Hagenbach, Karl Rudolf - Was wir in der Heiligen Schrift zu suchen haben.

Hagenbach, Karl Rudolf - Was wir in der Heiligen Schrift zu suchen haben.

Text: Joh. 5, 39.
Suchet in der Schrift, denn ihr meinet, ihr habt das ewige Leben darinnen, und sie ists, die von mir zeuget.

Daß die Heilige Schrift des alten und des neuen Testaments die Grundlage unsers Glaubens und die Richtschnur unsers Wandels sey, darüber sind wir wohl als evangelische Christen einverstanden. Die Bibel ist uns das Buch der Bücher, sie ist uns die Quelle, aus der wir unsern Trost im Leben und Sterben schöpfen. Auf sie gründen wir die Predigt und den Unterricht der Jugend, aus ihr ziehen wir unsere häusliche Erbauung; sie zu verbreiten und als den rechten Haussegen sie in die christlichen Häuser zu bringen, dafür ist unsre Zeit, mehr als die frühern Zeiten besorgt, und dazu sind auch durch Gottes gnädige Leitung uns noch mehr Mittel an die Hand gegeben, als früher. Und doch ist noch bei Vielen unsrer Zeit eine große Lauheit gegen dieses Buch zu bemerken, und während man in allen andern Dingen der Fortschritte sich rühmt, zeigt sich oft auch bei denen, die Bildung haben wollen, eine traurige Unbekanntschaft mit der Heiligen Schrift. Andere dagegen lesen wohl oft und viel in ihr; aber wenn man sie fragen würde, wie dort Philippus den Kämmerer fragte, „verstehest du auch was du liesest?“ (Apostelg. 8,30.) so würde sich's bald zeigen, daß sie nicht nur vieles in der Bibel nicht verstehen (was bei der Tiefe ihres Inhaltes auch dem gereiftesten Leser begegnet,) sondern daß sie sich auch nicht einmal die Mühe geben, sie gründlich verstehen zu lernen. Viele befinden sich in demselben Zustande, in dem die Juden sich befanden, an welche die Worte Christi in unserm Texte gerichtet sind. Sie lesen wohl, sie meinen auch das ewige Leben in der Schrift zu haben, finden es aber gleichwohl nicht darin, weil sie nicht mit dem rechten Ernst und auf die rechte Weise es suchen; weil sie gedankenlos sich gehen lassen, als wäre es schon genug, wenn das Auge den Buchstaben verfolgt oder der Mund ihn nachspricht, ohne daß Geist und Gemüth daran Antheil nehmen. Selbst Viele von denen, die die Schrift mit einer gewissen Andacht lesen oder zu lesen meinen, scheuen sich doch, genauer in ihren Zusammenhang einzudringen. Es ist ihnen, als müsse die Heiligkeit des Buches schon von selbst sich ihnen mittheilen; etwa in der Weise wie sie auch das Wasser der Taufe an sich schon für sündenreinigend oder den Genuß des Abendmahls an sich schon für seligmachend halten, ohne daß von ihnen und ihrer Gesinnung aus eine Mitwirkung dazu nöthig wäre. Sie vergessen, daß, wie die Sakramente, so auch das Wort Gottes ein Gnadenmittel ist, und nicht die Gnade selbst; Sie vergessen, daß wir suchen müssen in der Schrift, wenn wir finden wollen, und daß nur dem redlich Suchenden die Schrift nützlich wird zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, daß ein Mensch Gottes sey vollkommen zu allem guten Werk geschickt (2. Tim. 3, 16.17.). Manche hält sogar eine falsche Scheu ab, den biblischen Aussprüchen auf den Grund zu gehen; sie fürchten in der Tiefe ihrer Abgründe zu versinken und halten sich deßhalb ängstlich am Rande, und wenn je Zweifel und Bedenklichkeiten ihnen aufsteigen, so gehen sie lieber drüber weg, als daß sie sich gehörig darüber Aufklärung zu verschaffen suchten. Das ist aber nicht die Weise, wie evangelische Christen verfahren sollen, die das schöne Vorrecht genießen, unabhängig von jedem äußern menschlichen Ansehn, das geschriebene Wort Gottes lesen zu dürfen. Nein, der evangelische Christ soll sich dessen, was er im Worte Gottes liest, auf eine freudige und sichere Weise bewußt werden; er soll, wie Luther sagt, in der Bibel nicht blos Lese- sondern auch Lebeworte finden, er soll sich Rechenschaft geben können aus ihr über seinen Glauben, und wenn ihm auch nicht gleich möglich ist, alles zu verstehen (und wer verstände alles, wo das Unendliche zu verstehen ist?) so soll er doch immer mehr zu verstehen trachten. Um aber hier nicht auf Abwege zu gerathen, und um nicht etwa über Nebendingen die Hauptsache zu vergessen, wird es vor allem nöthig seyn, daß er wisse, was er in der Heiligen Schrift zu suchen habe? Und bei dieser Frage, die gleichsam eine Vorfrage ist zu allen weitern Erörterungen über die Schrift, wollen wir für dießmal verweilen, wobei der Geist, der in alle Wahrheit leitet, mit seiner erleuchtenden und heiligenden Kraft uns unterstützen möge. Amen.

