Fliedner, Theodor - Gutachten „die Diakonie und den Diakonat betreffend“

Fliedner, Theodor - Gutachten „die Diakonie und den Diakonat betreffend“

(1856)

III. Gutachten

des Pastors Dr. Fliedner zu Kaiserswerth.1)

Ein Hochwürdiger Ober-Kirchenrath hat mir das Vertrauen geschenkt, mich unterm 28. März c. zu einem Gutachten aufzufordern über die Fragen in der mitgesandten Denkschrift, welche, die Diakonie und den Diakonat betreffend, darin angeregt worden sind.

Indem ich diesem hochgeneigten Vertrauen hierdurch, nach meinen schwachen Kräften, zu entsprechen suche, muß ich gehorsamst um Entschuldigung bitten, daß ich den mir gesetzten Termin von 3 Monaten nicht genau eingehalten habe. Meine leidende Gesundheit, welche mir eine siebenwöchentliche Badekur zur Pflicht machte, ließ mich diese Arbeit nicht früher voll-enden.

Der in der Denkschrift angeregten Fragen sind vier:

  1. Ist der Diakonat organisch mit der Gemeinde-Verfassung zu verknüpfen, oder zu-nächst noch außerhalb derselben in den Boden der freien Association zu pflanzen?
  2. Muß nicht beides gleichzeitig neben einander geschehen?
  3. Ist es wohl möglich, eine Thätigkeit, die aus der aufopfernden Liebe und dem herzlichen Erbarmen für die Mühseligen und Beladenen hervorgehen soll, als eine Amts-pflicht zu übertragen?
  4. Ist der Diakonat nicht bloß ein Theil der gemeindlichen Institutionen, sondern eine eigene Ordnung in der Kirche, welche zwischen der höheren Ordnung der Diener am Wort und der in den Hausvätern dargestellten Gemeinde mitten inne steht?

I. Frage

Ist der Diakonat organisch mit der Gemeinde-Verfassung zu verknüpfen, oder zunächst noch außerhalb derselben in den Boden der freien Association zu pflanzen?

Daß der Diakonat organisch mit der christlichen Gemeinde-Verfassung zu verknüpfen ist, geht unwidersprechlich aus den Schriften und Handlungen der Apostel hervor, welche die Gemeinde-Verfassung in ihren ersten nothwendigen Grundzügen nicht bloß uns dargelegt, sondern selbst ins Leben gerufen haben. Sie hatten in der ersten Gemeinde zu Jerusalem, neben ihrem geistlichen Amte, zuerst auch das Amt übernommen, für die leibliche Pflege der Armen, Wittwen und Waisen zu sorgen. Allein gar bald mußten sie erklären: „Es taugt nicht, daß wir das Wort Gottes unterlassen, und zu Tische dienen“ (Apostelgesch. 6, 3). Sie erkannten, daß dies doppelte Amt für sie zu viel war, daß über dem Sorgen für das Eine man Gefahr lief, das Andere zu übersehen (Apgesch. 6, 1). Sie wollten aber, nach ihrer Weisheit, das Versorgen der Armen nicht der Barmherzigkeit der einzelnen Christen allein überlassen, sondern fanden dafür ein besonderes Amt in der Gemeinde, neben dem geistlichen Amte, nöthig.

Sie ließen daher die Gemeinde besondere Männer wählen für dies Amt der Diener (Diakonen), wie sie es nannten, und verlangten, daß diese Diener der Armen, als die ein wichtiges Gemeinde-Amt zu verwalten hätten, drei Eigenschaften besäßen: 1. ein gutes Gerücht, 2. voll heiligen Geistes, vom Geist des Glaubens erfüllt (1 Tim. 3, 9), 3. voll Weisheit seien (Apgesch. 6, 3). „Diese stellten sie (die Gemeinde) vor die Apostel, und beteten und legten die Hände auf sie“ (Apgesch. 6, 6).

