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2) Er wird Schriftausleger

Ganz mit den Begriffen des hohen Bedürfnisses einer Glaubensverbesserung erfüllt, kehrte Keßler nach einem fast zweijährigen Aufenthalte zu Wittenberg, zu Ende 1523 wieder nach seiner Vaterstadt zurück. Die Kraft von Luthers Reden, die weisen Lehren Melanchthons, Bugenhagen‘s und anderer, deren Vorlesungen er dort besucht hatte, waren tief in sein Herz gedrungen. Nur sah er sich vor der Hand außer Stand gesetzt, von seinen eingesammelten Kenntnissen einen würdigen Gebrauch für‘s allgemeine Beste zu machen. Daher entschloß er sich einstweilen eine nützliche Handthierung zu ergreifen, und das Sattlerhandwerk zu erlernen, bis sich ein schicklicher Anlaß finden würde, das Werk, welches ihm hauptsächlich am Herzen lag, zum Heil seiner Mitbürger zu unternehmen. Doch deswegen setzte er seine Schriftforschungen und übrigen gelehrten Studien nicht ganz auf die Seite, wozu der Umgang mit dem gelehrten Dr. Joachim v. Watt, dessen er gewürdiget ward, und einiger würdigen Stadtgeistlichen, nicht wenig beitrug.

Am Neujahrstag 1524 wurde er von mehrern frommen Männern und guten Freunden, denen es um Belehrung und Licht aus der heil. Schrift zu thun war, auf die Weberzunft zu Gaste geladen. Nachdem die ganze Gesellschaft während dem Mahle viele und mancherlei Unterredungen über das Wort Gottes gehalten hatte, eröffneten sie Keßlern die wahre Absicht, warum sie ihn diesen Abend in ihre Gesellschaft eingeladen hätten. Sie baten ihn nämlich, daß er sich um der Ehre Gottes und Erforschung der Wahrheit willen, möchte bewegen lassen, die heilige Schrift mit ihnen zu lesen, und zu erklären. Denn weil er zu Wittenberg unter Luthern und Melanchton, und anderen berühmten Gottesgelehrten, studirt habe, so glaubten sie, er werde ihren Erwartungen gewiß entsprechen, und dieß heilsame Geschäft mit Segen übernehmen können. Man sah es nämlich nur gar zu wohl ein, daß man durch die päbstlichen Lehren von dem wahren Wege wäre abgeführt, und hintergangen worden. Aus Bescheidenheit und Mißtrauen gegen seine Einsichten, wollte zwar Keßler dieses Anerbieten von sich ablehnen, und verwies seine Freunde auf die würdigen Prediger der Stadt, in welchen das Licht einer bessern Erkenntniß schon aufgegangen war, und die sich mit allem Fleiße bemüheten, die eingewurzelten Irrthümer auszurotten. Da man aber noch länger in ihn drang, verstand er sich endlich dazu. Jedoch waren die versammelten christlichen Freunde keinesweges gesonnen, ohne Vorwissen der verordneten Prediger etwas der Art zu unternehmen, sondern wandten sich an den anwesenden Helfer Wolfgang Wetter, genannt Jussli, um auch seine Ansichten darüber zu vernehmen. Dieser bezeigte seine größte Freude und ein herzliches Wohlgefallen darüber.

Man wurde nun einig sich alle Sonn- und Feyrtage Morgens, im Hause des Beda Miles, Treiers (Drechslers), nahe an der St. Lorenzkirche, zu versammeln, und am ersten Sonntage des Jahres, mit Erklärung des ersten Briefes Johannis, welche er zu Basel den Oekolampad gehört hatte, einen gesegneten Anfang zu machen.

Diese biblischen Vorlesungen fanden bei heilsbegierigen Zuhörern, denen die heil. Schrift Jahrhunderte lang war vorenthalten worden, einen solchen Beifall, und die Zahl der Liebhaber des göttlichen Wortes vermehrte sich in kurzem so stark, daß die Stube zu klein war, und man es in Zukunft für nöthig fand, auf der Schneiderzunft am Markt, zusammen zu kommen. Da aber auch hier der Platz zu enge wurde, begab man sich des größern Raumes halber auf die Weberzunft. Hier hielt Keßler den ganzen Sommer (1524) durch bis auf den Gallustag, ganz seiner Ueberzeugung und dem Worte Gottes gemäß, seine biblischen Erbauungsstunden, über einige Briefe des N. Testaments, und bemerkte öfters, besonders gegen die, welche als blinde Anhänger des Pabstthums daran Anstoß nahmen, daß er bereit sey, jedem von seiner Lehre, aus dem Grunde der heil. Schrift, Rechenschaft zu geben.

Diese, einige mal verbotenen, bald aber wieder erlaubten, bald auf Zünften, bald auf der Straße von Keßlern und andern Predigern der Stadt abgehaltenen biblischen Erbauungsstunden wurden am 2ten Hornung 1525 in die St. Lorenzkirche verlegt, und von da an, ununterbrochen an allen Sonn- und Festtagen früh morgens 6 Uhr von verordneten Predigern gehalten. Auf diese Weise entstanden in St. Gallen die sogenannten Lesenen, welche bis auf die neuesten Zeiten, fast ganz 300 Jahre lang, für die Freunde einer biblischen Erbauung, fortbestanden haben.

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