgeht dem Heiden ganz und gar. Daher kann man nicht sagen, daß sein Selbstmord Verzweiflung sei (was ein gedankenloses Hysteron-Proteron sein würde); man muß sagen: daß der Heide so, wie er tat, über den Selbstmord urteilt, das ist Verzweiflung.

Indessen ist und bleibt doch zwischen dem Heidentum im engeren Sinn und dem Heidentum in der Christenheit ein Unterschied, und zwar ein qualitativer; der Unterschied, auf den Vigilius Haufniensis beim Begriff der Angst aufmerksam gemacht hat: daß jenes in seiner Geistlosigkeit sich auf den Geist hin bewegt, dieses vom Geist weg. Das Heidentum in der Christenheit ist Abfall vom Geist und daher im strengsten Sinne Geistlosigkeit.

b. Die Verzweiflung, die weiß daß sie Verzweiflung ist: wo man sich also bewußt ist ein Selbst (und damit doch etwas Ewiges) zu haben, und nun entweder verzweifelt nicht man selbst sein will oder verzweifelt man selbst sein will

Hier muß natürlich unterschieden werden, ob der der von seiner Verzweiflung weiß, die wahre Vorstellung von Verzweiflung hat oder nicht. So kann einer nach der Vorstellung die er hat sich mit Recht verzweifelt nennen (und dann hat er immer auch darin recht daß er verzweifelt ist); aber er weiß dann vielleicht doch nicht wie verzweifelt er ist, weil er nicht die wahre Vorstellung von Verzweiflung hat. Wenn man sein Leben unter dieser wahren Vorstellung von Verzweiflung betrachtet, müßte man ihm vielleicht sagen: du bist im Grunde noch viel mehr verzweifelt als du meinst; deine Verzweiflung steckt noch viel tiefer. So steht es, um an das vorige u erinnern, mit dem Heiden. Wenn er im Vergleich mit anderen Heiden sich selbst für verzweifelt ansah, so hatte er freilich darin recht daß er verzweifelt sei, aber darin unrecht daß die anderen nicht verzweifelt seien: er hatte nicht die wahre Vorstellung von Verzweiflung.

Zu bewußter Verzweiflung gehört also einerseits die wahre Vorstellung davon was Verzweiflung ist, andrerseits Klarheit über sich selbst, soweit nämlich Klarheit und Verzweiflung zusammengedacht werden können. Wie weit vollständige Klarheit über sich selbst (darüber nämlich, daß man verzweifelt ist) sich mit Verzweiflung vereinigen läßt; ob also diese Klarheit der Erkenntnis und Selbsterkenntnis einen Menschen nicht gerade aus der Verzweiflung herausreißen, ihn so vor sich erschrecken lassen muß daß er aufhört verzweifelt zu sein: das wollen und können wir hier noch nicht entscheiden. Ohne aber den Gedanken bis zu dieser dialektischen Spitze zu verfolgen, machen wir jetzt schon darauf aufmerksam, daß wie der Grad der Vorstellung von der Verzweiflung sehr verschieden sein kann, so auch der Grad des Bewußtseins daß man in Verzweiflung ist. Das Leben ist zu mannigfaltig, um sich bloß in solchen abstrakten Gegensätzen zu bewegen wie dem zwischen einer unbewußten und einer bewußten Verzweiflung. Meistens lebt der Verzweifelte in einem gewissen, so oder so nuancierten halbdunkel über seinen eigenen Zustand. Er weiß wohl bis zu einem gewissen Grade bei sich selbst, daß er verzweifelt ist; er merkt es an sich selbst, wie einer an sich merkt daß er eine Krankheit in sich trägt. Aber wie dieser will er sich oft nicht recht zugeben, was ihm eigentlich fehlt. In dem einen Augenblick ist es ihm beinahe klar daß er verzweifelt ist; in einem anderen Augenblick aber ist es ihm doch, als hätte sein Übelbefinden einen anderen Grund, in etwas außer ihm: so daß er, wenn nur dies geändert würde, nicht verzweifelt wäre. Oder sucht er vielleicht nach Zerstreuungen (auch durch Arbeit und Geschäftigkeit) für sich selbst eine Dunkelheit über seinen Zustand zu bewahren, jedoch wieder so, daß ihm nicht ganz deutlich wird daß er es deshalb tut, also nur um Dunkelheit zu schaffen. Oder ist er sich vielleicht sogar dessen bewußt, daß er so arbeitet um die Seele in Dunkelheit zu versenken, tat er dies vielleicht sogar mit einem gewissen Scharfsinn und kluger Berechnung, mit psychologischer Einsicht; ist sich aber in anderem Sinne doch nicht klar bewußt was er tut, wie verzweifelt er sich nämlich benimmt usw.

Aber, wie früher bemerkt wurde, der Grad des Bewußtseins potenziert die Verzweiflung. Je wahrer jemandes Vorstellung von Verzweiflung ist, und er bleibt doch in ihr; und je klarer er sich bewußt ist verzweifelt zu sein, und er bleibt doch in der Verzweiflung: desto intensiver ist die Verzweiflung. Wer mit Bewußtsein davon daß Selbstmord Verzweiflung ist, und insofern mit der wahren Vorstellung von Verzweiflung, einen Selbstmord begeht, dessen Verzweiflung ist intensiver als wenn einer einen Selbstmord begeht ohne die wahre Vorstellung davon zu haben, daß Selbstmord Verzweiflung ist. Und mit je klarerem Bewußtsein von seinem verzweifelten Zustand jemand einen Selbstmord begeht, desto intensiver ist die Verzweiflung. Und umgekehrt: die Verzweiflung ist um so weniger intensiv, je unklarer und unwahrer die Vorstellung von Verzweiflung ist, und je dunkler und verwirrter der Zustand der verzweifelnden Seele.

Im Folgenden will ich nun die zwei Formen der bewußten Verzweiflung so durchgehen, daß darin ein Steigen im Wissen von der Verzweiflung und Bewußtsein vom eigenen Zustande der Verzweiflung nachgewiesen wird; oder (was dasselbe und das Entscheidende ist) ein Steigen des Bewußtseins vom eigenen Selbst. Der Gegensatz aber zur Verzweiflung ist der Glaube. Daher ist die im Früheren aufgestellte Formel für den Zustand worin gar nichts von Verzweiflung ist, ganz richtig auch die Formel für das Glauben: daß das Selbst, indem es zu sich selbst in ein Verhältnis tritt und es selbst sein will, sich selbst durchsichtig sich gründet in der Macht die es setzte.

α. Verzweifelt nicht man selbst sein wollen; die Verzweiflung der Schwachheit

Der Verzweiflung der Schwachheit (verzweifelt nicht man selbst sein wollen) entspricht als zweite Form der Verzweiflung die des Trotzes (verzweifelt man selbst sein wollen). Doch ist der Gegensatz nur ein relativer. Ganz ohne Trotz ist keine Verzweiflung. Man selbst, der man doch ist, nicht sein wollen, ist ja auch Trotz. Andrerseits ist selbst der höchste Trotz der Verzweiflung doch nicht ohne alle Schwachheit: man will im Trotz der sein der man nicht bleiben kann. also ist der Unterschied nur relativ. Die eine Form ist sozusagen die Verzweiflung der Weiblichkeit, die andere die der Männlichkeit.

Und wenn man sich psychologisch in der Wirklichkeit umsehen will, wird man sich überzeugen, daß dies, wie es denkrichtig ist und also zutreffen muß, wirklich auch zutrifft; und daß diese Einteilung die ganze Wirklichkeit der Verzweiflung umfaßt. Doch will ich durchaus nicht leugnen, daß Formen männlicher Verzweiflung auch bei Frauen vorkommen können, und umgekehrt Formen weiblicher Verzweiflung auch bei Männern; aber das sind Ausnahmen. Und es versteht sich. das Ideale ist überhaupt nur selten; und dieser Unterschied von männlicher und weiblicher Verzweiflung ist doch nur rein ideal ganz wahr. Das Weib, wie viel zart- und feinfühlender sie auch sein mag als der Mann, hat weder eine selbstisch entwickelte Vorstellung vom Selbst noch in entscheidendem Sinne Intellektualität. Dagegen ist sein Wesen Hingebung; und das Weib ist unweiblich wenn dem nicht so ist. Wunderlich genug, niemand kann so schnippisch sein (dieses Wort ist ja von der Sprache auf das Weib gemünzt), so fast grausam wählerisch wie ein Weib, und doch ist ihr Wesen Hingebung; und doch (das ist eben das Wunderliche) ist dieses alles eigentlich der Ausdruck dafür daß ihr Wesen Hingebung ist. Denn gerade weil sie in ihrem Wesen die ganze weibliche Hingebung trägt, hat die Natur sie liebreich mit einem Instinkt ausgestattet, gegen dessen Feinheit die allerentwickeltste männliche Reflexion wie nichts ist. Diese Hingebung des Weibes, diese ihre (griechisch geredet) göttliche Mitgift ist ein zu großes Gut als daß es blindlings weggeworfen werden dürfte; und doch würde keine sehende menschliche Reflexion scharf genug zu sehen vermögen, sie richtig anzubringen. Darum hat sich die Natur des Weibes angenommen: instinktmäßig sieht dieses blindlings klarer als die scharfsinnige Reflexion; instinktmäßig sieht es was es bewundern soll, wo es sich hingeben soll. Hingebung ist das Einzige was das Weib hat; so übernahm die Natur seinen Schutz. Daher kommt es auch daß die Weiblichkeit erst in einer Metamorphose entsteht; sie entsteht, indem sich die unendliche Sprödigkeit zu weiblicher Hingebung verklärt.

