Hofacker, Ludwig - Predigt am dritten Sonntage des Advents.

Hofacker, Ludwig - Predigt am dritten Sonntage des Advents.

Text: Matth. 11,2 - 10

Da aber Johannes im Gefängniß die Werke Christi hörete, sandte er seiner Jünger zween, und ließ ihm sagen: bist Du, der da kommen soll, oder sollen wir eines Andern warten? JEsus antwortete, und sprach zu ihnen: gehet hin, und saget Johanni wieder, was ihr sehet und höret; die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, und die Tauben hören, die Todten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium geprediget. und selig ist, der sich nicht an mir ärgert. Da die hingiengen, fieng JEsus an zu reden zu dem Volke von Johanne: was seyd ihr hinausgegangen in die Wüste, zu sehen? Wolltet ihr ein Rohr sehen, das der Wind hin und her wehet? Oder was seyd ihr hinausgegangen zu sehen? Wolltet ihr einen Menschen in weichen Kleidern sehen? Siehe, die da weiche Kleider tragen, sind in der Könige Häusern. Oder was seyd ihr hinausgegangen zu sehen? wolltet ihr einen Propheten sehen? Ja, ich sage euch, der auch mehr ist denn ein Prophet. Denn dieser ist's, von dem geschrieben stehet, siehe, Ich sende meinen Engel vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll.

In unserem heutigen Evangelium wird uns die Verhärtung des menschlichen Herzens gegen die Kraft der göttlichen Wahrheit auf besondere Weise vor die Augen geführt. Die zwei Jünger Johannis, die ihr Meister zu JEsu sandte, hatten vorher die Zeugnisse, die der Täufer von Christo ablegte, mit angehört; es war auch zu ihnen die Kunde von den Thaten des Heilandes gedrungen, und doch können sie den Heiland fragen: bist Du der Messias, oder sollen wir eines Andern warten? So wenig waren die trifftigsten Zeugnisse im Stande gewesen, ihren im Unglauben und in allerhand Aergernissen, die sie an Christo nahmen, verhärteten Sinn zu beugen, und ihre zweifelnden Gedanken zur Stille, und zu einem festen, siegenden Schluß, oder, mit andern Worten, zum Glauben zu bringen. Die ungläubige schwankende Gemüthslage dieser zwey Jünger Johannis gab dann dem Heiland Veranlassung, bey ihrem Weggehen zu dem Volke von der Art zu reden, wie es den Täufer, diesen größten unter allen Propheten, aufgenommen habe; wie sie durch ihre Lüste Aergernisse an ihm genommen, und in heillosem Unglauben sich von seinem Worte gewendet haben.

O meine lieben Zuhörer! die Worte, die der HErr JEsus in unserem Evangelium und dem ganzen übrigen eilften Kapitel Matthäi hierüber zu dem Volke spricht, sind sehr bedeutend, und gehen uns sehr nahe an. Zwar haben wir, die wir im neunzehnten Jahrhundert leben, uns nicht am Täufer Johannes verschuldet wie das jüdische Volk: aber ob wir mit dem uns gepredigten Worte Gottes nicht eben so heillos umgegangen sind oder umgehen wie Jene: ob wir nicht großentheils auch die Wahrheit in Ungerechtigkeit aufhalten wie Jene: das ist eine andere Frage. Die Absicht, warum uns Gott Sein Wort verkündigen lässet, und zu dem Worte den Geist gibt, ist keine andere, als daß die Menschen, und zwar jeder Einzelne, möchten in das durch die Sünde verlorne Ebenbild Gottes erneuert werden. Die Menschen sollen durch das Wort und den Geist Gottes gerührt; aber nicht nur oberflächlich gerührt, sondern auch wirklich aus ihrem Sündenschlafe erweckt; aber nicht nur erweckt, sondern auch zum Genuß des Verdienstes Christi, zur Vergebung der Sünden durch den Glauben an JEsum gebracht; aber nicht nur zum Glauben an JEsum gebracht werden, sondern auch im neuen Leben wandeln als Kinder Gottes. Dieß ist die Absicht Gottes. Aber an wie Vielen erreicht Er diese Seine liebevolle Absicht ganz? An Wenigen. Warum? hauptsächlich darum, weil es den Menschen unbequem ist, sich, sowohl nach ihrem herzen als nach ihrem Verstande nach dem Worte Gottes zu beugen; weil sie viel lieber das Wort Gottes nach ihren verborgenen oder offenbaren Lüsten und nach ihren Vorstellungen, geschwinden Einfällen und guten Meinungen selber biegen, mit andern Worten: die Kraft des Wortes Gottes wird an den Menschen aufgehalten durch allerhand Aergernisse.

Doch wir wollen diesen Gedanken weiter nachgehen, und ich will mit Gottes Hülfe einige Hindernisse angeben, warum es bey vielen Menschen

  • zu keiner Rührung durch das Wort Gottes komme;
  • wenn sie auch gerührt werden, zu keiner wirklichen Erweckung;
  • wenn sie auch erweckt werden, zu keinem Frieden mit Gott durch Christum;
  • wenn sie auch Frieden finden, zu keinem rechtschaffenen Wesen in Christo.

Liebreicher Heiland! Du thust unaussprechlich Viel an uns, begegnest uns allenthalben, und trachtest, uns unser Herz abzugewinnen. Wir aber sind großentheils so fremd gegen Dich, und schließen die Thore unsers Herzens vor Dir zu als vor einem Feinde. Ach! offenbare doch unsern Herzen die große Abneigung und Widrigkeit gegen Dich, worin wir gefangen sind; zeige uns im Lichte Deiner Wahrheit die verborgenen Ursachen dieser Widrigkeit; zerstöre die Befestigungen der Eigenliebe, der Lüge, der falschen Tröstungen; richte Dir eine Bahn an in unsern Herzen, und ruhe nicht, bis Dir Alles darin zu Deinen Füßen liegt! Amen.

I.

