Hofacker, Ludwig - Predigt am sechsundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis

Hofacker, Ludwig - Predigt am sechsundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis

Vom Vertrauen auf die göttliche Gnade

Text: 2. Kor. 12,1-10.

Es ist mir ja das Rühmen nichts nütze, doch will ich kommen auf die Gesichte und Offenbarungen des HErrn. Ich kenne einen Menschen in Christo vor vierzehn Jahren (ist er in dem Leibe gewesen, so weiß ich es nicht; oder ist er außer dem Leibe gewesen, so weiß ich es auch nicht; Gott weiß es); derselbige ward entzückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselbigen Menschen (ob er in dem Leibe, oder außer dem Leibe gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es). Er ward entzückt in das Paradies, und hörete unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann. Davon will ich mich rühmen, von mir selbst aber will ich mich nichts rühmen, ohne meiner Schwachheit. Und so ich mich rühmen wollte, thäte ich darum nicht thörlich; denn ich wollte die Wahrheit sagen. ich enthalte mich aber deß, auf das nicht Jemand mich höher achte, denn er an mir siehet, oder von mir höret. Und auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl in’s Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe. Dafür ich drey Mal den HErrn geflehet habe, daß er von mir wiche. Und Er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf daß die Kraft Christi bey mir wohne. Darum bin ich gutes Muths in Schwachheiten, in Schmachen, in Nöthen, in Verfolgungen, in Aengsten, um Christi willen. Denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Der Apostel redet in unsern Textes-Worten von einer großen heiligen Offenbarung und Entzückung, deren er schon vor vierzehn Jahren gewürdiget worden sey. Er sey im Geiste entrückt gewesen bis in den dritten Himmel, und habe unaussprechliche Worte vernommen, die kein Mensch in menschlicher Rede wieder geben könne. Wenn er sich hätte besonderer Gnaden-Auszeichnungen rühmen wollen, so wäre ihm also dieser Ruhm zu Gebot gestanden; aber er verschmähte ihn, und auch das Gebäude seines Glaubens baute er nicht darauf. Sein Vertrauen setzte er auf die Gnade, und zwar allein auf die Gnade, und darum ruhte auch sein inneres Glaubensleben auf einem unwandelbaren, unbeweglichen Grund; er ließ sich an der Gnade genügen, die ihn erwählt und gerechtfertigt, geheiligt und verherrlicht hatte in Christo; in die Arme der Gnade warf er sich, die täglich und stündlich ihn trug und hielt, täglich und stündlich in seiner Schwachheit mächtig ward, ja täglich und stündlich ihn sich seiner Schwachheit rühmen ließ, weil er stark war in ihr, wenn er schwach war in sich. So war aber auch sein Vertrauen auf die Gnade frey von allen menschlichen Krücken und falschen Stützen, standhaft, unbeweglich, felsenfest. Diese Betrachtung leitete mich auf den Gedanken, dieß Mal zu euch zu sprechen:

Vom Vertrauen auf die göttliche Gnade.

Wir reden

  • I. von dem falschen,
  • II. von dem rechten Vertrauen.

O Du ewige Liebe, HErr JEsu! so gar Viele tappen in Finsterniß, und setzen ihr Vertrauen auf Deine Gnade entweder gar nicht, oder auf eine falsche Weise. Nimm doch weg alle falschen Stützen, alle eigengerechten Gedanken, laß uns doch unser Glaubens-Schloß auf Deine lautere und freie Gnade bauen! Bewahre uns aber auch vor allem falschen Irrwahn, damit wir uns selbst bethören und betrügen könnten. Leite uns ein in Deine vollkommene Wahrheit, und laß uns erfahren, daß, wer Dich hat, das Licht des Lebens hat. Amen!

I.