Daß aber Hingebung das Wesen des Weibes ist, kehrt dann in der Verzweiflung wieder und bestimmt den Modus ihrer Verzweiflung. In der Hingebung hat sie sich selbst verloren, und nur so ist sie glücklich, nur so ist sie sie selbst. Ein Weib das ohne Hingebung (ohne ihr Selbst hinzugeben!) glücklich ist (an was sie es auch hingeben mag), ist vollständig unweiblich. Ein Mann gibt sich auch hin, und wer das nicht tut ist ein Nichtsnutz von Mann; aber sein Selbst ist nicht Hingebung (dies ist der Ausdruck für die weibliche substantielle Hingebung), auch bekommt er sein Selbst nicht durch Hingebung (wie es beim Weibe in einem anderen Sinne geschieht): er hat sich selbst. Er gibt sich hin, behält aber, indem er sich hingibt, in dem Bewußtsein daß er sich hingibt sein Selbst zurück; wogegen das Weib echt weiblich sich selbst, ihr Selbs, in das stürzt woran sie sich hingibt. wird dies ihr weggenommen, so ist auch ihr Selbst weg, und ihre Verzweiflung ist daß sie nicht sie selbst sein will. Weil der Mann in der Hingabe sich selbst behält, drückt sich das Männliche auch in der andren Form der Verzweiflung aus: verzweifelt man selbst sein zu wollen.

So viel über das Verhältnis zwischen der Verzweiflung der Männlichkeit und der Verzweiflung der Weiblichkeit. Jedoch erinnere man sich, daß hier nicht von Hingebung an Gott die Rede ist oder vom Gottesverhältnis (was erst später zur Sprache kommt). Im Verhältnis zu Gott, wo ein Unterschied wie der von Mann und Weib verschwindet, gilt für den Mann wie für das Weib, daß Hingebung das Selbst ist und daß man das Selbst durch Hingebung bekommt. Dies gilt in gleicher Weise für Mann und Weib, obgleich in Wirklichkeit das Weib wohl meist nur durch den Mann in ein Verhältnis zu Gott tritt.

1. Verzweiflung über das Irdische oder etwas Irdisches

Dies ist die reine Unmittelbarkeit, oder eine Unmittelbarkeit die nur etwas Reflexion enthält. Das ist kein unendliches Bewußtsein vom Selbst, von der Verzweiflung, oder davon daß der eigne Zustand in Verzweiflung besteht; die Verzweiflung ist ein bloßes Leiden (ein unterliegen unter äußerem Druck) und kommt keineswegs als Handlung von innen. Daß in der Sprache der Unmittelbarkeit Worte wie „das Selbst“ und „Verzweiflung“ vorkommen, ist ein, wenn man so will, unschuldiger Mißbrauch der Sprache; ein Spiel mit Worten, wie wenn die Kinder Soldaten spielen.

Der Unmittelbare (insoweit es in der Wirklichkeit Unmittelbarkeit ohne alle Reflexion geben kann) ist bloß seelisch bestimmt; er selbst (und also sein Selbst) ist nur ein Glied mit in der Kette der Zeitlichkeit und Weltlichkeit, in unmittelbarem Zusammenhange mit den andern Gliedern. So hängt das Selbst wünschend, begehrend, genießend usw. unmittelbar mit Zeit und Welt zusammen; und immer passiv: sogar im Begehren ist es angereizt, angezogen, gefesselt, also passiv. Seine Dialektik ist: das Angenehme und das Unangenehme; seine Begriffe sind: Glück, Unglück, Schicksal.

Nun begegnet diesem unmittelbaren Selbst etwas, es stößt ihm etwas zu, was es zur Verzweiflung bringt. Auf andere Weise kann das hie nicht geschehen; da das Selbst keine Reflexion in sich selbst hat, muß was es zur Verzweiflung bringt von außen kommen, und die Verzweiflung ist ein bloßes Erleiden. Das worin der Unmittelbare sein Leben hat (oder, insoweit er doch ein klein wenig Reflexion in sich hat, der Teil davon an dem er besonders hängt), wird ihm durch einen „Schicksalsschlag“ geraubt; er wird, wie man es nennt, unglücklich; und wenn die Unmittelbarkeit in ihm einen solchen Knacks bekommt daß sie sich selbst nicht reproduzieren kann, so verzweifelt er. oder tritt auch (was man jedoch in der Wirklichkeit seltener sieht, was aber dialektisch ganz in der Ordnung ist) dieses Verzweifeln der Unmittelbarkeit bei dem ein was der Unmittelbare ein allzu großes Glück nennt. Die Unmittelbarkeit ist nämlich als solche etwas ungeheuer Zerbrechliches, und jedes quid nimis, das von ihr Reflexion fordert, bringt sie zur Verzweiflung.

Er verzweifelt also; und darin verrät sich in der Tat daß er verzweifelt ist. Aber seine Verzweiflung selbst ist ein Mißverständnis. Er findet seine Lage zum Verzweifeln; in Wirklichkeit ist sein Zustand verzweifelt: das nämlich, daß er als ewiges Selbst seine zeitliche Lage zum Verzweifeln findet; oder aber: daß er das Selbst nicht ist, das in jeder zeitlichen Lage kraft seiner Ewigkeit sich als Selbst behauptete. Er verzweifelt über das Zeitliche, weil er das Ewige verloren hat: insofern ist er verzweifelt. Aber das fällt dem unmittelbaren Menschen auch nicht im Traume ein, daß es sich mit seiner Verzweiflung so verhalte. Wer aber die wahre Vorstellung von Verzweiflung hat, erkennt aus dessen Verhalten, daß er, über dem verzweifelnd was nicht zum Verzweifeln ist, wirklich und wesentlich verzweifelt ist.

Der unmittelbare Mensch verzweifelt also. betrachtet sich als tot, als einen bloßen Schatten von sich selbst. Damit verrät er daß er kein Selbst ist, das das Leben hat in sich selbst; und insofern hat er recht. Aber davon hat er keine Ahnung; und nach seinem eigenen Sinne hat er unrecht. Wenn seine Lage sich ändert, wenn der Wunsch, dessen Versagung ihn ums Leben gebracht hat, ihm doch erfüllt wird: so lebt er wieder auf und lebt dann weiter, als der Mensch der sein Leben nicht hat in sich selber. Und gerade weil er so wieder weiter leben kann, als Nicht-Selbst, glaubt er wieder er selbst geworden zu sein. Stößt ihm dieses Glück nicht zu (es stößt ihm nur zu, wie ihm vorher das Unglück zugestoßen war), so wird er (wie er sagt) nie wieder er selbst. Doch lebt er gemeinhin auch dann weiter: indem er sich in die Tatsache findet daß man oft auch auf den liebsten Wunsch verzichten muß, und sich mit dem Mehr oder Weniger von Lebensgenuß begnügt das man sich immer verschaffen kann. Er selbst kann er allerdings nicht wieder werden (nämlich der ganz naive Mensch, der meint es müsse sich ihm jeder Wunsch erfüllen), und bleibt doch er selbst: der Mensch der sein Leben draußen sucht, weil er es nicht hat in sich selber. Hat er aber auch dabei fast dauernd Unglück, so springt er von dem Bedauern, daß er nicht wieder er selbst werden kann, zu dem Wunsche über, ein andrer zu werden als der er ist. Und in der Tat: er sollte ein anderer werden: ein Selbst nämlich, das sein Leben hat in sich selbst. Aber so meint er es nicht: er möchte nur der andere werden der sich zu der Umwelt in ein anderes, günstigeres Verhältnis zu setzen vermöchte. Ein anderer also, der, wesentlich betrachtet, nur das Leben fortsetzte das er immer gelebt hat; ein anderer also, der derselbe geblieben ist: er selbst, aber kein Selbst.