Das Erste, was in einem Menschen vorgehen muß, an welchem die Absicht, die Gott mit Seinem Worte hat, erreicht werden soll, ist das, daß er muß durch die Kraft des Wortes Gottes gerührt, auf seinen verlornen Zustand aufmerksam gemacht werden. Dieß lag im Auftrag Johannis des Täufers. Er sollte den Israeliten ihre Sünde vorhalten, er sollte eine Bewegung unter ihnen anrichten durch das Wort Gottes, das er predigte; er sollte Bahn machen; das Höckrigte sollte sein Wort eben, und das Krumme gerade machen, damit der Heiland einen offenen Weg in die Herzen fände. Dieses Geschäft ist ihm auch an vielen Menschen gelungen. Viele wurden durch das Wort des Propheten erschüttert, von der Ungerechtigkeit ihrer Wege überzeugt, und ließen sich taufen mit der Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden. Aber an Vielen richtete das Wort des Täufers nichts aus. Und so ist es noch jetzt mit dem Worte: auf Viele macht es keinen, auch nicht den ersten Eindruck.

Woher kommt das? Wenn man diese Frage beantworten soll, so muß man zum Voraus sagen, daß es überhaupt für ein großes Wunder zu achten ist, wenn ein Menschenherz einen Eindruck von der göttlichen Wahrheit bekommt. Es ist dieß ein Wunder, das nur durch die göttliche Lebenskraft, die im Worte liegt, erklärbar wird. Denn unsere Herzen sind von Natur kalt, todt, undurchdringlich für das Göttliche wie Stein. Der Heiland redet in unserem Evangelium von Blinden, Lahmen, Tauben, Aussätzigen, die Er geheilt habe, und versteht darunter leiblich Kranke. Aber wie viele Menschen äußerlich am Leibe gelitten haben, ehe sie der Heiland heilte, ebenso, ja noch vielmehr, leiden alle Menschen von Natur am Geiste. Ich könnte Stellen der heiligen Schrift anführen, welche Euch beweisen sollten, daß wir von Natur geistlich blind, geistlich lahm, geistlich aussätzig, geistlich taub sind, nämlich in Beziehung auf Gott und das Leben in Gott; in Beziehung auf die Welt und das Leben in der Welt hat unsere Seele gesunde Sinne und Kräfte. Es würde mich aber zu weit führen, und auch nicht viel nützen. Denn bevor ein Mensch erleuchtet und lebendig gemacht wird durch den heiligen Geist, glaubt er nicht, daß er so elend ist. Und eben in dieser Hinsicht sind wir dem Geiste nach kränker, als es jene Kranken dem Leibe nach waren. Denn diese fühlten doch ihr Elend; sie seufzten unter ihrer Last; es trieb sie zum Heiland, zum Arzte; wir aber fühlen es nicht einmal; kennen es nicht; es ist uns keine Last, bevor der Heiland durch Seinen Geist eine Erkenntniß unseres Verderbens in uns anregt, und ein Verlangen nach etwas Besserem in uns erweckt. Daß ich es kurz sage: wir sind von Natur todt in Sünden. einen Todten aufwecken ist aber Gottes Werk. Darum habe ich gesagt: es sey überhaupt für ein großes Wunder zu achten, wenn ein Menschenherz einen Eindruck von der göttlichen Wahrheit bekommt.

Indessen gibt es Herzensstellungen und Gemüthslagen, die den Menschen für die Kraft des Wortes Gottes doppelt unzugänglich machen. Dieser Fall tritt ein, wenn eben jener erstorbene Herzenszustand für Weisheit oder für Frömmigkeit ausgegeben wird. Ein entsetzlicher, aber unter den Menschen sehr häufiger Betrug der Sünde! Die Kälte und Entfremdung des Herzens gegen Gott, die Blindheit in Absicht auf göttliche Wahrheiten wird dann so wenig als etwas Drückendes gefühlt, daß man vielmehr entweder sich derselben als der wahren Weisheit rühmt, oder sie, nachdem man sie in die Schranken der bürgerlichen Rechtlichkeit und der äußerlichen Gottesdienstlichkeit gezwungen hat, für die wahre Frömmigkeit, für das wahre Leben aus Gott ausgibt. So ist der Mensch zwiefach erstorben, nämlich 1) von Natur, und 2) dadurch, daß er seinen Tod für das Leben hält (Joh. 9,41.).

Um Euch aber dieses deutlicher zu machen, so will ich es Euch so sagen. Die für die Kraft des Wortes Gottes unbesiegbarsten Menschen, die noch einmal so viel Bollwerke gegen Gottes Wort in ihrem Herzen haben als Andere, sind die Sadducäer und die Pharisäer. Von diesen zwei Sekten waren die Leute, welchen der HErr (Matth. 21,32.) das scharfe Wort sagte: „Johannes kam zu euch, und lehrete euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und ob ihr es wohl sahet, thatet ihr dennoch nicht Buße, daß ihr ihm darnach auch geglaubt hättet.“

Die Sadducäer waren gebildete Weltleute, Leute, die ihre eigene Religion hatten, welche die Volksreligion für Aberglauben hielten, und sich weit über den Pöbel hinaufdachten mit ihren aufgeklärten Religionsansichten. Weil der fleischliche Mensch, dessen Trieb auf das Sichtbare geht, keine Freude am Unsichtbaren hat, und der Gedanke an eine Geisterwelt und Ewigkeit mit einem unheimlichen Gefühl für ihn verbunden ist: so hatten es sich die Sadducäer bequem gemacht. Sie entfernten aus ihrer selbstgemachten Religion Alles, was nur von ferne an eine unsichtbare Welt erinnerte; sie verwarfen eigenmächtig das göttliche Ansehen aller alttestamentlichen Bücher bis auf die fünf Bücher Mosis, wo, wie sie behaupteten, der Wahnglaube an eine Auferstehung nicht eingedrungen sey (Matth. 22,29-32.); sie glaubten keinen Engel noch Geist, keine Auferstehung der Todten, vielleicht nicht einmal eine Unsterblichkeit der Seele. - Dieß Alles hatte viel zu sehr die Gestalt des Aberglaubens, oder konnte dazu Anlaß geben. Sie scheinen den Grundsatz gehabt zu haben, der auch in unsern Tagen den sogenannten aufgeklärten Religionsansichten auf eine offenbarere oder verstecktere Weise zu Grunde liegt, daß nichts zu glauben sey, was nicht in die fünf Sinne falle. Diesen aus dem Fleische, aus tiefer Blindheit des Herzens und aus den gröbsten sinnlichsten Begriffen entsprungenen Wahn nannten sie Weisheit, Aufklärung, geistigere Religionsansichten. Dabei suchten sie natürlich ihr Theil in dieser Welt, trachteten nach Ehre, nach Geld, nach Wollüsten; die Welt und was die Welt gibt, das war ihnen groß; das Unsichtbare war nichts in ihren Augen, und so sehr sie sich feiner und geläuterter Religionsbegriffe rühmten, so grob dienten und fröhnten sie den Lüsten und Begierden des Fleisches.