I. Was haben wir zu suchen in der Heiligen Schrift?

Viele suchen in ihr blos Zerstreuung und Unterhaltung. Wie andere Bücher, zu denen sie im Ueberdruß der langen Weile ihre Zuflucht nehmen, so soll auch dieses göttlichste der Bücher ihnen die Zeit vertreiben. Wie das Kind an einem Bilderbuche sich ergötzt, so sollen die mannigfachen Bilder und Gestalten, mit ihrer reichen morgenländischen Farbenpracht an ihrem Geiste vorüberziehen. Die unschuldige Kindeswelt des Paradieses, die ersten Geschichten von Sünde und Ungehorsam, die schauerlichen Erzählungen von Mord und von Kriegen und Empörungen - und dann dazwischen wieder die traulichen oft räthselhaften Züge aus dem Leben der Erzväter, ihre Schwächen und ihre Tugenden, ihr merkwürdiger Verkehr mit Gott und den Engeln Gottes, die göttlichen Führungen der Einzelnen wie des Volkes, die rührende Geschichte Josephs, die Wunderthaten eines Moses, der Helden, Richter und Propheten, die Schicksale eines David, der glanzvolle Haushalt eines Salomo und sein prächtiger Tempelbau, das Alles, und was noch weiter die Bücher der Könige und der Chronik uns melden, geht in bunter Reihe an ihnen vorüber. Nehmen wir denn vollends dazu den erhabenen Dichtergeist, der wie ein goldener Faden durch das Ganze sich hindurchschlingt, die kräftige bilderreiche Sprache, die besonders in Hiob und den Psalmen sich zu erkennen giebt, die körnige Spruchweisheit eines Salomo und den königlichen Schwung eines Jesaias, so werden wir, wenn wir auch nur beim Alten Testament stehen bleiben, nicht läugnen können, daß wer auch nur das geistige Vergnügen schöner und angenehmer Eindrücke und eines regen Wechsels derselben sucht, hier schon vieles finden wird, das ihn unendlich mehr befriedigen muß, als so manches was eine seichte und verderbliche Kunst zu Tage fördert. Da ist nichts Gemachtes, Geschraubtes, Geziertes und Verzerrtes, wie in so vielen bewunderten Werken der neuern Zeit, da ist Natur und Wahrheit, da strömen die frischen Quellen der Berge, da athmen wir Himmelsluft, und dieses Frische und Gesunde, es muß auch den gesunden Sinn ansprechen. Aber dennoch ist es gefährlich die Heilige Schrift zum bloßen Unterhaltungsbuche, zum Spielzeuge der Einbildungskraft herabzuwürdigen. Jeder muß bald fühlen, dazu ist sie zu groß, zu gewaltig, zu ernst. Und überdieß findet sich ja auch in der Heiligen Schrift wieder so manches, das, wenn wir nur unsere Zerstreuungslust hinzubringen, uns leicht von der Hauptsache abführen, den rechten Ernst verdrängen und sogar muthwillige Geister reizen kann, am unrechten Orte und auf Kosten dessen