Eigentlich ist die Verzweiflung des unmittelbaren Menschen unendlich komisch, weil er sich in seiner Verzweiflung beständig mißversteht. Er sieht in der Durchkreuzung seines Wunsche seinen Tod: und lebt in dem Wunsch, den er nicht aufgeben kann, zäh weiter. Er glaubt nicht wieder er selbst werden zu können. der er, wie er eben damit beweist, immer noch ist. Er wünscht ein anderer zu werden: nämlich derselbe der er immer war und noch ist. Und in Wahrheit soll er an dem Unglück das ihn betroffen hat, sterben: nämlich als der natürliche Mensch, der er ist. Und er soll nicht wieder er selbst werden: nämlich der natürliche Mensch, der er sein möchte. Er soll ein andrer werden: nämlich in dem Sinne er selbst, daß er sich selbst als ewiges Selbst versteht, hinnimmt und will. Das Verzweifelte in seiner Verzweiflung aber ist, daß er darüber verzweifelt, sich dem nicht entziehen zu können was doch seine einzige Rettung, seine Würde, seine Seligkeit ist. Wahrlich, der unmittelbare Mensch bewegt sich, wenn er verzweifelt, in einem Widerspruch mit sich selbst, den man unendlich komisch finden könnte wenn er nicht so unendlich tragisch wäre!

Während der Mensch wesentlich unmittelbar bleibt, kann doch die Reflexion in ihm erwachen; und dann gestaltet sich die Verzweiflung etwas anders. Reflexion ist Reflexion auf sich selbst. Es entsteht also ein gewisses Bewußtsein vom Selbst. Und damit entsteht eine gewisse Vorstellung von Verzweiflung, eine gewisse Einsicht daß der eigene Zustand Verzweiflung ist. Da meint also der Mensch etwas Richtiges, wenn er sagt daß er verzweifelt sei. Seine Verzweiflung aber ist wesentlich auch die Verzweiflung der Schwachheit: daß er zum Verzweifeln leide. Und ihre Form ist: daß er verzweifelt nicht er selbst sein will.

Der Fortschritt zeigt sich sogleich darin, daß die Verzweiflung nicht immer durch einen Anstoß, ein Ereignis entsteht, sondern auch durch die bloße Reflexion veranlaßt werden kann; so daß die Verzweiflung, wenn dem so ist, nicht ein bloßes Leiden unter äußeren Verhältnissen ist, sondern bis zu einem gewissen Grad Selbsttätigkeit. Da ist also ein gewisser Grad von Reflexion in sich selbst, von Besinnung auf sein Selbst; und damit beginnt der Akt der Absonderung, worin das Selbst auf sich selbst, als von der Außenwelt und ihrem Einfluß wesentlich verschieden, aufmerksam wird. Dies geschieht doch nur bis zu einem gewissen Grade. Indem aber das Selbst mit einem gewissen Grade von Reflexion in sich selbst sich anschickt das Selbst zu übernehmen, stößt es vielleicht auf diese oder jene Schwierigkeit in der Zusammensetzung, der Notwendigkeit des Selbst. Denn wie kein menschlicher Leib der vollkommene Leib ist, so auch kein Selbst das vollkommene Selbst. Vor dieser Schwierigkeit (es kann auch eine bloße Möglichkeit sein, die die Phantasie entdeckt) bebt der Mensch zurück. Sie unterbricht die Unmittelbarkeit seines Lebens, nötigt ihn mit der Unmittelbarkeit seines Lebens zu brechen: und das kann er nicht ertragen, nicht wollen.

So verzweifelt er. Seine Verzweiflung ist eine Verzweiflung aus Schwachheit (ein Erleiden des Selbst), im Gegensatz zu der Verzweiflung der Selbstbehauptung; aber mit Hilfe der relativen Reflexion in sich selbst, die er hat, macht er Versuche sein Selbst zu schützen. Er versteht, daß es doch etwas auf sich hat sein Selbst fahren zu lassen; er wird nicht so apoplektisch vom Schlage getroffen wie der Unmittelbare, sondern versteht mit Hilfe der Reflexion, daß er viel verlieren kann ohne das Selbst zu verlieren; er ist bereit sich sein Selbst etwas kosten zu lassen. Und warum? Weil er bis zu einem gewissen Grade sein Selbst von der Außenwelt abgesondert hat; weil er eine dunkle Vorstellung davon hat, daß in dem Selbst doch etwas Ewiges sein muß. Wenn aber die Schwierigkeit, auf die er gestoßen ist, einen Bruch mit der ganzen Unmittelbarkeit fordert, wird er bald versagen. Denn er hat nicht das Bewußtsein von einem Selbst das durch die unendliche Abstraktion von allem Äußeren gewonnen wird: von diesem Selbst, das im Gegensatz zum bekleideten Selbst der Unmittelbarkeit als das nackte, abstrakte Selbst die erste Form des unendlichen Selbst ist und das Vorwärtstreibende in dem ganzen Prozesse, wodurch ein Selbst sein wirkliches Selbst mit dessen Schwierigkeiten und Vorzügen unbedingt übernimmt.

Er verzweifelt also, und seine Verzweiflung ist: nicht er selbst sein zu wollen. Dagegen fällt ihm freilich das Lächerliche, ein anderer sein zu wollen, nicht ein; er hält ein Verhältnis zu seinem Selbst aufrecht: so weit hat ihn die Reflexion an sein Selbst geknüpft. Aber dann verhält er sich zu seinem Selbst doch nur etwa wie zu seinem Heim. Wird ihm das durch irgendeinen Umstand (daß der Ofen raucht u. dgl.) unbehaglich, so geht er aus; natürlich nicht um sich ein anderes Heim zu gründen, sondern nur, um draußen abzuwarten bis sein Heim wieder behaglich geworden ist. Ist das eingetreten, so kehrt er wieder heim. So geht er auch, wenn ihm sein Selbst unbehaglich geworden ist, aus; nicht um ein anderes Selbst zu werden, sondern nur, um draußen abzuwarten bis sein Selbst wieder behaglich geworden ist. Unterdessen bleibt er mit seinem Selbst dadurch in Verbindung, daß er sich selbst ab und zu einen Besuch macht, um nachzusehen, wie es mit dem Selbst steht. Hat sich der Mißstand gehoben der es ihm verleidete, so haust er in alter Gemütlichkeit wieder mit sich selbst. Er ist wieder er selbst geworden, nur leider kein Selbst. Ein so lockeres Verhältnis zu sich selbst, das ist eben kein Selbst.

Versagt ihm das Glück auf diese Weise mit sich selbst zurecht zu kommen, so hilft er sich auf eine andere Weise. Um in Wahrheit ein Selbst zu werden müßte er die Richtung einwärts, die er mit Erwachen der Reflexion genommen hat, weiter verfolgen. Da dieser Weg, wie er sofort sieht, nicht eben angenehm ist, schlägt er vielmehr die entgegengesetzte Richtung ein. Er übernimmt sein Selbst, nämlich was er in seiner Sprache sein Selbst nennt: seine Anlagen, Talente usw.; alles das übernimmt er, jedoch mit der Richtung nach außen: ins Leben hinein, wie es heißt; ins wirkliche, tätige Leben hinein. Mit dem bißchen Reflexion das er in sich hat geht er sehr vorsichtig um. Allzuviel sich mit sich selbst zu beschäftigen schädigt bekanntlich die Brauchbarkeit für das Leben, das wirkliche, tätige Leben; und so gewöhnt er sich das mehr und mehr ab und findet es schließlich beinahe lächerlich, besonders wenn er in guter Gesellschaft ist, mit anderen brauchbaren und tätigen Menschen, die für das wirkliche Leben Sinn haben und brauchbar sind. Charmant! Er ist nun, wie es im Roman steht, schon seit mehreren Jahren glücklich verheiratet, ein tätiger und unternehmender Mann, Vater und Bürger, vielleicht sogar ein großer Mann; daheim in seinem Hause ist er den Dienstboten „Er selbst“, in der Stadt gehört er zu den Honoratioren; er tritt als Persönlichkeit auf, gibt sich das Ansehen einer Persönlichkeit und genießt das Ansehen einer Persönlichkeit. In der Christenheit ist er Christ (ganz in demselben Sinne, wie er im Heidentum Heide und in Holland Holländer sein würde), einer von den gebildeten Christen. Nebenher beschäftigt ihn auch die Frage nach der Unsterblichkeit, und mehr als einmal hat er den Pfarrer gefragt, ob es so was gebe, ob man sich wirklich selbst wiedererkennen werde: was ja für ihn ein ganz besonderes Interesse haben muß, da er ein Selbst, das sich in der Ewigkeit wieder erkennen könnte, nicht hat.