Ihr sehet, liebe Zuhörer! daß eben nicht viel Kunst und Weisheit dazu erforderlich ist, um ein Sadducäer zu seyn; auch könnet ihr das sehen, daß die Sadducäer gegenwärtig überhand genommen haben in der Welt. Wie sehr aber eine solche Denkungsart gegen die züchtigende und ergreifende Kraft des Wortes Gottes das Herz verschließe, werde ich euch nicht erst beweisen dürfen. Was mag Johannes der Täufer für ein verächtliches Lichtlein in den Augen dieser aufgeblasenen Leute gewesen seyn; was muß die einfältige Predigt des Evangeliums für ein thörichtes Ding vor einem solchen Weltweisen seyn! Wie wenig kann der Geist Gottes durch das verworfene und für einen Aberglauben gehaltene Wort einem solchen stolzen Herzen beykommen! Wahrlich! es war schon viel, wenn ein solcher weiser Mann nur hinausgieng, um den armseligen Propheten in der Wüste zu hören! Es war viel, wenn er den Bußprediger nicht in's Angesicht hinein auslachte. Und wenn je ein oder das andere Wort des Täufers einen solchen Sadducäer traf: so war der Eindruck von seinen Freunden bald wieder weggelacht und weggespottet.

II.

Die zweite Denkungsart, welche das Herz gegen die Kraft des Wortes Gottes besonders verriegelt, ist die der Pharisäer. Sie wickelten sich in ein äußeres Scheinbild von Gerechtigkeit; nannten dieses die wahre Gerechtigkeit, ob sie gleich die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht kannten, auch mit keinem Finger berührten. Das Gesetz ist geistlich und richtet die innersten Triebe und Gedanken des Herzens. Dieß ist dem fleischlichen Menschen, der die Sünde lieb hat, unbequem. Um nun doch ihrem Gewissen, das die Unterwerfung unter das Gesetz forderte, einigermaßen Genüge zu thun, warfen sich die Pharisäer mit aller Macht auf die Beobachtung des äußern mosaischen Gesetzes, und waren darin übertrieben genau, andächtig und gottesdienstlich. Hiebey fand das Fleisch immer noch seine volle Nahrung; es wurde ihm kein Abbruch gethan, wenn es sich nur in gewisse äußerliche Schranken fügte. So brachten sie einen Schein von Gerechtigkeit zu Stande, und kamen so weit, daß sie diese fleischliche Gerechtigkeit für die Gerechtigkeit hielten, die vor Gott hielt; sich sehr viel darauf zu gut thaten, und Alle, die nicht in eben dem Lügenbild gefangen waren wie sie, den Heiland (z.B. Matth. 11,19.9,11. Luc. 15,2.) auf das Tiefste verachteten. In solche eigengefällige und selbstgerechte Lügner hat, wie leicht einzusehen ist, das Wort der Buße keinen Eingang, wenn nicht Gott ein besonderes Wunder thut.

Wir dürfen aber nicht meinen, liebe Zuhörer, als ob es unter uns keine Pharisäer mehr gebe, und diese Denkungsart nur jener jüdischen Sitte angehört habe. O nein! auch in der Christenheit sind viele, erstaunlich viele Pharisäer. Nur die äußere Gestalt der Sache hat sich verändert; der darunterliegende Sinn ist der nämliche wie damals. Es gibt freilich keine Leute unter uns, die breite Denkzettel an ihren Kleidern tragen, die keinen Bissen Brod essen, ohne vorher die Hände zu waschen, und die aus diesen und dergleichen äußerlichen Beobachtungen und Uebungen eine Gerechtigkeit zusammenflicken, die vor Gott gelten soll; solche Dinge haben in der christlichen Kirche ihren Werth und ihr Ansehen verloren, und taugen nicht mehr zu unsern Sitten. Aber gibt es nicht auch Menschen unter uns, die in ihrer Herzensblindheit das, was äußerlich im Christenthum ist, für das Wesentliche ansehen, und die Beförderungsmittel der Gottseligkeit - die Gnadenmittel, für die Gottseligkeit und Gnade selber halten? Wie Viele mögen wohl unter uns seyn, ja wohl unter uns, die sich auf ihre Frömmigkeit, auf ihr rechtschaffenes Christenthum etwas zu gut thun, und weil sie fleißig zur Kirche und zum heiligen Abendmahl gehen, weil sie in der Bibel lesen, und zu ihren Zeiten ihre Gebete verrichten, sich für gute Christen halten, und meinen, die Aufforderung zur Bekehrung gehe sie nicht an, indem sie solches nicht nöthig haben? Sehet, das sind die nämlichen Pharisäer wie zu der Zeit Christi; sie wickeln sich, wie jene, in ein äußeres Scheinbild der Gerechtigkeit, und nennen dieses die wahre Gerechtigkeit. Und was soll ich sagen von den tugendhaften Leuten dieses Zeitlaufes, welche die Gerechtigkeit und das Verdienst Christi meinen, entbehren zu können, und eben darum das Wort vom Kreuze, wenn es ihnen ohne Schminke angeboten wird, schnöde von sich weisen? Ist es denn eine wahre Tugend, deren sie sich rühmen? Nein! nur ein elendes Flickwerk von allerhand eigenliebigem Selbstbetrug, von allerhand vermeintlichen Vorzügen, die das eigengefällige Herz sich selbst zugesprochen hat, oder die es, auf die heuchlerischen Schmeichelworte Anderer hin, an sich zu finden glaubt; eine Mischung von natürlicher Gutmüthigkeit, Stolz, Thorheit und Unbekanntschaft mit dem Willen Gottes, die erst das Feuer jenes Tages zersetzen muß. Diese Pharisäer sind gewöhnlich Sünder, die es mit dem Sündigen in's Große und Grobe getrieben haben und treiben. Ich habe schon zu bemerken die Gelegenheit gehabt, daß Leute, die es im Lügen und Betrügen, in allerhand Unzuchtshändeln, im Verläumden, im Spott und Verachtung des Nächsten, im Fressen und Saufen, und in den andern Werken des Fleisches weiter gebracht haben als Andere, sich am meisten mit ihrer Tugend brüsten; nicht bloß, um sich vor den Menschen einen guten Schein zu geben, sondern aus eigener innerer Ueberzeugung. Dieser Widerspruch kommt daher, weil der Dienst der Welt und der Sünde das Gewissen abstumpft, und das Licht desselbigen verdunkelt. Der ganze Ruhm solcher Leute besteht darin, daß sie sich auf eine artige abgeschliffene Weise gegen ihresgleichen betragen; ferner in einigen, wie sie es nennen, guten Thaten, von welchen sie in neueren Schriften lesen, daß man dadurch selig werde, und darin, daß sie noch Niemand todtgeschlagen haben; denn alle übrigen Gebote haben sie in der Regel oft und vollständig übertreten. Bey ihren Sünden, die sie Fehler und Schwachheiten nennen, haben sie es doch immer gut gemeint, ob sie gleich oft verkannt worden sind, und so das Bild der verkannten Tugend haben darstellen müssen. Die Ewigkeit, meinen sie, wird das Räthsel lösen, warum die Tugend hienieden öfters leiden muß. Das ist das Pharisäerthum unserer Zeit, vermischt mit sadducäischen Grundsätzen; solche Leute sind unzugänglich für das Wort Gottes, mit Lügen zehnfach verschanzt gegen die Wahrheit, zweifach erstorben.