Wir reden von dem falschen Vertrauen auf die göttliche Gnade. Aber kann man denn, möchte Jemand fragen, auch ein falsches Vertrauen auf Gnade haben? Ist ja doch die Gnade etwas Allgemeines, so daß sie sich Jeder, der da Mensch heißet, und Fleisch und Blut an sich trägt, aneignen kann und aneignen darf, weil Christus, der Schöpfer Aller, auch Fleisch und Blut an sich genommen hat, und unserer Menschheit theilhaftig worden ist, um eine jegliche Menschen-Seele, wie sie durch Adams Fall und durch eigene Schuld die Gnade Gottes verloren hatte, also durch das vollkommene Opfer JEsu Christi, des zweiten Stammvaters des Menschengeschlechts, wieder nahe zu bringen, und durch das Blut der Versöhnung wieder angenehm zu machen in Sich, - dem Geliebten. Werden ja doch, nach dem Wort der Schrift, wie sie in Adam Alle sterben, in Christo Alle lebendig, d.h. wie von Adam alle Menschen das Verderben ererben, so erben von Christo alle Menschen die Ansprache an die Gnade und auf das ewige Leben; so daß eine jegliche Menschen-Seele um Christi willen die vollkommenste und gegründetste Ansprache an die Gnade Gottes hat, weil Christus dieses Recht ihr erworben und durch harten Kampf errungen hat. Die Gnade ist also allgemein; da ist Keiner, der das Bild Adams träget, er heiße wie er wolle, er sey wer er wolle, ausgeschlossen; ja, so Jemand der ganzen Welt Sünde und Schulden auf sich hätte, auch dieser ist nicht ausgeschlossen von der durch Christum erworbenen Gnade. Denn es ist eine allgemeine Erlösung erfunden, ein allgemeines Erbarmen offenbar geworden, ein allgemeines Lösegeld erlegt worden durch das heilige Leben und Leiden des Sohnes Gottes, und Christus hat verführet die Sünde der ganzen Welt durch Sein Blut.

Und wie die Gnade allgemein ist, so ist sie auch unendlich und unausschöpflich; in Christo ist eine unerschöpfliche Gnadenfülle aufgethan, ein Reichthum der Gnade Gottes, der mit keinem irdischen Reichthum zu vergleichen ist: denn aller irdische Reichthum nimmt ab mit der Zeit und wird verzehret; aber der Reichthum Christi hat kein Maaß noch Ziel, und je mehr eine gläubige Seele aus Ihm dahinnimmt, desto tiefere Tiefen von Gnade und Erbarmung öffnen sich ihr; also, daß ein in sich verarmter schnöder Sünder schöpfen darf Gnade um Gnade, Erbarmung um Erbarmung, kraft um Kraft, und so fort bis in Ewigkeit. Ja, wenn die Sünden blutroth wären, sie sollen schneeweiß werden, lautet Seine Verheißung; und wenn der Schaden ganz unheilbar wäre nach menschlicher Beurtheilung, Seine Gnade vermag auch die allerbedenklichsten Schäden zu heilen.

Ob bey uns ist der Sünden viel,
Bey Gott ist viel mehr Gnade,
Sein’ Hand zu helfen hat kein Ziel,
Wie groß auch sey der Schade.

Es ist ein ewiger Abgrund des herzlichsten und brünstigsten Erbarmens in Christo aufgethan und aufgeschlossen, ein Abgrund des Erbarmens, das Alles umfaßt, in dessen unendlicher Tiefe auch für Todes-Schulden, auch für die finstersten Menschenseelen Raum und Rath zu finden ist.

Die Gnade ist allgemein, sie ist unendlich; sie ist auch frey, ganz frey und umsonst. Da kommt es nicht auf größere oder geringere Würdigkeit an, denn es sind Alle, Alle der Gnade völlig unwürdig; es waltet über Allen ein freies Erbarmen, das sie nicht erwerben, nicht erkaufen, wozu sie nichts durch Rennen und Laufen, durch Arbeiten und Anstrengung aller ihrer Kräfte beytragen, das sie nur dankbar und kindlich annehmen können. Denn vor dem HErrn ist alle Welt gleich; vor Ihm liegen alle Menschen im Argen und im Verderben, aus welchem sie sich nicht durch eigene Kraft heraushelfen können; an Ihn hat kein Mensch von Natur den geringsten Anspruch; denn wir haben unsere Geschöpfesrechte durch die Sünde eingebüßt; es ist von Natur alle rechtmäßige Verbindung zwischen Ihm, dem Heiligen, und uns, den Unheiligen, aufgehoben und abgeschnitten durch die Sünde. Was könnten wir machen, wenn Er es nicht für gut fände, den zwischen Ihm und uns abgerissenen Faden wieder anzuknüpfen, wenn Er es nicht für gut fände, die Scheidewand zwischen Gott und den Menschen niederzureißen, und die Kluft, die durch die Sünde zwischen Ihm und uns befestiget ist, auszufüllen? Was könnten wir machen, wenn Er uns in unserem losgetrennten Zustande dahin gehen ließe? Wir könnten nichts machen; wir selbst könnten dieses Verhältniß nicht wieder herstellen. Denn ein Band zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpfe, welches das Geschöpf durch seinen Willen zerrissen hat, das kann nicht mehr durch das Geschöpf, das kann nur durch den Schöpfer wieder angeknüpft werden; und so würden wir eben blind und bloß, als Feinde Gottes, in unserem verkehrten Zustande bleiben und den schuldigen Lohn derer empfangen müssen, die sich von Gott, der Quelle des Lebens und der Seligkeit, der Liebe und des Friedens, geschieden haben. Darum ist es ein freies, ein ganz freies Erbarmen, das durch Christum über allen Sündern waltet; es ist eine freie Gnade, weßwegen der HErr schon durch den Propheten Jesajas (55,1-3.) ruft und verkündigt: „Wohlan Alle, die ihr durstig seyd, kommet her zum Wasser; und die ihr nicht Geld habt, kommet her, kaufet und esset; ja kommet her und kaufet ohne Geld und umsonst Beyde, Wein und Milch. Warum zählet ihr Geld dar, da kein Brod ist, und eure Arbeit, da ihr nicht satt von werden könnet? Höret mir doch zu, und esset das Gute; so wird eure Seele in Wollust fett werden. Neiget eure Ohren her, und kommet zu mir; höret, so wird eure Seele leben, denn ich will mit euch einen ewigen Bund machen, nämlich die gewissen Gnaden Davids.“