Es ist unmöglich, diese Art Verzweiflung ohne einen gewissen Zusatz von Satire wahr darzustellen. Das Komische ist, daß so jemand davon reden mag er sei verzweifelt gewesen; das Schrecklich ist, daß sein Zustand, nachdem er, wie er meint, die Verzweiflung überwunden hat, gerade Verzweiflung ist. Denn daß der in der Welt so sehr gepriesenen Lebensklugheit, all der Kuckucksmenge von guten Ratschlägen, tiefen Einsichten und bewährten Grundsätzen (daß man sich in die Zeit schicken und in sein Schicksal fügen und vergessen müsse, was nun einmal nicht zu ändern ist), ideell verstanden, eine vollkommene Dummheit zugrunde liegt, in der man nicht weiß wo die Gefahr eigentlich ist und worin sie eigentlich besteht: das ist doch ebenso komisch wie schrecklich.

Die Verzweiflung über das Irdische oder über etwas Irdisches ist die gewöhnlichste Art von Verzweiflung; und besonders unter der zweiten Form, als Unmittelbarkeit mit einem Quantum Reflexion. Je mehr aber die Verzweiflung durchreflektiert ist, desto seltener kommt sie in der Welt vor. Dies beweist doch nur, daß die meisten Menschen in ihrem Verzweifeln nicht einmal besonders tief gekommen sind, beweist dagegen durchaus nicht daß sie nicht verzweifelt sind. Es gibt sehr wenige Menschen die nur einigermaßen als Geist leben; ja es gibt nicht einmal viele die ein solches Leben einmal versuchen; und von denen die das tun springen die meisten bald wieder ab. Sie haben das Fürchten und Sollen nicht gelernt: wie sollten sie dann die furchtbare innere Spannung ertragen worin das Leben des Geistes verläuft? Und wie sollen sie gar den Widerspruch mit einer Welt ertragen, der die Sorge für die Seele und das Trachten nach geistigem Leben eine Zeitvergeudung, eine unverantwortliche Zeitvergeudung ist, die womöglich von den bürgerlichen Gesetzen bestraft werden müßte? eine Art Verrat gegen die Menschen, eine trotzige Verrücktheit, die nur Spott und Verachtung verdient? So gibt es wohl einen Augenblick in ihrem Leben (dies ist ihre beste Zeit), wo sie doch die Richtung nach innen einschlagen. Sie kommen dann ungefähr bis zu den ersten Schwierigkeiten; dann aber biegen sie ab. Es ist ihnen, als führte dieser Weg in eine trostlose Wüste, „und ringsumher liegt schöne grüne Weide“. Da wenden sie sich dieser zu und vergessen bald jene ihre beste Zeit; ach, und vergessen sie als wäre sie eine Kinderei gewesen. Zugleich sind sie Christen, von den Pfarrern über ihre Seligkeit beruhigt.

Wie gesagt, diese Verzweiflung ist die gewöhnlichste. Sie ist so gewöhnlich, daß man sich daraus die ziemlich gemeine Ansicht erklären kann, Verzweiflung sei eine Art Entwicklungskrankheit, die nur in jungen Jahren vorkomme, nicht aber bei dem gesetzten, reifen Mann. Das ist ein verzweifelter Irrtum, der übersieht, daß es die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben wesentlich nicht weiter bringen als bis dahin wo sie in ihrer Kindheit und Jugend schon waren, zu Unmittelbarkeit mit dem Zusatz einer kleinen Dosis Reflexion. (Und wenn sie es nur nicht weiter brächten! Denn das ist ja kindlich harmlos gegen das Weitere, oft viel Schlimmere, wozu sie es bringen! Aber auch das wird natürlich übersehen!) Nein, Verzweiflung ist wahrhaftig nicht etwas das nur bei Jünglingen vorkommt, etwas dem man ohne weiteres entwächst, „wie man einer Illusion entwächst“. Aber der Illusion entwächst man auch nicht, obgleich man so töricht ist es zu meinen. Im Gegenteil, es gibt Männer und Frauen genug, die ebenso kindische Illusionen haben wie nur irgendein Jüngling oder Mädchen. Man übersieht aber, daß es wesentlich zwei Formen der Illusion gibt, die der Hoffnung und die der Erinnerung. Die Jugend hat die Illusion der Hoffnung, das Alter die der Erinnerung; weil es aber eben in Illusion ist, hat es von der Illusion die ganz einseitige Vorstellung, es gebe nur eine Illusion der Hoffnung. Und das ist wahr, von der Illusion der Hoffnung wird der Ältere nicht geplagt; dagegen unter anderem wohl auch von der schnurrigen Illusion, daß er von einem vermeintlich höheren Standpunkt aus ohne Illusion auf die Illusion der Jugend herabsehe. Der Jüngling ist in Illusion, wenn er vom Leben und von sich selbst das Außerordentliche hofft. Zum Ersatz dafür findet man bei dem Älteren oft die Illusion daß er in seiner Jugend das Außerordentliche erlebt habe. Die ältere Frau, die vermeintlich alle Illusion aufgegeben hat, lebt oft so phantastisch wie nur irgendein junges Mädchen in der Illusion: wie glücklich sie als junges Mädchen gewesen sei, wie schön usw. Dieses fuimus, das man so oft von den Älteren hört, ist eine ebenso große Illusion wie das Futurum der Jugend: sie lügen oder dichten beide.

Daß aber Verzweiflung nur der Jugend angehöre, daß man also mit den Jahren der Verzweiflung von selbst entwachse: das ist ein ganz verzweifelter Wahn. Wie wenn es mit Glauben und Weisheit so bequem ginge, daß sei ohne weiteres mit den Jahren kämen wie Zähne, Bart u. dgl. Nein, was auch einem Menschen so ohne weiteres kommen mag, eins bestimmt nicht: Glaube und Weisheit. Im Geistigen kommt der Mensch überhaupt nicht mit den Jahren nur so ohne weiters zu Etwas (das „Ohne Weiteres“ ist gerade der schärfste Gegensatz zum Geist); dagegen geschieht es sehr leicht, daß man in Hinsicht auf den Geist mit den Jahren ohne weiteres von etwas kommt. Mit den Jahren verliert man vielleicht das bißchen Leidenschaft, das bißchen Innerlichkeit das man hatte (das geht ohne weiteres); und dann kommt man freilich auch ohne weiteres zu etwas: daß man das Leben versteht und nimmt wie „man“ es versteht und nimmt. Diese Verschlimmbesserung, zu der man freilich mit den Jahren gekommen ist, sieht der Mensch nun verzweifelt für einen Fortschritt an; er überzeugt sich leicht davon (in einem gewissen satirischen Sinn gibt es wirklich nichts Gewisseres), daß es ihm nie einfallen könne zu verzweifeln. Diese Gefahr droht ihm allerdings nicht mehr. Er ist so verzweifelt daß er nicht mehr verzweifeln kann. Zum Verzweifeln gehört Geist; und er hat den Geist aufgegeben…

Kommt es auch nicht notwendig dazu daß ein Mensch mit den Jahren in die trivialste Art von Verzweiflung versinkt, so folgt daraus doch keineswegs daß Verzweiflung nur der Jugend eigne. Entwickelt sich ein Mensch wirklich mit den Jahren, reift er zu einem wesentlichen Bewußtsein von seinem Selbst heran: so entsteht damit auch die Möglichkeit einer höheren Form der Verzweiflung. Und entwickelt er sich mit den Jahren nicht wesentlich, während er doch auch nicht ganz in Trivialität versinkt; bleibt er also eigentlich ein junger Mensch, obgleich er Mann, Vater und weißhaarig geworden ist; hat er sich also doch auch etwas von dem Guten im Jüngling bewahrt: so bleibt er ja auch der Gefahr ausgesetzt, wie ein Jüngling über das Irdische oder über etwas Irdisches zu verzweifeln.

Ein Unterschied kann immerhin zwischen der Verzweiflung eines solchen Älteren und der eines Jünglings sein, aber kein wesentlicher, nur ein rein zufälliger. Der Jüngling verzweifelt über das Zukünftige wie über ein Präsens in futuro: da ist etwas Zukünftiges, das er nicht übernehmen, mit dem er nicht er selbst sein will. Der Ältere verzweifelt über das Vergangene wie über ein Präsens in praeterito, das nicht mehr und mehr vergangen werden will, denn so verzweifelt ist er ja nicht, daß ihm glückte es ganz zu vergessen. Wesentlich aber ist die Verzweiflung des Jünglings und des Älteren dieselbe: es kommt zu keiner Metamorphose, worin das Bewußtsein vom Ewigen so durchbräche, daß der Kampf beginnen könnte der entweder die Verzweiflung zu einer noch höheren Form potenzierte oder zum Glauben führte.