was uns das Heiligste seyn soll, ihren Witz spielen zu lassen. Hat doch eben der frevelhafteste Bibelspott, vor dem ein unverdorbenes Gemüth zurückschaudert, seine Wurzel in jener Leichtfertigkeit, mit der Manche die Bibel behandeln, als wäre sie ein weltliches Unterhaltungsbuch, und mit der man sie auf ungehörige Weise hineinzieht in das lärmende Gespräch der Alltagswelt. Nein, meine Freunde, so vielen geistigen Genuß die Bibel uns auch bieten mag, wenn wir sie nur von ihrer menschlichen Seite betrachten, wir sollen nicht ein gewagtes Spiel mit ihr treiben, denn sie ist uns nicht gegeben zur Zerstreuung und zur Unterhaltung. Höchstens mag diese von Gottes Weisheit nicht umsonst also geordnete Lieblichkeit der Rede und Mannigfaltigkeit der Darstellung, wodurch sie sich auszeichnet, uns reizen und erwecken, ein Weiteres zu suchen. Und was ist dieses Weitere? Es ist, so antworten Andere, unsere Belehrung. Ja Belehrung, Unterricht, Zurechtweisung ihres Verstandes und Berichtigung ihrer Erkenntniß, das suchen die Ernstern, die Gereiftern in der Schrift. Die Bibel, so sagen sie nicht mit Unrecht, ist das Lehrbuch der Menschheit. So vieles was wir jetzt wissen, verdanken wir ihr. Ihre Geschichten gehen zurück bis auf die Schöpfung der Welt, bis auf den ersten Anfang der Menschengeschichte. Aus ihr lernen wir Länder, Sitten, Zeiten, Völker kennen, deren Kenntniß uns ohne ihre Nachricht verschlossen wäre. An ihr hat sich der menschliche Verstand heraufgebildet zu dem, was er ist. Lange Zeit war die Bibel das einzige Buch des Volkes, aus dem es seine Weisheit schöpfte, auch in irdischen Dingen. Das Kind lernte lesen an ihr; an ihr hat die Sprache sich gebildet, an ihr haben je die Weisesten ihre Kräfte versucht und fast alle, die durch hohe Geisteswerke die Führer der Mit. und der Nachwelt geworden sind, sind bei ihr in die Schule gegangen. Als die Buchdruckerkunst erfunden ward, da war es vor Allem die Bibel, die aus ihren Werkstätten hervorging, und noch jetzt können wir die Wahrnehmung machen, daß in den Ländern, wo die Bibel Eingang gefunden, auch die menschliche Erleuchtung Hand in Hand geht mit der göttlichen, daß wahre Bildung und wahre Aufklärung durch sie gefördert werden, und in Häusern, wo Sinn ist für Bibel und Bibellesen, da findet auch die menschliche Belehrung über das Wissenswürdige ihren besten und gedeihlichsten Boden. Der Geist der Gründlichkeit wird da genährt und findet an der Bibelfestigkeit eine Stütze, während die Bibelscheu gewöhnlich auch mit Oberflächlichkeit des Sinnes und absprechender Flatterhaftigkeit gepaart ist.