Diese Pharisäer haben keine Erkenntniß des Evangeliums. Es gibt aber auch Pharisäer, welche christliche Erkenntniß haben, die Heilslehre wohl kennen, schon Vieles vom Heiland gehört, wohl auch selbst von Ihm geredet haben, und sind doch todt im Herzen. Diese halten ihre Erkenntniß, ihre Sprüche, ihre Verse, die sie im Kopfe haben, ihr Anerlerntes, das auf der Oberfläche ihres Herzens schwimmt, und niemals in ihr Blut und Leben eingedrungen ist, für das wahre, ihnen eigenthümliche, göttliche Leben. Diese sind wohl die unzugänglichsten für die Kraft des Wortes. Was sie davon lesen oder hören, das ist ihnen schon bekannt, und eine alte ausgemachte Sache. Ist das Wort Gottes scharf, so denken sie: das ist gut für die Unbußfertigen. Ist das Wort tröstend, so deuten sie es ganz auf sich; redet das Wort von Gläubigen, von Kindern Gottes, so sind sie darunter gemeint; ist von Ungläubigen die Rede, so sind Andere darunter verstanden. So wird die Kraft des Wortes ganz an ihren Herzen gebrochen und abgestumpft; sie meinen, sie hätten den Himmel gepachtet. Ein jämmerlicher Herzenszustand! -

Wer ist denn nun empfänglich für die Kraft des Wortes Gottes? Antwort: den Armen wird das Evangelium geprediget, und am Ende des eilften Kapitels des Evangeliums Matthäi, aus welchem der evangelische Abschnitt des heutigen Sonntags genommen ist, sagt der Heiland: „Kommet her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken.“ Wer in einem äußerlichen Leidensdrucke steht, in wem Zweifel an seiner eigenen Weisheit erwachen, wer in seinem Gewissen beunruhigt ist, solche Seelen sind dazu vorbereitet, durch die Kraft des Wortes Gottes getroffen zu werden. Wo aber dieß Alles nicht eintrifft, da findet die bittere und demüthigende Wahrheit keinen Raum, und wenn ein solcher Mensch doch durch das Wort Gottes erschüttert wird, so ist es, wie oben gesagt wurde, ein doppeltes Wunder.

Aber freilich bey den ersten Rührungen darf es nicht bleiben, es muß zu einer eigentlichen Erweckung kommen bey einem Menschen, wenn der Zweck, den Gott hat mit Seinem Wort und Geist, an ihm erreicht werden soll. Gott will mit der Kraft Seines Wortes nicht bloß einen oberflächlichen Eindruck auf das Herz des Menschen machen, nein! es soll auch tiefer dringen; es soll hinunterdringen auf des Herzens Grund; es soll des Herzens innerste Gestalt offenbaren; es soll schneiden, bis daß es scheide Seele und Geist, auch Mark und Bein (Hebr. 4,12.). Wenn du einen Menschen, der sorglos am Rande eines unergründlichen Abgrundes schläft, hundert Mal anstoßen und zu ihm sagen würdest: Freund! wache auf, und bedenke deine gefährliche Lage! und er würde hundert Mal die Augen aufschlagen und sprechen: du hast Recht, ich will aufstehen; würde aber jedes Mal die Augen wieder schließen und fortschlafen, was würde zuletzt aus ihm werden? Ueber kurz oder lang würde er trotz aller dieser Anmahnungen, von seinem schweren Schlafe überwältigt, in den Abgrund stürzen. So ist's auch nicht genug, daß ein Mensch durch das Wort Gottes gerührt werde, man muß aufwachen von seinem Sündenschlafe, vom Schlafe der Sorglosigkeit und natürlichen Sicherheit; man muß auch die Augen offen behalten, und sein Elend, seinen gefährlichen, seinen verzweifelt-gefährlichen Seelenzustand kennen lernen: sonst kann man nicht errettet werden aus der Obrigkeit der Finsterniß, und fällt doch über kurz oder lang der höllischen Verdammniß anheim.