Ist nun aber nicht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Verzweiflung über etwas Irdischem und der Verzweiflung über dem Irdischen? Doch; nur liegt er nicht da wo er nach dem sprachlichen Ausdruck zu liegen scheint. Irdisches ist als solches ein einzelnes Etwas, und alles Irdischen wird der Mensch nur durch den Tod beraubt. Insofern kann der Mensch über das Irdische nur in der Angst vor dem Tode verzweifeln, sonst nur über etwas Irdisches. Verzweifeln aber kann er an etwas Irdischem doch nur dann, wenn er von diesem Einzelnen alles erwartet was ihm das Irdische überhaupt gewähren soll. Er verzweifelt also, wenn er über etwas Irdisches wirklich verzweifelt, immer über das Irdische. Geht nun darin der Gedanke an den speziellen Anlaß seiner Verzweiflung unter, so verzweifelt er nicht eigentlich mehr über das Irdische, das er in tot weder haben noch verlieren kann, sondern über seine Gebundenheit an das Irdische, also über sich selbst. So geht die Verzweiflung über etwas Irdisches durch die Verzweiflung über das Irdische über in die nächste, höhere Form der Verzweiflung: die Verzweiflung über sich selbst.

2. Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst

Verzweiflung über das Irdische oder über etwas Irdisches ist, insofern sie Verzweiflung ist, eigentlich auch Verzweiflung am Ewigen und über sich selbst; denn das ist ja die Formel für alle Verzweiflung. Aber der Verzweifelnde, wie er im Vorigen geschildert wurde, war nicht darauf aufmerksam was sozusagen hinter ihm geschieht. Er meint über etwas Irdisches zu verzweifeln und redet beständig von dem worüber er verzweifelt, und doch verzweifelt er am Ewigen; denn daß er dem Irdischen so großen Wert beilegt (genauer: daß er erst etwas Irdischem so großen Wert beilegt daß er es zu allem Irdischen macht, und dann dem Irdischen so großen Wert beilegt), das ist ja eben Verzweiflung am Ewigen.

Klärt sich nun dem Verzweifelten dieses Mißverständnis auf, so entsteht die Möglichkeit einer neuen, höheren Form der Verzweiflung. Er fühlt sich der Situation nicht gewachsen, also schwach. dabei verbleibt es. Sah er aber seine Schwäche zuvor nur darin daß er sich das Irdische, Zeitliche nicht erringen kann, so erkennt er es jetzt als seine Schwäche daß ihm das zum Verzweifeln ist. Warum aber fühlt er das als Schwäche? Weil etwas in ihm ist das alles Irdische, Zeitliche unbedingt unter sich sieht; also etwas Überirdisches, Überzeitliches. Und warum ist er so schwach? warum läßt er sich durch das Irdische, Zeitliche zur Verzweiflung bringen? Das begreift er selbst nicht. Und wenn er es nun nicht über sich bringt sich in dieser seiner unbegreiflichen Schwäche von Gott zu demütigen, so muß er darüber wieder und erst recht verzweifeln. Dann aber bedeutet diese Verzweiflung über und an sich selbst als neuer, tieferer Fall doch einen wesentlichen Fortschritt.

Erstens kommt ihm jetzt erst in einem identischen Akt zu Bewußtsein, daß es ein Ewiges gibt und daß er ein Selbst hat. In der Verzweiflung über das Irdische, Zeitliche fühlt er sich als gleichartig mit diesem und ihm dann unterlegen; in der Scham über diese Verzweiflung fühlt er sich als ungleichartig mit dem Irdischen, Zeitlichen, und diesem überlegen. Das heißt: da fühlt er sich als Selbst; und was ihn als ein Selbst die Unterlegenheit unter das Irdische, Zeitliche als beschämende Schwäche empfinden läßt, das ist das Überirdische, Überzeitliche, Überweltliche, das Ewige in seinem Selbst, das es also gibt. Freilich kommt ihm das Ewige und das Selbst vorerst nur so zum Bewußtsein daß er daran verzweifelt: aber es kommt ihm doch zum Bewußtsein. Zweitens kommt ihm tiefer und klarer zu Bewußtsein, was eigentlich in seiner Verzweiflung vor sich geht. Verzweifelt er über seine Schwachheit, das Irdische zum Verzweifeln wichtig zu nehmen: so tritt ja das Irdische, als bloßer Anlaß, ganz zurück; was zum Verzweifeln ist liegt nicht mehr in dem Verhältnis zu dem Irdischen, sondern in dem Verhältnis zu sich selbst. Darum dauert die Verzweiflung, einmal eingetreten, fort, auch wenn man keinen Anlaß mehr hat über das Irdische zu verzweifeln; darum ist es für den so Verzweifelten gleich sehr zum Verzweifeln, daß er das Glück und daß er das Unglück so wichtig nimmt. Und das kann er dann nicht dem Schicksal verargen, sondern nur sich selbst.

Darum kommt in dieser Form der Verzweiflung auch das deutliche zum Vorschein, daß der Verzweifelte verzweifelt nicht er selbst sein will. Wie wenn ein Vater seinen Sohn verstößt, so will das Selbst sich selbst nicht anerkennen, nachdem es so schwach gewesen ist. Es kann, verzweifelt, diese Schwachheit nicht vergessen; es haßt gewissermaßen sich selbst, will sozusagen nichts von sich hören, nichts wissen. Daß ihm aber durch Vergessen geholfen werde; daß es mit Hilfe des Vergessens in die Geistlosigkeit einschlüpfe und dann Mann und Christ sei wie andere Männer und Christen: davon kann auch nicht mehr die Rede sein; dazu ist das Selbst schon zu sehr Selbst. Daß es von sich selbst nichts hören und wissen will, nützt ihm nicht mehr, als es dem Vater nützt daß er von dem mißratenen Sohn nichts mehr hören und wissen will: er denkt doch an ihn. Und daß es sich selbst verwünscht, nützt ihm nicht mehr, als es dem verlassenen Mädchen nützt daß es den ungetreuen Geliebten verwünscht: es liebt ihn doch. Das Selbst das nicht es selbst sein will ist Selbst genug, sich unablässig mit sich selbst zu beschäftigen. Aber hinter sorgfältig verschlossener Tür. Für den Verzweifelten dieser Art ist charakteristisch die Verschlossenheit.

Wer sich in Verzweiflung über sich selbst mit sich selbst einschließt, braucht sich darum nicht in die Einöde, in das Kloster, in das Irrenhaus zu flüchten; er kann ganz wohl als Mensch unter Menschen leben, mit diesen sogar ganz offen verkehren. Darein nur, was es mit seinem Selbst auf sich hat, weiht er keine, keine einzige Seele ein. Hat er dazu je ein Bedürfnis gehabt, so hat er gelernt es zu bezwingen. Höre nur, wie er selbst davon redet! „Es sind nur die rein unmittelbaren Menschen (welche, was den Geist betrifft, ungefähr auf demselben Punkte stehen wir das Kind, das noch mit einer liebenswürdigen Ungeniertheit alles von sich gehen läßt), es sind nur die rein unmittelbaren Menschen, die gar nichts bei sich behalten können. Das ist diese Art von Unmittelbarkeit die sich oft mit großer Prätension Wahrheit nennt: daß man wahr sei, ein wahrer Mensch und ganz wie man ist; wie wenn es Unwahrheit wäre, daß ein Älterer nicht sogleich nachgibt wenn er ein leibliches Bedürfnis empfindet! Jedes bloß ein klein bißchen reflektierte Selbst hat doch eine Ahnung davon wie man das Selbst bezwingt.“ Und unser Verzweifelter hat sich wirklich gut genug eingeschlossen, um jeden den es nichts angeht (also jeden) von den Angelegenheiten seines Selbst fernzuhalten; während er nach außen ganz ein Mensch comme il faut ist. Er ist ein studierter Herr; ist Gatte, Vater (sogar ein besonders tüchtiger Beamter, ein respektabler Vater), angenehm im Verkehr, sehr freundlich gegen seine Frau, die Fürsorge selbst gegen seine Kinder. Und wie steht es mit seinem Christentum? Nun ja, Christ, das ist er ja auch; doch vermeidet er möglichst davon zu reden, ob er es auch ganz gern und mi einer gewissen wehmütigen Freude sieht, daß seine Frau zu ihrer Erbauung sich mit religiösen Dingen beschäftigt. Zur Kirche geht er sehr selten, weil es ihm vorkommt, als ob die meisten Pfarrer eigentlich nicht wüßten wovon sie reden. Er macht eine Ausnahme mit einem einzelnen Pfarrer, von dem er zugibt daß er wisse wovon er rede; den aber mag er aus einem anderen Grunde nicht hören. Das könnte ihn zu weit führen! Dagegen empfindet er nicht selten ein Verlangen nach Einsamkeit; sie ist ihm ein Lebensbedürfnis, zuweilen wie das Atmen, zu anderen Zeiten wie der Schlaf. Daß er dies Lebensbedürfnis mehr als die meisten Leute hat verrät eine tiefere Natur. Überhaupt ist der Drang nach Einsamkeit ein Zeichen von Geist und der Maßstab für den Geist. „Die nur schwatzenden Un- und Mitmenschen“ fühlen so wenig Drang zur Einsamkeit, daß sie wie gewisse Papageien sogleich sterben wenn sie bloß einen Augenblick allein sein sollen. Wie die kleinen Kinder in den Schlaf gelullt werden müssen, so brauchen diese Leute das beruhigende Gesumme der Geselligkeit, um essen, trinken, schlafen, beten, sich verlieben zu können. Im Altertum und Mittelalter war man doch auf den Drang zur Einsamkeit noch aufmerksam, hatte noch Respekt vor dem was er bedeutet; unsere soziale Zeit hat einen solchen Schauder vor der Einsamkeit, daß man sie (o vortreffliches Epigramm!) zu nichts anderem mehr zu gebrauchen weiß als zur Strafe für Verbrecher. Doch es ist wahr, in unserer Zeit ist es ja ein Verbrechen Geist zu haben; so ist es ja auch in der Ordnung, daß Liebhaber der Einsamkeit mit Verbrechern in eine Klasse kommen.