So viel wir aber auch der Bibel von dieser Seite verdanken, so werden wir doch nicht sagen, daß die Förderung weltlicher Gelehrsamkeit ihre eigentliche Aufgabe sey, und daß wir die Erweiterung und Berichtigung unserer Kenntnisse, so weit sie das Weltliche betreffen, vorzüglich oder einzig in ihr zu suchen haben. Wir werden nicht die unbillige Forderung an sie stellen, sie müsse stets eine Antwort haben auf unsre Fragen über die Räthsel der Natur und über das was in menschlichen Einrichtungen das Beste und Zweckmäßigste ist. Da hat es nun einmal Gott so geordnet, daß in irdischen Dingen der Verstand des Menschen sich selber helfe und durch neue Entdeckungen und Erfindungen fortschreite vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, und diesen Fortschritten will die Bibel weder ein Hinderniß in den Weg legen, noch will sie andere hiezu geeignetere Lehrmittel aus der Stelle drängen. Ein höheres Ziel hat sie sich gesteckt über alle menschliche Weisheit und menschliche Kunst hinaus. Göttlichen Unterricht haben wir in ihr zu suchen über göttliche Dinge; weise machen will sie uns zur Seligkeit. Was kein menschliches Auge sieht aus natürlicher Kraft und kein menschliches Ohr vernimmt bei aller Schärfe des natürlichen Verstandes von geistlichen Dingen, das soll sie uns offenbaren; nämlich den Willen Gottes und seinen Rath, in Betreff unseres ewigen Heils. Zur Lehre, ja wohl zur Lehre ist sie uns gegeben die Heilige Schrift, aber zur Lehre, die zugleich weiter hinführt zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, daß ein Mensch Gottes sey vollkommen zu allem guten Werk geschickt. (2. Tim. 3,16.17.)

Damit haben wir nun den Standpunkt gewonnen, von dem wir ausgehen müssen, wenn es sich um die eigenthümliche Würde der heil. Schrift und um das handelt, was sie uns seyn soll. Und doch haben wir auch damit noch nicht alles erschöpft. Eben das, daß sie uns nicht blos und allein gegeben ist zur Lehre, sondern noch weiter zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, muß uns ein Wink seyn, noch tiefer zu graben, wenn wir auf den rechten Grund ihres Wesens kommen und gleich. sam an ihrer Lebenswurzel sie anfassen wollen. Auch da nämlich wo wir die Heilige Schrift als unsere Lehr-Meisterin in göttlichen Dingen anerkennen, kommt es viel drauf an, daß es uns nicht nur um eine trockne und unfruchtbare Erkenntniß in göttlichen Dingen, nicht um bloße Befriedigung unserer Neugierde, überhaupt nicht um das bloße Wissen um des Wissens willen zu thun ist; sondern um eine Erkenntniß, die uns bessert, die uns in der wahren Frömmigkeit fordert, uns zu Menschen Gottes macht, die vollkommen sind und zu jedem guten Werk geschickt. - Aber eben dieß wird so häufig auch selbst von denen verkannt, welche in der Heiligen Schrift eine göttliche Offenbarung finden und als die Quelle derselben sie verehren. Sie möchten wohl gerne aus ihr über göttliche Dinge belehrt werden, aber mehr um ihren Verstand zu bereichern, als um ihr Herz zu bessern, mehr um den Glauben Anderer aus der Schrift zu meistern und zu richten, als um ihren eigenen Glauben daran zu erbauen und ihr Gewissen darin zu spiegeln. Und weil sich dann gar manches in den Kreis des religiösen Wissens hineinziehen läßt, das nicht gerade notwendig zur Seligkeit dient, so erzeugen sich auf diesem Wege leicht jene unnützen Streitfragen und das Wortgezänke, wovor der Apostel mit allem Ernste uns warnt (1 Tim. 4,7. 6,4. 2 Tim. 2, 16.23.) Solche Bibelgläubige des Buchstabens, aber nicht des Geistes, waren auch jene Juden, gegen welche die Worte Christi in unserm Texte gerichtet sind. Sie hielten hohe Dinge auf die Heilige Schrift, sie zweifelten keinen Augenblick an ihrem göttlichen Ansehen, ihr Verstand forschte unabläßlich in der Schrift, sie wußten viel zu deuten und zu sagen über ihre Geheimnisse, und hießen auch darum die Schriftgelehrten, aber die Schrift blieb ihnen gleichwohl verschlossen nach ihrem tiefern Inhalte; sie hatten wohl die Schale, aber nicht den Kern; sie meinten wohl das ewige Leben zu finden und ihre Meinung war als Meinung recht und gut, und dennoch blieb die Decke Mosis vor ihren Augen und sie fanden das Leben nicht, denn sie wollten nicht zu Jesu kommen, bei dem es allein zu finden ist (Joh. 5,40.). Haben wir also gesehen, daß wir in der Heiligen Schrift weder bloße Zerstreuung und Unterhaltung, noch bloße Belehrung in menschlichen Dingen zu suchen haben, ja daß auch die Belehrung in göttlichen Dingen nicht hinreicht, wenn nicht noch eine weitere Ergänzung hinzukommt, so laßt uns nun eben, um diese Ergänzung zu finden, bestimmter eingehen auf die Worte unseres Textes, und nach ihnen die Frage uns beantworten:

2. Was haben wir in der Heiligen Schrift zu suchen?

Suchet in der Heiligen Schrift; denn ihr meinet ihr habt das ewige Leben darin und sie ist's die von mir zeugt. Hier haben wir es mit klaren Worten. Das ewige Leben, das haben wir zu suchen in ihr und wir finden es eben darum in ihr und in ihr allein, weil sie mehr als jede andere Schrift und in einem vorzüglichern Sinne von Christo zeuget. Das lasset uns jetzt noch etwas genauer erörtern.

Das ewige Leben finden wir in der Heiligen Schrift. Das ist mit wenig Worten unendlich viel gesagt. - Das zeitliche, das irdische Leben, ja das findet auch außer der Schrift seine Befriedigung. Willst du blos Erholung und Zerstreuung, du findest sie in tausend andern Büchern; willst du blos Belehrung für deinen Verstand, tausend Hülfsmittel aller Art stehen dir offen, besonders in unserer Zeit; aber willst du ewiges Leben, dauernde Befriedigung deines innern Menschen; fühlst du Hunger und Durst nach dem, was alle Schätze der irdischen Weisheit dir nicht zu geben vermögen: suche so lange du willst und wo du willst; nur die Schrift und nur sie allein kann das Gesuchte, das Ersehnte dir geben. Und warum denn sie allein? und warum nicht andere Bücher außer ihr? Schon darum weil in ihr mehr als irgend anderswo niedergelegt sind die Schätze der göttlichen Weisheit, des göttlichen Erbarmens, weil in ihr alles das in ursprünglicher Kraft und Reinheit sich findet, was das ewige Leben ausmacht. Das ist das ewige Leben, sagt Christus, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist und den du gesandt hast, Jesum Christum erkennen (Joh. 17. 3.). Und zwar ist mit diesem Erkennen des wahren Gottes nicht bloß eine todte Verstandeserkenntniß, sondern eine Erkenntniß gemeint, die unserm ganzen Leben und Wesen sich mittheilt, die einen Heiligenden Einfluß auf unsere ganze Gesinnung übt, die uns nicht so läßt, wie wir sind, kalt und todt und lieblos und in Selbstsucht versunken, sondern die uns hinaushebt über uns selbst und uns in das göttliche Wesen versetzt. - Und wo wäre nun eine Schrift unter allem was „geschrieben“ heißt in alter und neuer Zeit, die dieses innerste Bedürfnis einer lebendigen Gotteserkenntniß besser befriedigte, als das Buch der Bücher, die Heilige Schrift? Wohl giebt es auch andere treffliche Bücher, von denen eine Kraft des ewigen Lebens und mit ihr eine vielfache Anregung zum Guten ausgeht und die wir darum auch mit Dank als Gaben Gottes aus seinen Händen empfangen; aber doch verhalten sich diese, vorausgesetzt daß ihr Inhalt wirklich ein göttlicher ist, zur Heiligen Schrift immer nur, wie die abgeleiteten Bäche zur Quelle, wie das Abbild zum Urbild, wie der einzelne Lichtstrahl zum Lichte selbst, und ihr Verdienst kann nur darin bestehen, daß sie entweder zur Schrift hinleiten oder daß sie von ihr ausgehen. Sind es Bücher der vorchristlichen Zeit, Schriften des heidnischen Alterthums, so mögen wohl einzelne Goldkörner der Weisheit in ihnen gefunden werden, aber was sind sie gegen der Fülle des göttlichen Lebens, das aus der Bibel uns entgegenquillt? Verhält sich doch die Lehre der Weisesten des Alterthums zur Lehre Jesu höchstens wie die Morgenröthe zum Sonnenaufgang! Sind es aber christliche Schriften, so haben sie ja ihre Christlichkeit dadurch, daß sie ruhen auf der Heiligen Schrift und daß sie aus ihr, als aus der Wurzel Kraft und Nahrung ziehen. Je enger sie sich anschließen an den Geist der Bibel, desto besser sind sie, je weiter sie sich von der Schrift entfernen, desto matter und fader, oder wenn sie je durch besondere Kraft sich auszeichnen wollen, so sind es meist desto kräftigere Irrthümer, in die sie hineinführen, wie die Geschichte der Kirche uns beweist.