Aber wenn doch die Gnade Gottes so allgemein, so reich und unausschöpflich, so frey und umsonst dargereicht wird, so könnte man fragen: gibt es denn auch ein falsches Vertrauen auf Gnade? Ist’s denn auch möglich, daß der Mensch sollte auf die Gnade trauen, und sich dabey betrügen können? Ist es denn nicht wahr, was jener Vers sagt?

Auf Gnade darf man trauen,
Man traut ihr ohne Reu’,
Und wenn uns je will grauen,
So bleibt’s, der HErr ist treu.

Ist denn das nicht wahr? Sind denn alle Verheißungen und Worte Gottes von Seinem allgemeine, freien und unausschöpflichen Erbarmen nicht wörtlich und ganz so zu verstehen, wie man sie verstehen muß, wenn man sie klar und einfach liest? Ja, liebe Zuhörer, man darf, man soll auf Gnade trauen, und so ungetheilt auf sie bauen, wie die Schrift selbst allenthalben verlangt. Aber deßwegen kann es doch ein falsches, ein ungegründetes Vertrauen auf Gnade geben, und leider findet man dieß nur gar zu häufig unter den Menschen; leider sind sie gerade in dieser allerwichtigsten Angelegenheit ihres ganzen Lebens bey der Frage, ob sie bey Gott in Gnaden stehen, oft gar sehr leichtsinnig, nachlässig und sorglos, sie sehen dieß als eine Sache an, die sich von selbst verstehe, und gar keines weiteres Nachdenkens, keiner weiteren Versieglung bedürfe; sie sind sogar im Stande, daß, wenn durch heilsame Anregung des Geistes Gottes, der sie aus ihrer Sicherheit und Sorglosigkeit aufwecken, und sie zum ernstlichen Trachten nach dem Reiche Gottes antreiben will, Zweifel bey ihnen entstehen, ob sie auch sich mit Recht der Gnade Gottes getrösten können, sie diese und dergleichen Zweifel bald unter dem Vorwande von sich weisen, als ob sie durch den Teufel verursacht und veranlaßt wären, und so in ihrem alten Sündenschlafe fortschlafen, aus welchem sie doch der treue und liebreiche Gott hätte erwecken, und zum göttlichen Leben hätte führen mögen.

Falsch ist das Vertrauen auf die Gnade bey denjenigen, welche es in ihrem Inwendigen noch niemals zu der ernstlichen Frage und Untersuchung haben kommen lassen, ob sie auch in der Gnade stehen, ob der Gott, der über ihnen waltet, dem sie nicht entfliehen können, Seine feuerflammenden Augen gnädig oder ungnädig auf sie richtet; die bis auf diese, ja bis auf die Stunde des Todes, diese größte und wichtigste Untersuchung ihres Lebens verschoben, und bisher, ja vielleicht bis an die Pforten der Ewigkeit sorglos und unbekümmert in den Tag hinein gelebt haben. Gott sey ihnen gnädig! Es ist wunderbar; man ist so neugierig, Dieß oder Jenes zu wissen, wenn es unsern Eigennutz angeht, oder einen zeitlichen Vortheil oder eine zeitliche Ehre; da ist uns keine Zeit zu theuer, kein Tritt zu sauer, keine Verleugnung zu schwer, keine Reise zu weit; man will es eben wissen, wie es steht. Es hat ein Mensch, der in Ansehen, in hohen Würden steht, ein günstiges Wort über dich ausgesprochen, wie ist dir doch daran gelegen, es zu erfahren, was er von dir denkt; ja und gesetzt, du stellst dich auch, als ob es dir ganz gleichgültig wäre, gestehe nur, es ist dir nicht so gleichgültig; es regt dich an, es erweckt und spannt deine Neugierde auf’s Aeußerste; deine Eigenliebe ist in Anspruch genommen, oder dein Eigennutz; du bist voll Begierde, den rechten Grund der Sache zu erfahren, und wenn du nicht in der Schule und Bearbeitung des Geistes Gottes stehest; so wird dir so etwas ganz wichtig und interessant bleiben. Oder ist es nicht bey Manchen das unaufhörliche Haschen nach Neuigkeiten und Klatschereyen, was ihre ganze Seele beschäftigt, auf was sie achten, als ob ihr ganzes Heil davon abhänge? Auf alle möglichen Dinge achtet der Mensch, so geringfügig und so unscheinbar sie auch seyn mögen;