Liebe Zuhörer! dieses völlige Wachwerden ist aber eben keine angenehme Sache für das Fleisch. Ihr wisset ja, wie es mit dem leiblichen Schlafe ist. Wenn man gerade in tiefem, festem Schlafe liegt, und es kommt Jemand, und weckt und spricht: „stehe auf, du hast dieß und das zu thun“, so ist das etwas Unangenehmes; es kostet Ueberwindung, sich aus seinem tiefen und festen Schlafe herauswecken zu lassen, die Augen aufzuthun, und völlig wach zu werden. Viel lieber würde man, wenn der Weckende weggegangen ist, sich auf die andere Seite legen und den Schlaf von vorne anfangen. So ist es auch im Geistlichen. Wenn das Wort Gottes das Herz rührt, wenn die Weckstimme des Sohnes Gottes an das Herz dringt: so ist es viel angenehmer, diese Stimme, wenn sie verhallt ist, wieder zu vergessen, und sich seiner vorigen fleischlichen Sicherheit zu überlassen. Ja! wenn es wie ein Donner in die Ohren getönt hat: „stehe auf, du Kind des Verderbens!“ so erschrickt man zwar, fährt erschrocken auf; aber bald kommt die vorige Schläfrigkeit wieder; der Schreckenseindruck verwischt sich; die Augen sinken wieder zu; und es kann kommen, daß man auf eine so kräftige Rührung hin wieder schläft und schnarcht, daß es in der Nachbarschaft gehört wird. Es kostet allerdings einige Ueberwindung; es kostet Verläugnung, wahrhaft geistlich wachend zu werden, und sein Elend, sein Verderben, seinen Aussatz kennen zu lernen. Man muß die Eindrücke, die das Wort Gottes auf das Herz gemacht hat, in sich erneuen und erneuen lassen; man muß unter der Zucht des Geistes Gottes aushalten; man muß sich einige Gewalt anthun; es ist dem Fleische eben nicht bequem. Auch hat man indessen etwa schöne Träume gehabt; man hat geträumt von allerhand Dingen, die dem Fleische wohlgefallen; man hat geträumt von Sündlichem oder nicht gerade Sündlichem; man hat sich etwa in seinen Träumen im Sündenschlamme gewälzt; man hat vielleicht auch geträumt von ewiger Seligkeit und einem himmlischen, Tugendlohn; und nun aus allen diesen Träumen heraus die schreckliche Wirklichkeit sehen, daß man ein verdammter, verlorener, ein der Hölle zueilender Mensch sey; dieß, liebe Zuhörer! man kann es nicht läugnen, ist eben keine angenehme Sache für das Fleisch.

Und das ist eben das Hinderniß, das Viele nicht über die ersten Rührungen hinauskommen läßt. Daß das Wort Gottes einen Eindruck auf ihr Herz alle Sonntage mache, das können sie schon leiden; aber daß es Wurzel in ihnen fasse, daß es seine durchsuchende, läuternde, scheidende und schneidende Kraft an ihren Herzen beweise: dazu lassen sie es nicht kommen; dazu haben sie keine Geduld; dazu sind ihre Gedanken zu ausschweifend; dazu haben sie das Eitle zu lieb; in einen Ernst zu Gott mögen sie nicht eingehen. Mit dem Christenthum spielen, es zu einer Sache machen, an der man gewissermaßen seine Freude, aber freilich nur spielend und tändelnd, eine Zeit lang hat, das läßt sich die Natur schon noch gefallen; aber es zur Hauptangelegenheit des Herzens zu machen, mit Bitten und Flehen und Anhalten um die Gabe des Heiligen Geistes vor Gott zu treten, sich seine Sünden und Schanden willig in's Licht stellen lassen, das ist Wenigen bequem.

Weil aber doch durch das Wort der Wahrheit einige Unruhe in das Herz gekommen ist: so sucht man dieser Unruhe auf andern Wegen abzuhelfen. Man tröstet sich selber, daß es doch so schlimm nicht mit einem stehe; man habe doch seine Freude am Worte Gottes, und möge auch gerne davon reden hören, oder man sucht seine Ruhe in allerhand Werken. Man sucht sie im Lesen erbaulicher Bücher, welches Viele in ihrem Unverstande Beten heißen; oder man sucht sie darin, daß man zu andern Leuten geht, die vom Christenthum reden, und mit ihnen redet; oder man sucht sie in allerhand Aufopferungen, die man sich um des Reiches Gottes willen gefallen läßt. Dabey übt man die groben Werke des Fleisches nicht mehr aus, wie man es vorher gethan hatte; man flucht nimmer; man sauft nimmer; man treibt nimmer Unzucht oder Ehebruch wie vorher; und so richtet man ein Gebäude auf, das man Christenthum heißt, das aber nur, von weitem betrachtet, so aussieht. Auf diesen Schein hin fängt man an, sich unter die Frommen, unter die Bekehrten zu rechen; man will, daß man von Jedermann dafür angesehen werde, und wirft sich zuletzt gar zu einem Unterweiser und Leiter der Blinden, zu einem Lehrer Anderer auf, ob man gleich todt in Sünden ist. Das ist schrecklich. Solche Leute sind auf dem Punkte, die grimmigsten Feinde des Heilandes zu werden, unter lauter Selbstbetrug und Schein des Christenthums.

Sehet die Juden an, wie sie es mit Johannes dem Täufer trieben. Schaarenweise strömten sie hinaus zu ihm in die Wüste; es wurde, ich darf mich ja wohl dieses Ausdrucks bedienen, Mode unter dem Volke, zu Johannes zu gehen, und ihn zu hören; das ganze jüdische Land war voll von dem Ruhme des Täufers; Unzählige wurden durch sein ernstes Bußwort getroffen. Aber dabey blieb es auch bey den Meisten. Wenn sie hätten in ihrem fleischlichen Sinne verharren können, wenn es nicht die Ruhe, die Sorglosigkeit und Sicherheit des Fleisches gegolten hätte: so wäre ihnen Johannes und seine Bußpredigt schon recht gewesen; und so lange es auch mit einem oberflächlichen Beifall ausgerichtet zu seyn schien, war der Täufer sehr gerühmt bey ihnen. Als aber die Sache tiefer gehen sollte, als man sahe, daß man nicht mit einer geschwinden Buße abgefertigt, und so des unangenehmen Dinges, das man Bekehrung heißt, auf einmal überhoben sey, und auf einmal mit allen Unarten des alten Menschen ein Bürger des Messiasreiches werde, sondern daß es mit der ganzen Sache und auch mit dem Auftreten des von Johannes bezeichneten Messias auf eine gründliche Herzensänderung angelegt und abgesehen sey, auf eine Herzensänderung, wobey man, unter geduldigem Ausharren, durch die Erkenntniß der Wahrheit und Verläugnung seines irdischen Sinnes frey werde: da wurden sie irre, von dem an war Johannes nicht mehr ihr Mann. Da hatten sie allerhand an ihm auszusetzen, die Einen hätten gewünscht: wenn er nur auch höflicher wäre! Die Andern meinten: er sey doch gar zu streng und unbeugsam; - ein Rohr, das vom Winde hin und her gewehet wird, hätten sie lieber gehabt, Andere giengen so weit, daß sie sagten: er ist besessen, er ist ein verrückter Kopf (Matth. 11,18.). Da sehen wir, wo es mit den Rührungen hinausläuft, wenn man dabey stehen bleibt, und es nicht zu einem wirklichen Ernste bey sich kommen läßt.