Ganz besonders aber finden wir das ewige Leben darum in der Schrift, weil sie es ist, die von Christo zeuget, und das ist ihr ganz eigenthümlicher Werth, das ihre höchste Bedeutung, die sie für den Christen hat. Sind wir nämlich überzeugt, daß eben das, was wir das ewige Leben nennen, in Christo zu finden ist, ja, daß er selbst das Leben ist und das Licht und der Weg und die Wahrheit (Joh. 14,6. und 8,13.) nun so muß es auch dabei bleiben, daß die Schrift die von ihm zeugt, die uns zu ihm hinführt und von ihm wieder alles ausführt, ja, die ihn recht eigentlich zu ihrem Mittelpunkte hat, höher stehen muß im Ansehen, als jedes andere Buch der Welt. Nun aber ist es wirklich so; denn wenn auch viele andere Bücher außer der Schrift, Zeugniß ablegen von Christo (und solcher giebt es Gottlob noch viele) so ruhet doch ihr Zeugniß wieder auf dem Zeugniß der Schrift selbst, als ein mittelbares und abgeleitetes, während das der Heiligen. Schrift ein unmittelbares, ein ursprüngliches ist.

Die Worte unseres Testes beziehen sich freilich zunächst auf das Alte Testament; denn nur von dieser Schrift konnte Christus reden damals, als noch kein Neues Testament geschrieben war, und es könnte daher auffallen, daß er gleichwohl sagt, sie sey es, die von ihm zeuge, da ja dort seiner Person nicht ausdrücklich Erwähnung geschieht. Allein wer in den Geist des Alten Testaments eingedrungen ist, wer den großen Zusammenhang der göttlichen Menschenerziehung überschaut, der sich darin kund giebt, wer das Wesen der Weissagung nicht mit spitzfindiger Klügelei, wohl aber mit lebendigem Geiste erfaßt hat, wer zu der heilsamen Ueberzeugung gelangt ist, daß die Summe dessen was im Alten Testamente uns berichtet wird als Geschichte, oder was uns geboten wird als Gesetz oder was uns verheißen wird in den Propheten, Christus ist, daß alles seine letzte Erfüllung, seinen endlichen Abschluß und Aufschluß findet in ihm, in welchem alle Verheißungen Gottes Ja und Amen sind, daß in ihm sich erst verwirklicht hat, was die Väter ahnten und worauf sie hofften, dieweil das Wort Fleisch geworden in ihm (Joh. 1,14.): der wird, auch ohne daß er ängstlich in die Deutung des Einzelnen sich verliert, in der ganzen großen Anlage des Alten Testaments ein Zeugniß von Christo finden, ein Zeugniß von den väterlichen Gnadenabsichten Gottes, von seiner Liebe und Barmherzigkeit, die, nachdem sie vielfach und in mancherlei Weise zu den Vätern geredet hat in den Propheten, zuletzt uns kund geworden in Christo, dem eingebornen Sohne Gottes, voller Gnade und Wahrheit (Hebr. 1,1. Joh. 1, 14.17.).