Die Welt will Alles wissen,
und forschet ohne Ruh’,
Und drückt doch so geflissen
Das Aug’ vor JEsu zu.

Bald nach Diesem, bald nach Jenem blickt da neugierige Schalks-Auge, nach dem, was zeitlich, was vergänglich, was nichts it. Nur die einzig wichtige Frage, die wichtigste, die größte Untersuchung, ob man bey Gott in Gnaden stehe, die Untersuchung der Sache, welche für das ganze Leben, für Zeit und Ewigkeit entscheidend ist, läßt man meistens außer Acht; darum bekümmern sich gar Wenige, und gehen mit einem todten Wahne und traumartigen Gedanken von der Barmherzigkeit Gottes, deren sie sich blindlings getrösten, dahin, in Gedanken, die sie sich selbst gemacht, und wodurch sie sich in den Schlaf der Eigenliebe gewiegt haben. Wie verkehrt ist doch der Mensch, wie blind geht er seinem Verderben entgegen, wie unbekümmert und sorglos verträumt er seine Gnadenzeit! Nicht so diejenigen, die wahrhaftig der Gnade vertrauen; denn in dem Reiche Gottes herrscht eine heilige Geschäftigkeit, und der wahre Frieden kann nur einer Seele zu Theil werden, die ernstlich nach dem Reiche Gottes trachtet, und um ihre Seligkeit bekümmert ist, der es ein ernstliches, ja das größte Anliegen ist, zu wissen, wie sie mit ihrem Gott daran ist. Wer aber in der Sorglosigkeit und natürlichen Sicherheit beharren will, und will als eine ausgemachte Sache das behandeln, was nur den mühseligen und beladenen Geistern zu Theil wird, der betrügt sich selbst; über Solchem bleibet der Zorn Gottes, der mag sich auf die Gnade Gottes verlassen, so lange er will, er wird einst bey der Enthüllung seines Zustandes am Tage der Offenbarung mit Schrecken inne werden, daß er in einem elenden Selbstbetruge dahin gegangen ist; denn Fleisch und Blut, fleischliche Sicherheit und Trägheit, Leichtsinn und Faulheit können das Reich Gottes nimmermehr ererben. Darum bitte ich Jeden, der Ohren hat zu hören, zu prüfen und zu erforschen den Grund der Hoffnung, auf dem er steht; denn eines Jeglichen Grund muß durch’s Feuer bewährt werden.