Ebenso stellt der Apostel Paulus neben das Bischofs-Amt (1 Tim. 3, 1-7.) (dieses zwiefache Aeltesten-Amt 1. Tim. 5, 17, Apgesch. 20, 17. 28) unmittelbar das Amt des Diakons 1. Tim. 3, 8-13, verlangt auch hier wieder, wie die Zwölfe (Apgesch. 6, 3), von den Diakonen nur ein Dienen, nicht ein Lehrhaftig-Sein, wie von den Bischöfen (1. Tim. 3, 2, Tit. 1, 9).

Auch er hält dies Amt für ein sehr wichtiges Gemeinde-Amt, so daß er die Diakonen vor ihrer Wahl erst eine Probezeit bestehen läßt (1 Tim. 3, 10). Im Gruß an die Gemeinde zu Philippi und ihre Beamten stellt er gleichfalls die Bischöfe und Diakonen neben einander (Phil. 1, 1).

Den Aposteln gehorsam, hat die Kirche viele Jahrhunderte Diakonen als solche Diener der Gemeinde neben den Geistlichen angestellt.

Sie dienten hier: 1. durch leibliche Fürsorge für die Armen, Wittwen, Waisen und Kranken, 2. durch Verwaltung des kirchlichen Armen-Guts, und 3. durch Sammlung milder Beiträge für die Armen (vgl. XIV, XVI u. XVIII Canones Concil. Trull.), 4. daß sie die erwachsenen Täuflinge unterrichteten (Theophylact. in Cap. XIX Lucae), 5. daß sie bei den Taufen den Geistlichen Handreichung thaten, ohne aber selbst taufen zu dürfen (vgl. Epiphan. Haeres. LXXIX Collyridianorum, Pachymer. In Cap. V Dionys. Areopag. de ecclesiast. Hierarch. No.VI), 6. daß sie beim heiligen Abendmahle Brod und Wein darreichen halfen, ohne daß sie es aber consecriren durften ( vgl. Justin. Apolog. II., Cyprian. Serm. V de lapsis und Canon II Concil. Ancyr.). Dies thun die Kirchendiener in der reformirten Kirche Schottlands und Englands und bei den Mennoniten noch jetzt, indem sie Brod und Wein theils den Communikanten in ihren Stühlen herumreichen, theils, wie in Holland, es auf die Tafeln stellen, an die sich die Abendmahlsgäste setzen), 7. daß die Gebete und Abschnitte in der heiligen Schrift in der Kirche dem Volk vorlasen (vgl. Chrysost. homil. XII in Epist. ad Rom., Constitut. Apostol. lib. II cap. LVII). (Die Kirchendiener in der reformirten Kirche Hollands e.c. lesen noch jetzt Bibelabschnitte in der Kirche vor, ehe die Predigt anfängt, und die Schullehrer lesen als Kirchendiener in der Rheinprovinz, Westphalen, Holstein, e.c. noch jetzt Predigten und Gebete in der Kirche vor, wenn die Geistlichen krank oder abwesend sind). Aber das eigentliche Predigen, als öffentliches geistliches Lehramt, gehörte nicht zum Beruf der Diakonen. 8. daß sie die Ordnung in der Kirche zu erhalten suchten (Constitut. Apostol. lib. II cap. LXVII); 9. daß sie Pförtner an den Kirchen waren (Dionys. Areopag. Eccles. Hierarch. cap. V Myst. I. num. VI), welche letzteren Geschäfte nachher an die Subdiakonen übergingen; 10. daß sie auch Diener und Assistenten der Bischöfe in vielen kirchlichen Geschäften waren (Canon XVIII Concil. Nicaeni).

Die Weisheit der Apostel war aber so umfassend, daß sie alle Kräfte in der Gemeinde, nicht bloß die männlichen zu gegenseitiger Handreichung für die Erbauung des Leibes Christi heranzuziehen wußten, daß sie nämlich auch den weiblichen Kräften, die im Morgenlande so gering geschätzt und hintangesetzt wurden ( und von den Nicht-Christen noch werden), eine Stelle anwiesen, wo sie zum gemeinen Nutzen thätig sein konnten. Und zwar wiesen sie ihnen eine solche Stelle an, die dem eigenthümlichen Berufe des Weibes, seinem Wirken mit sanftem und stillem Geiste, nicht Eintrag that, wo die weiblichen Kräfte sogar mehr leisten konnten, als die männlichen, nämlich in der Diakonie, in der Pflege der schwachen, kranken, dürftigen und elenden Glieder des Leibes Christi.