Der über sich selbst Verzweifelte lebt nun verschlossen sein Leben dahin, wenn auch nicht für die Ewigkeit, so doch beschäftigt mit dem Ewigen, mit dem Verhältnis seines Selbst zu sich selbst; aber er kommt eigentlich nicht weiter. Er umkreist in all seinem Nachdenken über sich selbst immer nur die eine verzweifelte Tatsache, daß er schwach genug ist, etwas das ihm begegnet ist zum Verzweifeln wichtig zu nehmen. Er konstatiert für sich selbst nur immer wieder daß er nun einmal so schwach ist; aber weiter als bis zu dem widerwilligen Eingeständnis seiner Schwäche kommt er nicht. Was ihn nicht weiter kommen läßt, ist sein Stolz. Würde jedoch ein Mitwisser seiner Verschlossenheit (wenn es möglich wäre, der zu werden) zu ihm sagen: „Das ist ja Stolz von dir; du bist ja eigentlich auf dein Selbst stolz“: dem andern würde er dies kaum eingestehen. Sich selbst würde er, wenn er dann mit sich selbst allein wäre, wohl zugeben daß etwas daran sei; aber die Leidenschaft, mit der sein Selbst seine Schwachheit aufgefaßt hat, würde ihm bald wieder einbilden, es könne unmöglich Stolz sein über seine Schwachheit zu verzweifeln, als wäre es nicht eben sein Stolz der ein so ungeheures Gewicht auf die Schwachheit legt; als wäre das Bewußtsein von Schwachheit nicht bloß darum für ihn nicht auszuhalten, weil er auf sein Selbst stolz sein möchte. Würde man zu ihm sagen: „Das ist ja eine sonderbare Verwicklung; das ganze Unglück liegt eigentlich in der Weise wie sich der Gedanke für dich verschlingt; das ist ja eben der Weg den du gehen sollst: durch die Verzweiflung am Selbst hindurch zum Selbst; schwach bist du freilich, damit hast du ganz recht, aber darüber sollst du nicht verzweifeln; dein Selbst muß gebrochen werden um zu sich selbst zu kommen, höre nur auf darüber zu verzweifeln“, würde man so zu ihm reden, so würde er in einem leidenschaftslosen Augenblick verstehen; bald aber würde die Leidenschaft wieder falsch sehen, und dann macht er die Wendung wieder verkehrt, statt aus der Verzweiflung heraus in die Verzweiflung hinein.

Eine solche Verzweiflung ist in der Welt ziemlich selten. Bleibt nun der Verzweifelnde nicht auf diesem Punkte stehen, bloß auf der Stelle marschierend, und kommt er doch nicht auf den richtigen Weg, der zum Glauben führt: so wird sich seine Verzweiflung entweder zu einer höheren Form der Verzweiflung potenzieren, wobei sie Verschlossenheit bleibt, oder bricht sie nach außen durch und vernichtet die äußere Umkleidung, worin der Verzweifelnde wie in einem Inkognito gelebt hat. In letzterem Falle wird er sich, um sich zu vergessen, ins Leben hinausstürzen: vielleicht in große Unternehmungen (da es drinnen so stark lärmt, gehören starke Mittel dazu sich zu übertäuben); vielleicht in Ausschweifungen der Sinnlichkeit (er will verzweifelt zur Unmittelbarkeit zurück, mit dem Bewußtsein des Selbst, das er nicht sein will). Im ersteren Falle, wenn die Verzweiflung sich potenziert, wird sie Trotz, und es zeigt sich dann, wieviel Unwahrheit in dem Gerede von Schwachheit lag. Der erste Ausdruck für Trotz ist gerade Verzweiflung über die eigene Schwachheit.

Die Menschen, wie sie zumeist sind, haben natürlich keine Ahnung davon was ein Verschlossener zu tragen vermag; bekämen sie es zu wissen, sie würden sich entsetzen. Wird nun die Verschlossenheit absolut bewahrt, so droht die Gefahr des Selbstmords. Redet dagegen der Verschlossene zu jemand, so ist er aller Wahrscheinlichkeit nach so stark abgespannt und so tief deprimiert daß er einer solchen Tat nicht mehr fähig ist. Verschlossenheit mit einem Mitwisser ist einen ganzen Ton milder als die absolute Verschlossenheit. Doch kann der Verzweifelte dann gerade darüber verzweifeln daß er sich einem andern geöffnet hat. Wenn er in der Verschwiegenheit ausgehalten hätte, wäre das nicht doch unendlich viel besser gewesen als daß er nun einen Mitwisser hat? Da ist dann doch vielleicht wieder der Selbstmord der einzige Ausweg. Oder muß der Mitwisser weg. Man könnte sich einen dämonischen Tyrannen denken, der den Drang empfindet mit einem Menschen von seiner Qual zu reden; aber sein Vertrauter zu werden ist der gewisse Tod: sobald sich der Tyrann gegen ihn ausgesprochen hat, wird er getötet., Es wäre eine Aufgabe für einen großen Dichter, den qualvollen Selbstwiderspruch in einem Dämonischen darzustellen daß er einen Vertrauten nicht entbehren und nicht haben kann.

β. Die Verzweiflung verzweifelt man selbst sein zu wollen; Trotz

Wie man die Verzweiflung unter α die der Weiblichkeit nennen kann, so nun diese die der Männlichkeit. Daher fällt auch erst diese Verzweiflung unter die Bestimmung Geist. Unter diese Bestimmung gehört ja aber auch wesentlich die Männlichkeit, während Weiblichkeit eine niedrigere Synthese ist.

Die unter α2 beschriebene Verzweiflung war die über die eigne Schwachheit; der Verzweifelte will nicht er selbst sein. Geht aber die Dialektik der Verzweiflung einen einzigen Schritt weiter; kommt der so Verzweifelte zum Bewußtsein davon, warum er nicht er selbst sein will: so schlägt es um, so ist der Trotz da. Gerade deshalb will er verzweifelt nicht er selbst sein, weil er verzweifelt er selbst sein will.

Zuerst kommt die Verzweiflung über das Irdische oder etwas Irdisches; dann die Verzweiflung am Ewigen über sich selbst. Dann kommt der Trotz, der eigentlich Verzweiflung vermöge des Ewigen ist, oder daß man das Ewige in dem Selbst verzweifelt mißbraucht, um verzweifelt man selbst zu sein. Aber gerade weil der Trotz Verzweiflung vermöge des Ewigen ist, liegt ihm in gewissem Sinne das Wahre sehr nahe; und eben weil ihm das Wahre sehr nahe liegt, ist er unendlich weit davon entfernt. Auch die Verzweiflung die der Durchgang zum Glauben ist, geschieht vermöge des Ewigen; vermöge des Ewigen hat das Selbst den Mut, sich selbst zu verlieren um sich selbst zu gewinnen; im Trotz aber will es nicht sich selbst aufgeben, will es vielmehr sich selbst behaupten.

In der Verzweiflung des Trotzes findet nun wieder eine Steigerung des Bewußtseins statt: des Bewußtseins vom Selbst; des Bewußtseins von dem was Verzweiflung ist; des Bewußtseins von der eigenen Verzweiflung. Insbesondere wird der Verzweifelte sich nun dessen bewußt, daß seine Verzweiflung nicht von außen kommt wie ein Leiden unter dem Druck der Außenwelt, sondern direkt vom Selbst, als seine Tat. Und so ist der Trotz im Vergleich mit der Verzweiflung über die Schwachheit eine neue Qualifikation der Verzweiflung.