Falsch ist das Vertrauen auf Gnade auch bey denjenigen, die das Verdienst JEsu Christi und die Gnade Gottes nur über die Bosheit und Unlauterkeit des Herzens herziehen, die ihre Unlauterkeit beybehalten, aber doch dabey sich des Verdienstes Christi rühmen wollen, welche die Schalkheit und Argheit ihres natürlichen Wesens nicht betrauern und bekämpfen, sondern die Gnade Gottes zum Deckmantel ihrer sogenannten Schwachheiten mißbrauchen wollen. Das heißt nichts anders, denn Christum zu einem Sündendiener zu machen, nichts anders, denn die Gnade Gottes mit Füßen treten. – Wer der Hoffnung lebt, in Christo Gnade und Leben und volles Genüge zu haben, der reiniget sich, gleichwie Er rein ist; denn das ist der Wille Gottes an uns, unsere Heiligung. Geheiligt sollen wir werden an Leib, Seele und Geist; unsere Kleider sollen gewaschen und helle gemacht werden im Blute des Lammes. Nur wer darin erfunden wird, nur wer ein Mitarbeiter des Heiligen Geistes an seiner eigenen Seele seyn will, nur ein Solcher darf sich mit Grund und gutem Fug der Gnade Gottes getrösten, die Andern nicht, welche vor jener inneren Läuterung, vor jener Ertödtung des alten Menschen in feiger Furcht sich zurückziehen, in ihrem alten Sinne beharren, und die geheime Lust zur Sünde beybehalten, und doch zugleich gerechtfertigt seyn, und einen gnädigen Gott und Vater im Himmel haben wollen. So betrügen sie sich selbst, so häufen sie sich die Schuld auf den Tag des Gerichts, denn die Untugend, die Liebe zur Sünde scheidet die Seele und ihren Gott auf ewig von einander. Ach, wie Mancher, der sich auf das Verdienst Christi verließ, und dabey sein Herz Dem, der ihn so theuer erkauft hat, nicht zur Reinigung und Erledigung von der Sünde übergeben wollte, wie Mancher, der fort und fort in einem geheimen Einverständniß mit der Sünde beharrte, und mit dem Geiste Gottes, der ihn züchtigte und strafte, über das Beybehalten dieser oder jener Neigung marktete, wie Mancher, der wenigstens einen Theil oder Winkel seines Herzens dem durchdringenden Lichte der heiligenden Gnade verschloß, wird an jenem Tage erschrecken, wenn der Sündengreuel, den er mehr und mehr in seinem herzen anwachsen ließ, verklagend und verdammend gegen ihn auftritt, und er mit Schmerz und tiefer Reue inne wird, daß er von eitlem Selbstbetrug umfangen war, und er zu seinem eigenen verderben die Straße der Thoren gewandelt ist. Nein, Christus ist kein Sündendiener; das sey ferne. Wer da Seines Verdienstes und Seiner Gnade sich getrösten will, wer da will, daß da Blut der Versöhnung fortwährend Gnade und Erbarmen auf ihn herabflehe, der muß sein Herz Christo heiligen zum ungetheilten Eigenthum, der muß die Reinigung empfahen von allen Sündenflecken; denn in jene neue Stadt darf nichts Unreines oder Gemeines eingehen, und draußen müssen bleiben die Verzagten und Ungläubigen und Greulichen, und die Todtschläger, und die Hurer, und Zauberer, und die Abgöttischen, und alle Lügner.