Sehr bald nämlich nach Anstellung männlicher Diakonen wurden auch Diakonissen, weibliche Diakonen, in den Gemeinden angestellt, weil man erkannte, daß die Armenpflege bei Frauen, und die Kranken-und Kinderpflege besser vom weiblichen Geschlechte geübt wurde, und die Kirche bei der scharfen Sonderung der Geschlechter im Morgenlande dem Evangelium bei den Heidinnen und Jüdinnen leichter durch Frauen Eingang bereitete, als durch Männer.

Wann, wo und von wem die Diakonissen zuerst angestellt wurden, ist nicht bekannt. Höchst wahrscheinlich geschah es auf Anregung der Apostel, jedenfalls mit ihrer Genehmigung.

Der Apostel Paulus erwähnt nämlich rühmend eine solche Diakonissin Phöbe, als Dienerin der Gemeinde zu Kenchrea, und empfiehlt sie der Gemeinde zu Rom (Röm. 16, 1).Er nennt daselbst [|111] noch andre Christinnen lobend, welche in ähnlicher Weise, wenn auch vielleicht nur in freier Liebespflege, der Gemeinde dienten, die Tryphäna und die Tryphosa „welche in dem Herrn gearbeitet haben“, die Persis, „welche in dem Herrn viel gearbeitet hat“, Maria, sodann die Mutter Ruffi, die Priscilla. (Röm. 16, 12. 6. 13. 3. 4, vgl. Apostelgesch. 18, 1-3. 24-26). Er nennt als solche Christinnen Euodia und Syntycha in der Gemeinde zu Philippi, „welche samt mir über dem Evangelio gekämpft haben.“ ( Phil. 4, 2. 3). Er wünscht, daß Frauen mögen gute Lehrerinnen sein (Tit. 2, 3). Er befiehlt seinem Timotheus, keine Wittwe erwählen zu lassen, als nur die ein bestimmtes Alter habe, über 60 Jahre, und bestimmte Eigenschaften in ihrem Leben nachweise, unsträflichen Wandel und Eifer in guten Werken, besonders in Werken der Barmherzigkeit (1. Tim. 5, 9. 10).

Es ist nicht gesagt, wozu diese Wittwen erwählt wurden. Aber, wenngleich aus dem Kapitel (V. 3-16) mit Recht gefolgert werden kann, daß sie zu einer gewissen Versorgungs-Berechtigung erwählt wurden, so geht doch daraus, daß bald nach der apostolischen Zeit alle Diakonissen Wittwen hießen, der Diakonissen-Stand Wittwen-Stand hieß (Tertull. ad uxorem lib. I cap. VII., Epiphanius in doctrina compend. de fide, Can. XI Concil. Laodic., Concil. Epaun. Can. II), hervor, daß die meisten Diakonissen Wittwen, und die von Paulo genannten Wittwen wenigstens eine Klasse der Diakonissen waren, und zwar solche, welche, neben ihrem Versorgtwerden von der Gemeinde, die Pflicht hatten, soweit sie rüstig waren, noch Arme in der Gemeinde versorgen zu helfen. Ganz in ähnlicher Weise verordnet die lutherische Kirchen-Ordnung der Stadt Minden vom Jahr 1530, daß die Frauen, welche mit Pröven (Geld-oder Brod-Spenden) begabt und stark sind, den Kranken in der Noth dienen sollen. Auch heutzutage werden diejenigen Frauen in den Altenfrauenhäusern, welche noch rüstig sind, zu solchen Pflegediensten gebraucht.

Überdies war es in jener apostolischen Zeit mitten unter den zucht-und sittenlosen Heiden besonders nöthig, daß wenigstens ein Theil der Diakonissen gesetzte, erfahrene Matronen waren, um ihr Amt unanstößig und mit Würde verrichten zu können. Dazu paßten bejahrte, noch rüstige Wittwen am besten.