Aber wenn auch gleich die Worte Jesu in unserm Texte vom Alten Testamente zunächst gelten, so dürfen wir, die wir im Besitze des Neuen Testamentes sind, von diesem Buche noch mit viel größerm Rechte sagen, daß es Zeugniß gebe von Christo, und zwar Zeugniß wie kein anderes. Was das Alte Testament unter mancherlei Bildern verhüllt, das liegt hier offen zu Tage. Hier haben wir die klarsten Aussprüche Jesu selbst, hier den Rath Gottes, wie er ihn verkündigte: hier die reinen unverfälschten Züge seines Bildes, wie sie sich zusammenfügen in die unerreichbare und unvergleichliche Gestalt des Menschensohnes: hier die deutlichsten Vorschriften über unser ganzes Verhalten als Christen, hier die trostreichsten Verheißungen, die liebreichsten Ermahnungen, die mächtigsten Aufforderungen zur Tugend und Selbstüberwindung, und was das Vorzüglichste ist, nicht Aufforderungen und Ermahnungen allein haben wir, sondern die wirksamsten Förderungs- und Belebungsmittels unsers Willens, lebendige, hinreißende Beispiele des Glaubens und der Liebe, der Treue bis in den Tod. Was kein anderes Buch uns zu geben vermag, Gewißheit unsrer Sündenvergebung, Trost und Stärkung in den Leiden und Widerwärtigkeiten des Lebens und Freudigkeit im Tode, das giebt uns die Schrift des Neuen Testamentes, die Schrift des Evangeliums Jesu Christi, das eine Kraft Gottes ist, selig zu machen, Alle, die daran glauben (Röm. 1,16.). Ja, wenn wir nichts hätten, als das einzige Zeugniß eines Apostel Paulus, seine Briefe allein würden schon alles aufwiegen, was je über die Macht eines die Welt überwindenden Glaubens gesagt und geschrieben worden ist. Wer eine solche Umwandlung an sich erfahren hatte, daß er sagen konnte: hinfort lebe nicht ich, sondern Christus lebet in mir (Gal. 2,20.), der konnte auch Zeugniß geben wie kein Anderer von Christo, wahres und lauteres, lebendiges und thatkräftiges Zeugniß. Und dieses Zeugniß wird wieder unterstützt von dem Zeugniß eines Johannes, eines Petrus, eines Jakobus und Anderer, die, ein jeder in seiner Weise, je nach dem Maaße des Geistes, den sie empfangen, und je nachdem Christus in ihnen wieder eine Gestalt gewonnen, den einen mächtigen Eindruck uns wieder geben, den ihnen die Herrlichkeit des Herrn hinterlassen hatte. Ja, ewiges Leben die Fülle strömt uns aus diesen frischen Quellen apostolischer Begeisterung zu. Ist es uns doch, als ob wir mit Johannes an der Brust des Meisters selbst lägen, und als ob wir das Wehen des Geistes vernähmen, wie es am Heiligen Pfingstfeste über die Jünger kam. Wir fühlen uns aus der Welt der Eitelkeit, der Sünde und des Irrthums hineinversetzt in eine neue Welt des Glaubens und der Liebe, und was uns unmöglich schien nach menschlicher Weise, das halten wir jetzt für möglich, nachdem wir mit den Heiligen Männern Gottes geschmeckt haben die Fülle und den Reichthum seiner Gnade. Nun begreifen wir's auch, wie Tausende vor uns und Tausende mit uns, in der Bibel die Waffe gefunden, mit der sie alle Versuchungen von außen und innen siegreich niederschlugen; wie, auf ihren Verheißungen fußend, neue und immer wieder neue Zeugen aufstanden von dem Leben, das aus Gott ist, wie, von ihrem Geiste getragen, ein Huß in den Tod ging, ein Luther es aufnahm mit den Gewalten dieser Welt und den Mächten der Finsterniß. Wahrlich, nicht der geschriebene Buchstabe war es als solcher, (das fühlen wir wohl) sondern der Geist, der durch die Schrift redet; die Freudigkeit des ewigen Lebens, die aus ihr hervorleuchtet, das Zeugniß von Christo, das, ja das war es, was ihnen den Muth gab, auf Schlangen und Scorpionen zu treten (Luc. 10,19.) und den größern Muth, ihr eigen Herz zu bezwingen.