Falsch ist endlich da Vertrauen auf die Gnade Gottes auch bey denjenigen, die von der Gnade Gottes und Seinem Erbarmen viel reden und dichten, aber Alles ohne Christum. Es ist nämlich in neueren Zeiten aufgekommen, von der Liebe des Allvaters und von der Gnade des Allerbarmers zu sprechen, ohne des Mittlers JEsu Christi und Seines Verdienstes nur mit Einem Worte zu erwähnen; ja, während man den Sohn Gottes und das Werk Seiner Erlösung mit Füßen trat, und mit empörendem Undanke und schreyendem Unglauben behandelte, hat man die Liebe Gottes gerühmt, und nicht genug davon zu erzählen gewußt, wie Er so geduldig und so barmherzig und so liebreich sey gegen die Menschen, Seine schwachen Kinder, die jedoch nicht mehr an einen Heiland, an ein Blut der Versöhnung, an einen treuen und mitleidigen Bürgen und Versöhner zu glauben nöthig haben, weil ja dieß Alles veraltete Dinge und Fabeln seyen, die in der jetzigen weisen und aufgeklärten Zeit in ihrer Nacktheit und Blöße erkannt, und mit dem Lichte der Vernunft beleuchtet worden seyen. Und es hat auch schon manche nicht übel gesinnte Seelen gegeben, die sich durch das Gift dieser Lehre bethören ließen, und oft ihr ganzes Leben hindurch, oft bis in den Tod hinein, auf dieser Lüge blieben, und zur Schmach der ganzen Heilsanstalt Gottes im Neuen Bunde, zur Schmach des heiligen Leidens und Sterbens JEsu Christi, zur Schmach des großen Versöhnopfers, das Er dargebracht, die Liebe Gottes rühmen, ohne Den, in welchem wir allein angenehm werden können vor Gott, ohne Christum, den einzig Geliebten des Vaters. O eine schreckliche, eine finstere Lüge aus dem Reich der Lüge, o eine große Verblendung und Verstockung, nicht hören und begreifen zu wollen, daß ohne Christus Gott ein verzehrendes Feuer ist, dem sich die Sünder, sie seyen so gelehrt, so weise, so gebildet, so vornehm, so fromm, so tugendhaft als sie seyn mögen, ewig nicht nähern dürfen, ohne die Besprengung mit dem kostbaren Blute JEsu Christ, das für die Sünder um Barmherzigkeit ruft, und besser redet denn Abels Blut. Wofür ist denn Christus gekommen, wofür hat Er Sein Leben in Verläugnung und Selbstentäußerung vollendet, wofür unter den unerhörtesten Qualen und Martern Seinen Geist ausgehaucht, wofür die Pforten des Todes zerbrochen und eine ewige Gerechtigkeit wiedergebracht, wenn der Mensch ohne Ihn kann der Gnade Gottes theilhaftig werden, ohne Ihn vermag vor den Gott, der da drey Mal heilig ist, zu treten? Ach, mit dieser falschen Lehre, so viel sie auch durch Scheingründe ausgeschmückt werden mag, stürzt man endlich der Gottesläugnung in die Arme, wie es denn offenbar geworden ist, daß, wer den Sohn läugnet, auch den Vater nicht hat, und den Zorn Gottes zwiefach auf sich ladet um seines Unglaubens willen. Denn das ist die Sünde, darinnen alle andere Sünde stehet, daß sie nicht glauben an JEsum, der da ist vorgestellt zu einem Gnadenstuhl, daß sie Den verachten, der für die Sünder am Kreuze gehangen und für die Sünder hat Gnade empfangen zur Seligkeit. Und hat es sich nicht schon in dieser Zeit klar an’s Licht gestellt, daß solche vornehmen Geister, die da läugnen, daß Christus zur Versöhnung der Sünde ist in’s Fleisch gekommen, gerade da, wo der Mensch geworfelt wird, da, wo der Feind das Leben verklagt, da, wo die Ewigkeit mit ernstem, ruhigem Schritte über ihn hereinbricht und die Hand ausstreckt, allen Muth und alle Kraft, alle Besinnung und Standhaftigkeit, alles Vertrauen auf die Liebe Gottes verloren haben, und weil sie Ihn nicht kennen lernten als den in Christo versöhnten Vater, mit ihrem Glauben schon in dieser Zeit zu Schanden wurden, wie vielmehr aber dann in der Ewigkeit? O wenn das Gefühl der Schuld aufwacht im Herzen, und das Gesetz Blitze und Donner herschleudert vom Sinai, und die Sünde uns anblickt in ihrer ganzen furchtbaren Gestalt, und der Verkläger die Seele verklagt, da muß der Geist etwas Festeres und Gewisseres haben als den feder-leichten Gedanken und den lustigen Begriff von der Liebe Gottes, den man doch nicht kennt, den man nicht gesucht, in dessen Gemeinschaft man nicht gelebt hat; da kann nichts den Anker der Hoffnung halten als das Blut der Versöhnung, der Glaube an die gekreuzigte Liebe, das Vertrauen auf die Gerechtigkeit, die uns in Christo geschenkt ist. Nur wer auf das Opfer des Lammes vertraut, hat auf den Fels des Heils gebaut.

II.

Schon während ich das falsche Vertrauen auf die Gnade Gottes bezeichnete, habe ich angedeutet, worin denn eigentlich das wahre und rechte Vertrauen bestehe; wir werden deßhalb hier desto kürzer seyn können. Betrachten wir den Apostel Paulus, dem der HErr selbst gesagt hat: „laß dir an meiner Gnade genügen“, den also der HErr selbst im Einzelnen und Besonderen Seiner Gnade versicherte, so fragt es ich: wie kam es denn, daß der Heiland selbst ihm die Vorschrift gab, sich ganz und ungezweifelt an Seiner Gnade festzuklammern, und daran auszuruhen wie ein Kind an der Mutter Brust; was war denn bey’m Apostel, abgesehen von seinem Apostelamt, der Grund, warum er sich so fest und zuversichtlich der Gnade seines Gottes und Heilandes versichert halten durfte?

Für’s Erste wissen wir, daß es bey dem Apostel eine Zeit gegeben hat, in der er aus dem Reiche des Satans und aus der Obrigkeit der Finsterniß in das Reich des Lichtes und der Gnade versetzt wurde; wir wissen, daß sich der Apostel das Vertrauen auf die Gnade nicht anmaßte, sofern er ein Saulus, sondern sofern er ein Paulus war. Darin aber liegt eben ein gewaltiger Unterschied zwischen ihm und so manchen Christen unserer Tage, die zwar wohl auch der Gnade Gottes sich versichert halten, aber der Wiedergeburt ermangeln, und der Bekehrung von den todten Götzen dieser Welt zu dem lebendigen Gott. Es ist noch keine Veränderung, keine Wiedergeburt bey ihnen vorgegangen; sie sind noch in ihrem alten natürlichen Zustande; sie haben noch niemals ernstlich gefragt: „was muß ich doch thun, daß ich selig werde?“ Sie haben ohne Weiteres das Verdienst JEsu Christi an sich gerissen als einen Raub, und während sie in ihrer natürlichen Sorglosigkeit dahin gehen, so trösten sie sich damit, es habe keine Gefahr, weil ja Gott ihnen gnädig sey, und wiegen sich so ein in stumpfe Sicherheit, in den Todesschlaf des fleischlichen Lebens. Darum prüfe sich, wer sich prüfen kann, ob ihr die Kraft des Heiligen Geistes wahrhaftig an eurem herzen erfahren habt, ob eine Zeit in euer Leben eingewoben sey, in welcher ihr wirklich in ein neues Leben des Geistes eingetreten, in ein neues Element der Gnade und Wahrheit versetzt worden seyd. Nur wer in Christo eine neue Kreatur geworden, kann sich mit Recht der Gnade Gottes getrösten.