Die Diakonissen waren aber nicht immer Wittwen, sondern auch zum Theil Jungfrauen, wie Tertullian (de vel. virg.) und Epiphanius ( in doctrina compend. de fide) uns melden. Vgl. auch Balsamon ad. Can. XIX Concil. Nicaeni, Constitut. Eccles. Collect. lib. III ex Novellis tit. 1 pag. 1317 Biblioth. juris. Canonici. Sie wurden, wie die Diakonen, mit Handauflegung in ihr Kirchen-Amt eingesegnet (Can. XV Concil. Chalcedon., Can. XIV und XL Concil. Trull.).

Ihr Alter durfte in den ersten Jahrhunderten nicht unter 60 Jahren sein. (Tertull. de vel. virg. Cap. IX de viduis, Balsamon in Constitut. Eccles. Collect. ex lib. I. Cod. tit. III. pag. 1254 in Biblioth. juris Canonici). Auch die Kaiser Theodosius und Valentinian setzten dies Alter fest (I. XXVII C. Th. de episc. et. cler.), und beriefen sich auf Pauli Bestimmung 1. Tim. 5. Sonach verstand die alte Kirche diese Stelle auch von Diakonissen.- Kaiser Justinian bestimmt, daß ihr Alter wenigstens 50 Jahre sein müsse (Nov. II Cap.VI., Phocius in Nomoc. tit. I de fide cap. XXVIII.)Die Synoden zu Chalcedon, can. XV, und zu Constantinopel, can. XIV und XL Conc. Trull., setzten das Alter auf 40 Jahre herab.-Ihr Alter war aber oft noch viel jünger, wie Tertullian schon von einer Diakonissin spricht, die erst 20 Jahre gewesen, weil die Beschwerden mancher Arbeiten, namentlich die Krankenpflege, ein sehr rüstiges Alter erforderten. (Tertull. de vel. virg.)

Die Dienste der Diakonissen waren folgende:

Sie übten Armen-, Kranken- und Gefangenen-Pflege, so daß sie die Märtyrer und andre Christen in den Gefängnissen besuchten und nach Kräften pflegten; (Clem. Constitut. apostol. lib. III cap. XV., Hieronymus ad Nepotianum). Sie erhielten die Ordnung in den Kirchen bei den weiblichen Gemeindegliedern, sowohl bei dem Eintritt derselben an den Thüren, als Pförtnerinnen, (Constit. Apostol. lib. II cap. LVII), als während des Gottesdienstes, (Balsamon ad Can. XI Concil. Laod.). Sie unterrichteten als Catechetinnen die weiblichen Catechumenen vor der Taufe, ( Can. XII Synod. Carthag. IV). Sie halfen bei dem Aus-und Ankleiden der erwachsenen weiblichen Täuflinge, (Epiphan. haeres. LXXIX).Sie wuschen die weiblichen Leichen und bereiteten sie zur Beerdigung vor, ( Clem. Constitut. apostol. lib.III cap.XV., Hieronymus ad Nepotianum) und verrichteten, was sonst noch das Amt der Kirchendienerinnen mit sich brachte.

Das segenreiche Wirken der Diakonissen erweckte selbst den Haß und Neid der Heiden. In der Christenverfolgung unter Trajan ließ daher sein Statthalter Plinius in Bithynien gleich zu Anfang 2 Diakonissen auf die Folter bringen, um sie zu Geständnissen und zum Abfall zu bewegen. Aber sie blieben ihrem Herrn treu.

Um die Zeit des Bischofs Chrysostomus waren 40 Diakonissen an der große Kirche zu Constantinopel und 6 an einer andern Kirche daselbst angestellt. Unter ihnen war eine gottselige und reiche Wittwe, Olympias, die sich durch ihre selbstverleugnende, unermüdete Liebesthätigkeit auszeichnete.

Das Diakonissen-Amt erhielt sich in der griechischen Kirche bis ins zwölfte, in der römischen bis ins achte Jahrhundert und hörte in beiden Kirchen theils wegen der Mißbräuche auf, die man in dies Amt hatte einschleichen lassen, theils weil die mittelalterliche Priester -Herrschsucht alle solche Laien-Thätigkeit immer mehr aus der Kirche zu verdrängen suchte.