Dazu, verzweifelt man selbst sein zu wollen, gehört Bewußtsein von einem unendlichen Selbst. Dieses unendliche Selbst ist indessen eigentlich nur die abstrakteste Form, die abstrakteste Möglichkeit des Selbst. Die will der Mensch nun verzweifelt verwirklichen, indem er das Selbst von jedem Verhältnis zu der Macht losreißt die es gesetzt hat, oder von der Vorstellung daß eine solche Macht da sei. Als unendliche Form und Möglichkeit eines Selbst will das Selbst verzweifelt über sich selbst schalten und walten, ja sich selbst schaffen; der Mensch will das Selbst in sich zu dem Selbst machen das er sein will, will bestimmen was er in seinem konkreten Selbst mit haben will und was nicht. Sein konkretes Selbst hat ja Notwendigkeit und Grenzen, ist etwas ganz Bestimmtes, mit diesen Anlagen, in diesen Verhältnissen usw. Aber mit dieser positiven Bestimmtheit des Selbst scheint ihm die (von ihm nur negativ vorgestellte) Unendlichkeit des Selbst aufgehoben; und so will er sich von ihr befreien, um sich ein Selbst zu schaffen wie er es will, und dann, und nur so, will er er selbst sein. Das heißt: er will etwas früher einsetzen als andere Menschen; nicht mit dem ihm gesetzten Anfang, sondern „im Anfang“ schlechthin; er will sich nicht in sein Selbst einkleiden, will in dem ihm gegebenen Selbst nicht seine Aufgabe sehen; er will in Kraft seiner formalen, negativen Unendlichkeit sein Selbst selbst konstruieren.

Um diese Art Verzweiflung näher zu beleuchten unterscheidet man am besten zwischen einem handelnden und einem leidenden Selbst, und zeigt, wie das Selbst wenn es handelnd ist im Handeln, wenn es leidend ist im Leiden sich zu sich selbst verhält. Dabei erweist sich als stereotype Form für sein Verhalten eben dies, daß es verzweifelt es selbst sein will.

Ist das verzweifelte Selbst ein handelndes, so verhält es sich eigentlich beständig bloß experimentierend zu sich selbst; wie Großes und Erstaunliches es auch vornehmen mag, mit welcher Ausdauer es auch handeln mag. Es kennt keine Macht über sich, daher fehlt ihm im Grunde der Ernst; und es kann nur einen Schein von Ernst vorspiegeln, indem es seinen Experimenten mit sich selbst seine allerhöchste Aufmerksamkeit schenkt. Das ist, ob es ihm noch so ernst ist, nur ein affektierter Ernst, also eben kein Ernst. Wirklicher Ernst liegt nur in dem Gedanken daß Gott auf den Menschen sieht. Wenn das verzweifelte Selbst sich dafür damit begnügt selbst auf sich selbst zu sehen, verleiht es seinen Unternehmungen nicht, wie es meint, unendliches Interesse und Bedeutung, sondern verwandelt sie eben dadurch in bloße Experimente. Denn wenn es auch nicht so weit in Verzweiflung geht daß es zu einem experimentierten Gott wird, so kann sich doch kein abgeleitetes Selbst, indem es auch sich selbst sieht, mehr geben als es selbst ist; es bleibt doch vom Anfang bis zum Ende das Selbst als das es gesetzt ist, und wird in der Selbstverdoppelung weder mehr noch weniger als das. Insofern arbeitet sich das Selbst in seinem verzweifelten Bestreben es selbst zu sein gerade in das Entgegengesetzte hinein: es wird eigentlich kein Selbst. In der ganzen Dialektik innerhalb deren es handelt ist nichts Festes; was das Selbst ist steht in keinem Augenblick fest, nämlich ewig fest. Indem es ein Selbst werden will, bindet es sich ja; indem es aber nur ein formal unendliches Selbst (eigentlich nur kein Nicht-Selbst) werden will, hebt es diese Bindung wieder auf. Ganz willkürlich kann es jeden Augenblick von vorn anfangen, die ganze Handlung, wie lange auch ein Gedanke verfolgt wird, bleibt innerhalb einer Hypothese. So wenig glückt es dem Selbst immer mehr es selbst zu werden, daß es sich nur immer klarer als ein hypothetisches Selbst zeigt. Das Selbst ist sein eigener Herr, absolut (wie es heißt) sein eigener Herr, und ebendies ist die Verzweiflung, und freilich auch seine Lust, sein Genuß. Doch überzeugt man sich bei näherem Zusehen leicht daß dieser absolute Herrscher ein König ohne Land ist; er regiert eigentlich über nichts; sein Zustand, seine Herrschaft ist derart daß der Aufruhr in jedem Augenblick legitim ist. Der ist nämlich damit da, daß das Selbst selbst in seiner souveränen Willkür anders will.

Das verzweifelte Selbst baut also beständig nur Luftschlösser und ficht beständig in die Luft. Diese experimentierten Tugenden sehen brillant aus; sie bezaubern einen Augenblick wie eine morgenländische Dichtung; eine solche Selbstbeherrschung, eine solche Unerschütterlichkeit grenzt ans Fabelhafte. Ja, das tut sie freilich; sie ist sogar nur eine Fabel, ein Nichts. Das Selbst will verzweifelt die Befriedigung genießen, daß es sich zu sich selbst macht, sich selbst entwickelt, es selbst ist; es will von der dichterischen, meisterhaften Anlage seiner selbst die Ehre haben. Und doch bleibt im Grunde ein Rätsel was es unter sich selbst versteht; gerade in dem Augenblick wo es der Verwirklichung der Idee, die es selbst sich von sich selbst gemacht hat, ganz nahe zu sein scheint, kann es das Ganze willkürlich in nichts auflösen.

Ist das verzweifelnde Selbst ein leidendes, so ist die Verzweiflung doch die, daß es verzweifelt es selbst sein will. Solch ein experimentierendes Selbst, das verzweifelt es selbst sein will, stößt vielleicht, indem es sich vorläufig in seinem konkreten Selbst orientiert, auf diese oder jene Schwierigkeit, auf irgendeinen Grundschaden. Im Gefühl seiner formalen, negativen Unendlichkeit wird es vielleicht zuerst so tun, als wäre das gar nicht da, als wüßte es nichts davon. Aber es gelingt ihm nicht; so weit reicht seine Fertigkeit im Experimentieren nicht; nicht einmal seine Fertigkeit im Abstrahieren reicht so weit: es ist nun einmal trotz seiner formalen, negativen Unendlichkeit an diese Servitut geschmiedet. Darum leidet es. Wie zeigt sich nun aber daß es verzweifelt doch es selbst sein will?

Sieh, im Vorhergehenden wurde die Form der Verzweiflung daß man über das Irdische oder etwas Irdisches verzweifelt so dargestellt, daß dies im Grunde (wie es sich dann auch zeigt) ein Verzweifeln am Ewigen ist; das heißt: daß man sich vom Ewigen nicht trösten und heilen lassen will, weil man das Irdische so hochschätzt daß das Ewige kein Trost sein kann. Es ist aber auch eine Form der Verzweiflung, daß man nicht auf die Möglichkeit hoffen will, eine irdische, zeitliche Not könne gehoben werden. Wer so verzweifelt will in seinem Leiden verzweifelt er selbst sein. Er hat sich davon überzeugt, daß dieser Pfahl im Fleisch so tief sitzt, daß er nicht davon abstrahieren kann [Übrigens wird man (um doch auch daran zu erinnern) gerade von diesem Gesichtspunkt aus sehen, daß vieles von dem was in der Welt unter dem Namen „Resignation“ aufgeputzt wird eine Art Verzweiflung ist: daß man verzweifelt sein abstraktes Selbst sein, verzweifelt am Ewigen genug haben will, um damit dem Leiden im Irdischen und Zeitlichen trotzen oder es ignorieren zu können. Da will man also in Bezug auf etwas Bestimmtes, worin das Selbst leidet, nicht man selbst sein; indem man sich damit tröstet daß es in der Ewigkeit doch wegfallen müsse, und sich daher für berechtigt hält es in der Zeitlichkeit nicht auf sich zu nehmen. Das Selbst will dem worunter es leidet nicht zugestehen daß es mit zum Selbst gehöre; d.h. es will sich nicht gläubig darunter demütigen. So ist die Resignation als Verzweiflung betrachtet wesentlich davon verschieden daß man verzweifelt nicht man selbst sein will: denn man will ja verzweifelt man selbst sein; nur mit Ausnahme von etwas einzelnem, mit dem man verzweifelt nicht man selbst sein will.]; darum will er auch nicht mehr davon abstrahieren, will ihn gleichsam ewig übernehmen. Er nimmt Ärgernis daran; oder richtiger: er nimmt von ihm den Anlaß sich am ganzen Dasein zu ärgern, und will nun zum Trotz er selbst sein, nicht ihm zum Trotz ohne ihn (das hieße ja von dem Abnormen in seinem Selbst abstrahieren, und das kann er nicht; oder das wäre eine Bewegung zur Resignation hin): nein, dem ganzen Dasein zum Trotz, oder im Trotz gegen das ganze Dasein, mit ihm. Er will ihn, fast auf seine Qual trotzend, behalten. Denn auf die Möglichkeit der Hilfe hoffen (besonders kraft des Absurden, daß für Gott alles möglich ist), nein, das will er nicht. Und bei einem anderen Hilfe suchen, nein, das will er um alles in der Welt nicht; lieber will er, wenn es so sein soll, mit allen Höllenqualen er selbst sein, als daß er Hilfe suchen wollte.