O meine lieben Zuhörer! Ich weiß ja, daß viele Seelen unter uns sind, auf die das Wort Gottes einen starken Eindruck gemacht hat: aber ich fürchte gar sehr, es möchten wenig wahrhaft Erweckte darunter seyn. Nicht wahr? Wenn es mit dem oberflächlichen Beifall, den man der Sache gibt, ausgerichtet wäre; oder wenn es genug wäre, das Wort zu hören, und dann zu sagen: das ist eine rechte Predigt gewesen; oder wenn es damit ausgerichtet wäre, daß man zusammensitzt und vom Christenthum redet, oder auch, wenn das Christenthum darin bestünde, daß man eine richtige Erkenntniß der Heilswahrheiten erlangt, - nicht wahr? dann wären die Meisten unter uns auf dem Wege der Seligkeit. Aber obgleich alle diese Dinge gut sind, so glaubet doch nur nicht, daß damit die Sache abgethan sey; da würdet ihr euch elend betrüben.

Grund muß erst gegraben werden,
Eh' man Thürme bauen mag,
Und das Korn muß in die Erden,
Eher kommt kein Erntetag.

Ich bitte daher um JEsu willen ein Jegliches, dem Gott einigen Willen in's Herz gegeben hat, ein anderer Mensch zu werden, daß es doch diese große Sache nicht leichtsinnig ansehen, sondern sich möchte seinen verlorenen und unseligen Herzenszustand aufdecken lassen durch den Heiligen Geist, daß es zu dem Ende möchte doch recht angelegentlich um den Heiligen Geist beten. Der Heiland hat gesagt: „so ihr, die ihr arg seyd, könnet euern Kindern gute Gaben geben, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel den Heiligen Geist geben Denen, die Ihn darum bitten.“ Wir wollen Ihn an diesem Worte fassen, auf dieses Wort hin wollen wir es thun. Glaubet sicherlich, das Schwatzen vom Christenthum macht die Sache nicht aus; im Gegentheil, wenn sich ein Mensch hierauf legt, so wird er nach und nach reif zum höllischen Feuer, mehr denn Andere. Ein Nachfolger des Heilandes sagte einmal: er wüßte sich keinen größern Schmerz, keine größere Schmach, die Gott über ihn kommen lassen könnte, zu denken (er bitte daher inständig um Abwendung derselbigen), als wenn er ohne Gnade, ohne Kraft und Salbung vom Heiland schwatzen lernte. Er sagt in seiner derben, alterthümlichen Sprache:

Ich meine JEsum Christum nenne,
Und Seinem Herzen ferne seyn,
Sich selber nicht im Grunde kennen,
Und also nicht um Gnade schrey'n,
Und weil sich's Fleisch und Blut commode
Und niemals gerne sauer macht,
Ein Christenthum auf seine Mode
Zu führen, wie's die Welt erdacht.

Das kann man noch für keinen wesentlichen Segen im Amte des Wortes halten, wenn Viele gerührt werden; aber wenn ein einziger Mensch, ernstlich-suchend, still, in sich gekehrt wird, das ist Freude im Himmel und auf Erden. Denn auf diesem Wege wird man arm am Geist, und den Armen kommt der Trost des Evangeliums zu Statten, den Andern nicht. Die Armen werden versiegelt zu Kindern Gottes, die Andern nicht. Sind sie aber Kinder, so sind sie auch Erben; so sind sie auch gerettet für alle Ewigkeit.

III.

Aber es fragt sich, warum Viele, die doch wirklich erweckt sind, oft so lange nicht zu der Gnade hindurchdringen, immerdar nur über ihr Verderben zu klagen haben, und nicht auch sich ihres Heilandes freuen können? Unter erweckten Seelen sind solche zu verstehen, die durch das Licht und die Zucht des Heiligen Geistes zu dem klaren Bewußtseyn gebracht worden sind, daß sie, als in sich selbst verdammte und verlorne Geschöpfe, ohne das Erbarmen Gottes in Christo JEsu, der verdammenden Gerechtigkeit Gottes anheimfallen. Zwischen einer solchen Seele und ihrem Erbarmer steht eigentlich nichts Scheidendes mehr, und es sollte, nach dem Ausdruck eines gesalbten Schriftstellers, keine Viertelstunde vergehen, bis eine Seele, die zu dieser Erkenntniß gelangt ist, ihres Heils froh und gewiß wäre. Was ist denn nun die Ursache, daß viele Erweckte so lange nicht zum Bewußtseyn und Genuß des Friedens mit Gott hindurchdringen?

Einige, die wohl erweckt sind, sind nicht gründlich erweckt. Wenn ein Mensch des Herrn JEsu theilhaftig werden will: so muß er mit seinem innersten Willen von der Gemeinschaft mit der Sünde austreten; er muß mit seiner Finsterniß in das Licht des Heilandes kommen; es muß ihm darum zu thun seyn, im Licht Gottes je mehr und mehr die Finsterniß und die verborgensten Fäden der Finsterniß in seinem Herzen zu entdecken, und nichts vor dem HErrn zu verhehlen. Diesem Offenbarwerden weichen Viele lange Zeit aus; vielleicht weil sie sich fürchten, ihre eigene Gerechtigkeit einzubüßen; vielleicht weil sie die Sünde noch heimlich nähren und pflegen; neben dem Leben aus Gott auch noch ein Leben des eigenen Ichs führen, mit andern Worten: zwey Herren dienen, und kein ganzes Eigenthum des HErrn JEsu werden mögen. So muthen sie dem Heiland zu, Er solle über ihren verborgenen Fleischessinn den Mantel Seiner Gerechtigkeit hereinziehen, und ihnen Seinen Frieden schenken, ob sie gleich die Finsterniß noch lieb haben, und sich die feinere und verborgenere Gemeinschaft mit ihr nicht mögen in's Licht stellen lassen. Aber dieß geschieht nimmermehr. Auf diese Art entstehen geistliche Zuckungen und Krämpfe. Der Geist Gottes offenbart der Seele diese oder jene Unart; die Seele aber will diese Unart nicht so bedeutend ansehen, als sie in den Augen des HErrn ist; sie will sich nicht schuldig darunter geben; will nicht anerkennen, daß die Gemeinschaft mit dieser vielleicht sehr gering scheinenden Sünde ihr den Zugang zu der Gnade verschließe; sucht lieber die Ursache anderswo, und bleibt so in ihrem trüben Herzenszustande. Eure Untugenden, unter welche ihr euch nicht schuldig geben wollt, scheiden euch und euren Gott von einander. Wer aber seine Sünde bekennet, dem wird sie vergeben; der kann, eben unter solchem sich Schuldiggeben, seinen Versöhner und Bürgen, und eben darin die Kraft finden, die Sünde zu überwinden.