O daß wir es denn auch mit Gottes Gnade dahin bringen möchten, daß auch uns die Bibel immer werden möchte, was sie uns seyn soll, Quelle des ewigen Lebens, sprechendes und wirksames Zeugniß von Christo. Ehe sie uns dieß geworden, ist sie für uns ein verschlossenes Buch, aus dem wir zwar theilweise viel Gutes und Nützliches schöpfen, aber womit wir doch nicht recht umzugehen wissen. Nur wo Christi Antlitz aus der Schrift uns entgegenleuchtet, wo sein Geist uns in alle Wahrheit leitet und über dem Lesen uns Zeugniß giebt, daß wir Gottes Kinder sind, da wissen wir erst was wir für einen Schatz an der Heiligen Schrift haben. Erst wo der Herr selbst geistig zu uns herantritt, wie dort leiblich zu den Jüngern auf dem Wege nach Emmaus, und die Schrift uns eröffnet, da geht uns das Herz auf, da brennt es und schlägt ihm freudig entgegen, und wir bitten ihn, daß er bei uns bleibe. - Und sind wir einmal durch die Schrift zu der rechten Gemeinschaft mit dem Erlöser geführt und durch ihn wieder zur Gemeinschaft mit Gott unserm himmlischen Vater, so vermag hinfort kein Spott der Welt, kein Zweifel, keine Bedenklichkeit, die von außenher sich aufdringt, uns irre zu machen. Wen der Sohn frei macht, der ist recht frei, (Joh. 8,36.) denn er ist vom Tode zum Leben, mithin auch von dem Buchstaben, der tödtet, hindurchgedrungen zu dem Geiste, der lebendig macht. Mag nun immerhin noch manches in der Schrift ihm dunkel bleiben, mag er über einzelne Bestandtheile, über einzelne Aussprüche derselben noch mancherlei zu fragen, zu rathen und zu staunen haben, das beunruhigt ihn nicht. Wer einmal an den Quellen des ewigen Lebens sitzet und seine Früchte gekostet hat, der läßt sich von da nicht mehr wegtreiben ; wer einmal Jesum Christum zum Freunde hat, der ist auch sicher, daß keine Macht aus seiner Hand ihn reißen wird. Wem der Morgenstern aufgegangen im Herzen und der Tag des Lebens angebrochen (2. Petr. 1,19), für den giebt es kein Dunkel mehr, das ihn beunruhigt. Er kann es ruhig abwarten, bis je weiter und weiter auf alle

Gebiete der Erkenntniß die Strahlen sich verbreitet haben, die von der Lebenssonne, von Christo ausgehen. Aber bis dieser Morgenstern uns aufgeht, und damit er uns aufgehe, werden wir immer wohl thun zu achten auf das Wort der Schrift, vor allem aber an dem festzuhalten, was dazu dient, uns immer klarer über uns selbst zu machen und uns zu erbauen auf dem Grunde, der gelegt ist. Nicht absichtlich laßt uns da. her bei den dunkeln Stellen der Schrift uns aufhalten, sondern von den Lichtstellen, besonders von denen, die es uns geworden sind, laßt uns ausgehen, und diese Spur des Lichtes immer weiter verfolgen, und wir werden so von einer Stufe der Erkenntniß zur andern fortschreiten. Je weniger wir uns abschrecken lassen von den Schwierigkeiten, weiter zu suchen im rechten Geiste, desto mehr werden wir finden; je mehr wir mit dem Lesen verbinden die kindliche Bitte zu Gott, daß er unser Lesen segnen möge, desto reichlicher wird uns gegeben, je dringender wir anklopfen, desto weiter wird uns aufgethan die Pforte des ewigen Lebens. -

Und so sey denn dein Wort, o Gott! hinfort unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unsern Wegen; sein zweischneidiges Schwert sei unser gutes Wehr und Waffen im Kampfe; dein Wort sei unsere süßeste Freude im Leben und einst unser Sterbekissen. Amen.

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