Und sicherlich ist es doch nicht so ganz wahr, was man sagt, „daß der Leidende selbstverständlich so gerne Hilfe haben wolle, wenn ihm bloß jemand helfen könne“;, das ist durchaus nicht immer so, wenn auch das Gegenteil nicht immer so verzweifelt wahr ist wie in dem angenommenen Fall. Die Sache ist diese. Ein Leidender hat eine oder mehrere Weisen wie er sich Hilfe wünscht. Wird ihm so geholfen, ja, dann läßt er sich gerne helfen. Wenn es aber in tieferem Sinne Ernst wird, daß geholfen werden soll, besonders von einem Höheren oder dem Höchsten, diese Demütigung, die Hilfe auf jede Weise unbedingt annehmen zu müssen; in der Hand des „Helfers“, dem alles möglich ist, wie ein Nichts werden zu müssen, oder vor einem anderen Menschen sich auch nur beugen zu müssen, also solange man die Hilfe sucht aufgeben zu müssen man selbst zu sein: o, da gibt es gewiß viel, sogar langwieriges und qualvolles Leiden, in welchem das Selbst doch nicht so leidet daß es dazu sich entschlösse, und das es daher im Grunde vorzieht wenn es damit nur weiter es selbst sein darf.

Aber je mehr Bewußtsein in einem solchen Leidenden ist, der verzweifelt er selbst sein will, desto mehr potenziert sich auch die Verzweiflung bis zum Dämonischen. Dessen Ursprung ist gerne dieser. Ein Selbst, das verzweifelt es selbst sein will, quält sich in irgendeiner Pein, die sich nun einmal von seinem konkreten Selbst nicht wegnehmen oder trennen läßt. Gerade auf diese Qual wirft der Betreffende nun seine ganze Leidenschaft, die zuletzt zu einem dämonischen Rasen wird. ob dann auch Gott im Himmel und alle Engel ihm ihre Hilfe anböten: nein, nun will er nicht mehr, nun ist es zu spät. Einst hätte er gern alles hingegeben um diese Qual loszuwerden, da ließ man ihn warten; nun ist es vorbei, nun will er lieber gegen alles rasen, will der von der ganzen Welt, vom Dasein unrecht Behandelte sein, der das Recht hat gegen alles zu rasen. Darum ist es ihm jetzt gerade von Wichtigkeit daß ihm seine Qual keiner nimmt: er muß sie zur Hand haben, als Beweis daß er recht hat. Dies setzt sich ihm zuletzt so fest in den Kopf, daß er aus einem ganz eignen Grunde Angst vor der Ewigkeit hat: sie möchte ihn ja von seinem in dämonischem Sinne unendlichen Vorzuge, den er vor anderen Menschen hat, scheiden, von seiner dämonischen Berechtigung, der zu sein der er ist. Er selbst will er sein. Er begann mit der unendlichen Abstraktion von seinem konkreten Selbst; und nun ist er zuletzt so konkret geworden, daß es eine Unmöglichkeit sein würde in dieser Weise ewig zu werden; und doch will er verzweifelt er selbst sein. O dämonischer Wahnsinn, der bei dem Gedanken am wütendsten wird, daß es der Ewigkeit einfallen könne sein Elend von ihm zu nehmen!

Diese Art Verzweiflung kommt eigentlich nur bei Dichtern vor (nämlich bei den wirklichen Dichtern, die ihren Schöpfungen immer „dämonische“ Idealität verleihen); doch findet man sie, obschon seltner, auch in der Wirklichkeit. Welches ist dann das ihr entsprechende Äußere! Ja, ein „entsprechendes“, das gibt es eben nicht. Ein der Verschlossenheit entsprechendes Äußere wäre ja ein Widerspruch in sich selbst: was entspricht, offenbart ja. Vielmehr ist hier da Äußere ganz gleichgültig; Symptom dieser Verzweiflung ist nur die Verschlossenheit: daß man auf eine Innerlichkeit stößt, deren Verschluß sozusagen übergeschnappt ist. Die niedrigsten Formen der Verzweiflung, bei denen es eigentlich keine Innerlichkeit gibt und bei denen von Innerlichkeit jedenfalls nichts zu sagen ist, die muß man durch Beschreibung darstellen und dadurch daß man vom Äußeren eines solchen Verzweifelten redet. Aber je geistiger die Verzweiflung wird, je mehr die Innerlichkeit in ihrer Verschlossenheit eine eigne Welt für sich wird, desto gleichgültiger ist das Äußere, worunter die Verzweiflung sich verbirgt. Denn je geistiger die Verzweiflung wird, desto mehr achtet der Verzweifelte selbst darauf wie er die Verzweiflung mit dämonischer Klugheit in ihrer Verschlossenheit verschlossen halte, also das Äußere in Indifferenz bringe, so bedeutungslos und gleichgültig wie möglich mache. Wie der Kobold im Märchen durch einen Spalt verschwindet den niemand sehen kann, so liegt der Verzweiflung, je geistiger sie ist, um so mehr daran, in einer Äußerlichkeit zu wohnen hinter der es keinem einfällt sie zu suchen. Dadurch eben sichert sich der Verzweifelte gleichsam hinter der Wirklichkeit eine Welt ausschließlich für sich selbst, wo das verzweifelte Selbst sich ratlos und tantalisch damit beschäftigt es selbst sein zu wollen; und so für sich zu sein, das eben ist Geist.

Wir beginnen mit der niedrigsten Form der Verzweiflung, wo man verzweifelt nicht man selbst sein will. Die dämonische Verzweiflung ist die potenzierteste Form der Verzweiflung, wo man verzweifelt man selbst sein will. In dieser Verzweiflung will man nicht einmal in Selbstvergötterung man selbst sein (lügnerisch, aber doch in gewissem Sinne nach seiner Vollkommenheit); nein, da will man in Haß gegen das Dasein man selbst sein, man selbst nach seiner Jämmerlichkeit; will nicht im Trotz, sondern zum Trotz man selbst sein; will nicht im Trotz sein Selbst von der Macht losreißen die es setzte, sondern sich ihr zum Trotz aufdrängen; will sich aus Malice zu ihr halten, und das versteht sich ja, ein boshafter Einwand muß sich ja auch vor allem das halten wogegen er gerichtet ist. Man meint, indem man sich gegen das ganze Dasein empört, einen Beweis gegen dessen Güte zu haben. Dieser Beweis meint der Verzweifelte selbst zu sein; und der will er sein; darum will er er selbst sein, er selbst in seiner Qual, um mit dieser Qual gegen das ganze Dasein zu protestieren.

Während der in Schwäche Verzweifelnde nicht glauben kann daß die Ewigkeit einen Trost für ihn hat, will der im Trotz Verzweifelte von dem Troste der Ewigkeit nichts hören: der würde ja sein Untergang sein, weil nun einmal er ein Einwand sein will gegen das ganze Dasein. Es ist so, um bildlich zu reden, wie wenn sich bei einem Schriftsteller ein Schreibfehler einschliche (vielleicht ist es jedoch eigentlich gar kein Fehler, sondern gehört in einem viel höheren Sinne wesentlich mit zur ganzen Darstellung), und dieser Schreibfehler sich nun seiner Fehlerhaftigkeit bewußt gegen den Schriftsteller empören würde, ihm aus Haß gegen ihn verbieten würde das Geschriebene zu verbessern, und in wahnsinnigem Trotz zu ihm sagte: „Nein, ich will nicht ausgelöscht werden, ich will als ein Zeuge gegen dich dastehen, als ein Zeuge dafür daß du ein schlechter Schriftsteller bist.“

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