Jedoch, es kommt nicht sowohl darauf an, was wir gewesen, was wir geworden sind, sondern hauptsächlich darauf, was wir gegenwärtig sind. Denn dem Apostel Paulus, der sich der Gnade Gottes getröstete, lag hauptsächlich das von nun an am herzen, mehr und mehr ein rechtschaffenes, gereinigtes und fruchtbares Glied am Leibe Christi zu seyn. Darum suchte er, wie er selbst sagt, die Sünde zu dämpfen in seinem sterblichen Leibe; darum überließ er sich willig der Bearbeitung des Geistes Gottes, und wünschte geheiliget zu werden an Leib, Seele und Geist; es war sein höchstes Anliegen, daß die Sünde in ihm möchte ersterben, und er selbst etwas würde zur Ehre und zum Wohlgefallen seines großen Gottes und Heilandes. Ist es bey uns auch also, liebe Zuhörer? Ist es auch unser höchstes Anliegen, daß Christus in uns wohne und eine Gestalt in uns gewinne, daß alle Finsterniß und alle satanischen Kräfte in uns ausgetilgt, und wir in das Element des Lichtes getaucht werden? Bestreben wir uns auch, den Heiland von innen und außen mit unserm Reden und Handeln zu gefallen, und unverrückt in Seiner Gemeinschaft erfunden zu werden? Wenn wir also Reben sind an Christo, dem Weinstock, dann sind wir dem Vater angenehm in dem Geliebten; dann strahlt Seine vollkommene Gnade auf uns hernieder, und ob alle Stürme der Trübsal von außen und innen über uns tobten, und alle Wogen der Anfechtung über unserem Haupte zusammenschlügen, so bleibt doch die Gnade Gottes unverrückt, und unser Vertrauen auf sie soll nicht zu Schanden werden. Ja, so wir an Ihm bleiben, dem treuen Heiland, so wird Er die Krone der Gerechtigkeit auf unser Haupt, und die Palme der Ueberwinder einst in unsere Hände geben; denn die Glieder der streitenden Kirche sollen zur Gemeinschaft der triumphirenden versammelt werden.

Ein weiteres Merkmal in dem innern Leben des Apostels Paulus, wodurch sein Vertrauen auf die Gnade als ein lebendiges und ächtes sich rechtfertigte, war das, daß er nicht seine eigene Gerechtigkeit suchte, die aus dem Gesetze, sondern die durch den Glauben an Christum kam; von sich weg blickte er allein auf Christum; in Seinem Verdienste fand er leben und volles Genüge; die Gründe seiner ewigen Seligkeit suchte er nirgends anders als da, wo sie seit Ewigkeit bereitet liegen, im ewigen Erbarmen; ungezweifelt fußte er auf das Opfer des Lammes; sein Vertrauen auf die Gnade Gottes war nur das Vertrauen auf die Vollgültigkeit des Verdienstes Christi, und darum war sein Vertrauen rechter Art und ohne Fehl. Nun frage dich, ob du auch dahin deinen Hoffnungs-Anker geworfen habest, oder ob sich dir neben das Verdienst Christi noch andere Stützpunkte deiner Seligkeit stellen? frage dich, ob noch etwas an dir selber ist, es heiße, wie es wolle, es sey die Summe deiner guten Werke oder deine Gottes- und Nächsten-Liebe, die du vermeintlich oder wirklich besitzen magst, worauf du zum Theil wenigstens die Hoffnung der Gnade Gottes gründest. Wahrlich, ist dieß der Fall, dann ist dein Vertrauen nicht rechter Art, dann sieh’ wohl zu, daß du nicht zu Schanden wirst vor dem Angesichte und vor dem Alles durchdringenden, Herzen und Nieren prüfenden Auge des allwissenden Gottes.