Noch viel früher hörte das Amt der Diakonen, als ein Amt der dienenden Liebe in der Kirche, auf. Denn mit dem Wachsen der geistlichen Macht und Würde der Bischöfe wurden auch die Diakonen, als ihre Diener, mehr und mehr in den geistlichen Stand, den Clerus, hinübergezogen, und hörten auf, Diener der Gemeinde und ihre amtlichen Helfer und Versorger in leiblichen Nöthen zu sein. Dies war aber eine Ausartung des ursprünglichen Diakonen-Amtes der apostolischen Kirche, was auch Luther mit seinem apostolischen Scharfblick bemerkte, so daß er eine Wiederherstellung des apostolischen Diakonats verlangt.

Er weist hierbei auf die Kirche der Waldenser und der böhmischen und mährischen Brüder hin, worin noch Diakonen und Diakonissen, letztere unter dem Namen: Aeltestinnen, als Gemeinde-Beamte für die Armen-und Kranken-Pflege angestellt waren, und er wünscht, daß die Diakonie in gleicher Weise in der evangelischen Kirche wieder eingeführt werde. „Aber, fügt er hinzu, wir haben nicht die Personen dazu; darum traue ich nicht, es anzufangen, bis unser Herr Gott Christen macht.“

Auch achtet er das weibliche Geschlecht besonders geeignet zur christlichen Liebespflege. So sagt er: „Die Neigung, sich Andrer zu erbarmen, hat das weibliche Geschlecht an sich mehr, als die Männer. Die Weiber, so die Gottseligkeit lieb haben, pflegen auch sonderliche Gnade zu haben, Andre zu trösten, und ihnen ihre Schmerzen zu lindern.“

In seinem Büchlein von der babylonischen Gefängniß der Kirche erklärt er namentlich: „Das Diakonat-Amt ist nicht ein Dienst, das Evangelium aber die Epistel zu lesen, wie heut zu Tage bräuchlich, sondern die Kirchengüter den Armen auszutheilen, damit die Priester, von der Last der zeitlichen Güter entledigt, mit dem Gebet und dem Worte Gottes geflissener und freier anhalten möchten. Denn mit diesem Rath, wie wir Apgesch. 6, 3 lesen, sind die Diakoni gestiftet worden.“

Diesen Gottes-Rath, den der heilige Geist den Aposteln eingab, sollten und dürfen wir nicht gering achten, meint der apostolische Reformator. Diese heilige Demuth der Apostel, welche ehrlich vor der ganzen Gemeinde bekennen, daß die beiden Aemter, das Amt des Worts und das Amt der Armen-Versorgung, ihnen zu viel würden, und darum andere Männer aus der Mitte der Gemeinde für das letztere zu wählen seien, diese Demuth müßten wir Geistliche jetzt auch haben, und froh sein, wenn wir von der Last der zeitlichen Güter, von dem schweren Amt, sie zu verwalten und unter die Nothleidenden zu vertheilen, entledigt würden; müßten auch nicht glauben, daß unser geistliches Amt an sich uns die Kraft gebe, Alles zugleich zu thun, das Leibliche und das Geistliche, mehr als die Apostel; müßten also nicht meinen, daß unserem Anhalten am Gebet und am Amt des Worts und unsrer geistlichen Pflege an einzelnen Seelen unsrer Gemeinde kein Eintrag geschehe, wenn auch alle die leiblichen Nöthen derselben uns allein fortwährend in Anspruch nähmen.

Wir müßten ferner die apostolische Demuth haben, zu erkennen, daß wir, trotz unsers geistlichen Amtes, häufig nicht die Weisheit haben, die leiblichen Nöthen und Bedürfnisse der Gemeindeglieder so zu befriedigen, wie christlichgesinnte Laien, welche den andern Gemeindegliedern viel näher stehen, als wir, durch gleichen Stand, gleiche Verhältnisse, gleiche Beschäftigung.