Ost sind es auch bloße Vorurtheile, falsche Begriffe, welche den Erweckten den Weg zur Gnade verschließen. Eine solche falsche Vorstellung, die häufig diesem Uebelstande zu Grunde liegt, ist die, daß man meint und sich beredet: die Erfahrung müsse dem Glauben vorangehen, da doch der gewöhnliche Weg Gottes gerade umgekehrt ist. Gott sagt: zuerst glaube, dann wirst du erfahren; der eigensinnige Mensch aber sagt: nein! ich will nicht glauben, bis ich vorher erfahren habe. So hat es Thomas gemacht, und so weit kann es überhaupt die Vernunft bringen: was ich einmal erfahren und gesehen habe, das will ich glauben; so liegt es in unserer Vernunft. Dieser für das Reich Gottes untaugliche Schluß, der ohnehin fest genug in allen Menschen sitzt, wird oft noch von außen her befestigt. Da kommt Einer daher und erzählt, wie es ihm ergangen sey bey seiner Begnadigung; wie er vorher in große Finsterniß, in eine Art Hölle hineingeführt worden sey; wie er beinahe verzweifelt sey; wie dann das Licht auf einmal bey dieser oder jener Gelegenheit in seinem Herzen aufgegangen sey. Er setzt nicht hinzu, wie er nach und nach, mitten in seiner Finsterniß, zum Glauben, und durch den Glauben zum Anbruch des Tages in seinem Herzen vorbereitet worden ist; er kann dieß vielleicht auch nicht auseinander wickeln und entziffern, weil, was in des Herzens Grund von Gott gewirkt wird, oft nicht in die äußere Wahrnehmung fällt; er sagt nur, wie aus der Finsterniß das Licht ihm aufgegangen sey, und wie er dann habe glauben können, was ihm vorher unmöglich gewesen seyn. Neben diesem Erzähler sitzt eine redliche Seele, hört zu, erschrickt und denkt, so etwas hast du noch nie erfahren, und faßt den festen Entschluß bey sich selbst: ehe du eine solche Buße und fühlbare Begnadigung erfährst, kannst und willst du nicht glauben, daß du Frieden mit Gott habest durch JEsum Christ. Aber dieser Schluß ist falsch. Es ist ja gewiß, daß Manche auf jenem beschriebenen Wege, und durch solche fühlbare und plötzliche Begnadigungen geführt werden, allein mußt du deßhalb ebenso geführt werden? Bläset nicht der Wind, wie und wo er will? Hat die Weisheit Gottes nicht die verschiedensten Wege, auf welchen sie ihre Kinder zur Herrlichkeit führen kann?

Sehet! deßwegen kommen Manche so lange nicht aus ihrem elenden, trüben Herzenszustande heraus, weil sie sich ein Bild festsetzen in ihrem Kopf, wie es kommen müsse, und namentlich meinen, der Heiland müsse ihnen vorher recht empfindlich nahe werden, und dann erst hätten sie ein Recht, die Vergebung ihrer Sünden zu glauben. Aber wo steht dieses geschrieben? Nirgends. Wenn du dich in deiner Verdammungswürdigkeit, in deinem Sünden-Elende fühlest: so hebe deine Augen auf zu der am Kreuz erhöhten Liebe, und fange an zu glauben, so gut du eben kannst; glaube es, wie wenn du ein Kind wärest, dem diese große Sache eben erst erzählt würde; nimm sie auf in dich; behalte und bewege sie in deinem Herzen; fange an, dich darüber schüchtern zu verwundern, daß du einen solchen vollgültigen Versöhner und Bürgen habest; fange an, dich darüber zu freuen; halte das Verdienst Christi deinem eigenen ungläubigen Herzen und den feurigen Pfeilen des Bösewichts als einen Schild entgegen; - gewiß, du wirst bald etwas von göttlicher Kraft spüren; du wirst bald inne werden, daß der Heiland wirklich nicht so ferne von dir steht, als du gemeint hattest, und daß Er dich in solchem Geschäfts unterstützt. Sodann fahre fort in dieser Glaubensarbeit, dann wirst du zuletzt versiegelt werden mit dem Heiligen Geiste zu einem Kinde und Erben Gottes, wie es geschrieben stehet: „ da ihr glaubetet, wurdet ihr versiegelt“, nicht umgekehrt: da ihr versiegelt waret, glaubetet ihr.

Eine andere falsche Vorstellung, die man sich gerne macht, ist die Meinung: der Heiland sey ein Heiland für die Frommen, nicht für die Sünder. O! wie lange kann sich ein armes Herz mit dieser Vorstellung plagen und abplagen! Ein Heiland für die Tadellosen ist zwar ein sich selbst widersprechender Begriff, es steht auch nichts deutlicher in der Bibel als die Wahrheit, daß JEsus ein Heiland der Sünder, der Verlornen, sey; - der Name des Heilandes, Seine Menschwerdung, Sein Lauf, Seine Worte, Sein ganzes Evangelium, - Alles setzt Sünder voraus, wirkliche Sünder, d.h. Feinde und Beleidiger Gottes, die der Hölle werth sind.