Darum auf Gott will hoffen ich,
Auf mein Verdienst nicht bauen,
Auf Ihn mein Herz soll lassen sich,
Und Seiner Güte trauen,
Die mir zugesagt Sein werthes Wort,
Das ist mein Trost und treuer Hort,
Deß will ich all’zeit harren.

Aber möchte vielleicht Einer oder der Andere unter euch antworten: Solches Alles weiß ich wohl, ich kämpfe auch schon lange um diese selige Gewißheit; aber noch ist es mir nicht gelungen, zu ihr hindurchzudringen; ich wünschte zwar, mich ganz und ungezweifelt dem HErrn JEsu Christo in die Arme zu werfen, aber ich vermag es noch nicht; es scheint eben Alles an mir verloren zu seyn, ich bin leer vom Gefühl der Gnade Gottes, leer von der Gewißheit Seines ewigen Erbarmens, leer von Liebe zu Ihm, entblättert von den Früchten der Gerechtigkeit, und werth, als eine unnütze, dürre Rebe in’s Feuer geworfen zu werden. Liebe Seele, für dich, die du also sprichst, habe ich ein Evangelium, ein Wort, das dich erquicken soll. Den zerschlagenen und demüthigen Geistern ist Heil bereitet; gerade denen, die da arm sind und elend und in sich verzagen, und alle Hoffnung aufgeben, daß noch etwas werden könne aus ihnen zum Lobe der herrlichen Gnade Gottes, gerade denen gilt das Wort der ewigen Liebe: „laß dir an meiner Gnade genügen!“ Du sprichst in deinem Herzen: dieses Wort gilt freilich, aber es gilt einem Apostel Paulus, aber nicht mir, einer so elenden, jämmerlichen und unwürdigen Kreatur. Nein, ich sage dir; dir elenden und unwerthen Kreatur gilt das Wort: „laß dir an Seiner Gnade genügen“; denn wenn sie nicht für Unwürdige und Unwerthe, wenn sie nicht für Leute bestimmt wäre, in deren Zahl du hineingehörst, so würde Gnade nicht mehr Gnade seyn. Blicke weg von Würdigkeit oder Unwürdigkeit, und schaue an die freie Gnade, die sich an den Unwürdigsten und Elendesten, an den Aermsten und Sündigsten offenbaren und verherrlichen will. Dieß laß dir einen starken Trost seyn; dieß halte dem Satan entgegen, wenn er dich auch plaget und mit Fäusten schläget.

Spricht dein Herz gleich lauter Nein,
Sein Wort laß dir gewisser seyn.

O liebe Zuhörer, es gibt vorher keine Ruhe, keinen Frieden, keine Freudigkeit für den ruhelosen Geist, keinen Halt für das umgetriebene Herz, als bis wir auf die lautere und freie Gnade niedersinken. Das ist es, was frohe Zuversicht verleiht, was getrosten Muth einflößt in Noth und Angst, ja selbst im Tode und vor dem Gerichte uns mit Freudigkeit erfüllt. Wer auf dem Felsen dieser Gnade steht; er darf sich nimmer fürchten vor der verdammenden Stimme seines eigenen Gewissens; er weicht daher auch dem Gerichte desselben nicht mehr aus; er läßt sich einführen in die vollkommene Wahrheit, wenn diese auch ihm seine eigene Gestalt in ihrer ganzen Häßlichkeit und Schnödigkeit offenbaren sollte. Er kennt ja die Gnade, die über alles Bitten und Verstehen geht, und im Blute des Lammes alle Sünde getilgt und alle Missethat hinweggethan hat. Und schleicht der Verkläger der Seelen heran, um an den Grundmauern seines Gnadenstandes zu rütteln, um seine ewige Erwählung und Berufung ihm verdächtig zu machen, so weist er ihn nicht auf dieses oder jenes gute Werk, sondern auf das, was einmal geschehen ist, und ewiglich gilt, auf das große Opfer, durch das vollendet sind Alle, die da geheiliget werden. Und naht der Tod heran in seiner Schreckensgestalt, und wird er gewogen auf der Wagschale des ewigen Gerichtes, so hat er einen ewigen Trost, und lebt auf Gnade und stirbt auf Gnade, und will in Zeit und Ewigkeit nichts als Gnade. Wird endlich die Hütte abgelegt, so gehet er hinüber in Frieden, und spricht:

Mein’ Arbeit geht zu Ende,
Und der Sabbath bricht mir an.
Dir durchgrab’nen Füß’ und Hände,
Haben All’s für mich gethan.

Der HErr wolle uns Alle diesen Grund der Gnade, der ewiglich bleibet, finden lassen. Amen!

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