Dieß wissen wir; dieß meinen wir auch zu glauben: aber, recht betrachtet, wird diese Wahrheit von Wenigen geglaubt. Da höre ich Jemand seufzen: wenn ich es nicht übertrieben hätte mit Sündigen, so wollte ich gerne glauben! Ein Anderer meint: wenn ich nur jetzt nicht so untreu wäre, so wollte ich wohl glauben; aber ich muß mich in allen Stücken schuldig geben und unter die Sünde gefangen bekennen. Ein Dritter sagt: ehe er sich zum Glauben anschicken könne, müsse er nothwendig vorher bußfertiger, zerknirschter seyn. Allenthalben tritt das Streben hervor, in irgend etwas eine Würdigkeit herauszuzwingen, die man vor den Heiland bringen könne, weil Er ein Heiland der Würdigen, nicht der Unwürdigen sey. Aber, liebe Seelen, lernet doch Alles dieses aus dem rechten Lichte ansehen. Wahre Treue und wahre Buße entspringt erst aus dem Glauben; nur wenn man dem Heiland in Sein erbarmendes Herz geblickt hat, hat man einen Trieb, Ihm sich aufzuopfern, und weiß auch, was man für ein Sünder ist in seinen Sünden. Mit deiner Untreue, mit deiner Unbußfertigkeit, mit deinem geistlichen Tode bist du ja eben recht für den treuen und lebendigen Heiland. Das will dir ja der Geist des HErrn gerade offenbaren, daß du ein arger Sünder seyest, und nicht nur gewesen seyest in den Tagen deiner Blindheit, sondern daß du eben noch jetzt ein blindes, todtes, unreines Herz habest, in welchem kein Gehorsam, keine Aufrichtigkeit, keine Liebe zu Gott, sondern das Gegentheil wohne, das nicht einmal über dieses sein Verderben sich beugen könne, wenn es ihm der Heiland nicht schenke, mit andern Worten: daß du todt seyest in Sünden. Aber wofür will dir Solches der Geist Gottes offenbaren! Um dich von JEsu wegzutreiben? Nein, um dich zu Ihm hinzutreiben, daß du Ihn als deinen vollgültigen Versöhner und Bürgen annehmen solltest, der dich als einen undankbaren, als einen todten Sünder annehme und selig mache, nicht um deinetwillen, auch nicht, weil du dich gebessert habest, sondern bloß lauterlich um Seinetwillen, um Seines Gehorsams, um Seiner heiligen Büßung am Oelberg, um Seiner Liebe zum Vater, um Seiner Schmerzen, um Seines Todes willen. Er muß dein ganzer Heiland werden; Er muß ganz die Ehre haben; wenn du der Frömmste wärest, so wird dich Gott nicht anblicken um deinetwillen: aber in Christo und um Christi willen wird Er dich als einen Sünder, als einen Gottlosen selig machen, so du Ihm die Ehre gibst und Solches zutrauest (Röm. 4,5.).

Sehet da einige Hindernisse des Glaubens bey Erweckten. Es ist aber nicht möglich, alle diese oft so verborgenen Stricke der Sünde oder des Gesetzes anzugeben. Ein Jedes wende sich selber an seinen Erbarmer; erzähle Ihm seinen Herzenszustand; begehre Seinen Rath und Seine Hülfe: so wird es gewiß aus der Finsterniß nach und nach einen Ausweg in das Licht finden, und gewisse Tritte thun. Nur JEsus kann unsern Gang gewiß machen, nicht Menschen; mit Ihm müssen wir bekannt werden, und unsere Sachen vor Ihm abhandeln, so wird das Gericht endlich zum Siege hinausgeführt.

IV.

Es ist noch übrig, davon zu reden, warum Viele, die etwa Frieden und Vergebung der Sünden gefunden haben, doch zu keinem rechtschaffenen Wesen in Christo kommen? Diese Frage will ich kurz und im Allgemeinen beantworten. Es gibt im Allgemeinen zwey Hauptabwege für solche Seelen, daß sie entweder in einen weltförmigen oder in einen gesetzlichen Sinn zurückkehren, der rechte Weg aber ist: bey'm Heiland und in der Gemeinschaft Seines Kreuzes bleiben.

Viele werden bald, nachdem sie Vergebung der Sünden erlangt haben, lau, leichtsinnig, vergessen das Wachen und Beten. Dazu trägt viel bey die Meinung, daß sie, wenn sie diese ersten Gnadenbezeugungen des Heilandes erfahren haben, sich alsobald für ausgemachte Leute und Christen ansehen. Sie werden wieder sicher; sie verwickeln sich wieder in die Elemente des Weltgeistes, sie spielen mit der Sünde, sie haben ja Gnade; es hat ja im Ganzen seine Richtigkeit bey ihnen; so haben also, wie sie meinen, kleinere Uebertretungen nichts zu sagen. So werden sie nach und nach wieder gefangen unter die Sünde; verlieren auch den Genuß der Gnade, und endlich sind sie im Stande, es zu einer Lehre zu machen: daß ein Christ ein Knecht der Sünde bleiben müsse. Das gibt, wenn es gut geht, ein sieches, kränkelndes, kraftloses Christenthum, das zwar einigermaßen aussieht wie Christenthum, aber nichts weniger ist als ein rechtschaffenes Wesen in Christo Jesu.

Andere verirren sich auf einen andern Abweg. Sie können sich nicht darein finden, daß, nachdem Sich ihnen der Heiland so herrlich in Seiner Gnade geoffenbaret habe, die alte sündliche Natur sich immerwährend noch in ihnen regen soll. Das treibt sie wieder in das Gesetz zurück. Sie wollen durch eigenes Wollen und Wirken, durch selbst gefaßte Anläufe und allerhand Erfindungen dem Uebelstande abhelfen. Dadurch entfernen sie sich aus der Gemeinschaft des Todes JEsu, und gerathen in eigene Wege. Auch haben sie etwa aus der Zeit, wo sie den Frieden Gottes erst suchten, allerhand gesetzliche Vorstellungen und Bilder in ihren Gnadenstand mit herübergenommen. Diese alten, aus dem Gesetze und der Vernunft kommenden Bilder erheben sich wieder in der Seele und drängen sie aus dem Gnadenstande hinaus. So wird man wieder elend, saft- und kraftlos, meint: man sey ernstlicher als unter dem sanften Regiment der Gnade, und steht doch nicht wahrhaftig in der Gemeinschaft des Sohnes Gottes. Von diesem Abwege zeugt der ganze Brief an die Galater.

Selig die Seele, die an sich erfährt, was der selige Luther von Gott gerühmt hat, indem er spricht: „der mir täglich und reichlich meine Sünden vergibt!“ Hierin liegt das ganze Geheimniß der Heiligung. Der HErr führe uns Alle auf den schmalen Weg um Seines Namens Willen. Amen!

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