In dieser heiligen Demuth ermahnt der Apostel Paulus, weil es mancherlei Gaben, mancherlei Aemter und mancherlei Kräfte gebe, daß Niemand weiter von sich halte, als sichs gebühret zu halten, sondern daß er von ihm mäßiglich halte, und, wie in Einem Leibe viele Glieder seien, aber nicht alle Glieder einerlei Geschäfte haben, so seien wir viele Ein Leib in Christo, aber unter einander sei einer des andern Glied. Und, wenn er diese verschiedenen Aemter und Geschäfte nennt, so unterscheidet er das Amt des Lehrens und des Ermahnens von dem Amt des Gebens und des Barmherzigkeit-Uebens (Röm. 12, 7. 8.), und nennt neben den Aposteln, Propheten, Lehrern, Wunderthätern auch: Helfer und Regierer (V. 28), wo er unter den Helfern, aller Wahrscheinlichkeit nach, Diakonen, und unter den Regierern vorstehende Aeltesten (1. Tim. 5, 17) versteht.

So sollen denn, nach des Apostels Willen, alle Glieder für einander gleich sorgen, und eins dem andern Handreichung thun, nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seiner Masse, und machen, daß der Leib wächset, zu seiner Besserung (Eph. 4, 16).

Diesem Befehl der Apostel, diesem Vorbild der alten, christlichen Kirche, dieser Aufforderung Luthers und andrer Reformatoren, namentlich Calvins, gemäß, hat denn auch die evangelische Kirche, vorzugsweise der reformirten, aber auch der lutherischen Confession, z.B. in mehreren lutherischen freien Reichstädten, Braunschweig u.a., in der Rheinprovinz und Westphalen, im Reformations-Jahrhundert das Amt der Laien-Diakonen wieder in den Gemeinden eingeführt.

Eine dreihundertjährige Erfahrung hat seitdem gelehrt, daß, wo dieses Diakonen-Amt dem geistlichen Amt zur Seite stand und Hülfe leistete, das letztere dadurch nicht an Ansehen und Einfluß bei der Gemeinde verlor, sondern gewann, weil der Geistliche mit seinen Laien-Assistenten zweckmäßiger und umfassender der Noth der Armen und andrer Leidenden zu Hülfe kommen konnte, weil er die oft ungerechten Vorwürfe über ungleiche Vertheilung der milden Gaben nicht allein zu tragen brauchte, und weil er mit Hülfe seiner Assistenten die Mitwirkung der nichtarmen Gemeindeglieder in viel größerem Umfang zu Werken der Liebe erwecken konnte.

Daher z.B. in unserm Jülich, Cleve, Berg und Mark bis auf den heutigen Tag die Menge Vermächtnisse, Stiftungen und Geschenke aus der Mitte der Gemeinden für Kirchen, Schulen und Armen, selbst unter der früheren römisch-katholischen Regierung, wo sie alle Bedürfnisse für ihre Kirchen- und Schul-Systeme allein bestreiten mußten; daher die unaufhörlichen Kollekten für wohlthätige Zwecke, ohne daß die Gemeinden müde werden; daher das frischere , freundschaftlichere und kräftigere Zusammenwirken unserer Geistlichen mit der Gemeinde für kirchliche Gemeinde-Zwecke und für Zwecke des Reichs Gottes überhaupt, weil sie nicht des einseitigen Handelns, nicht hierarchischer Herrschsucht beschuldigt werden können, da die Diakonen (und Aeltesten) mit ihnen in Einem Collegio regelmäßig berathen.

Dieselben Erfahrungen hat man auch in denjenigen Theilen der Rheinprovinz und Westphalens schon zu machen angefangen, wo diese Diakonen erst durch die neue Kirchen -Ordnung seit dem Jahre 1835 eingeführt sind, ja sogar schon da, wo eine ähnliche kirchliche Gemeinde-Ordnung erst seit dem Jahre 1850 besteht, wie die gedruckten amtlichen Mittheilungen über Aufnahme und Wirksamkeit der evangelischen Gemeinde-Kirchenräthe in der Provinz Preußen während der ersten zwei Jahre ihres Bestehens nachgewiesen haben.

Dieselben Erfahrungen haben Holland und die andern Länder gemacht, welche die Diakonie der apostolischen Kirche in ihre kirchliche Verfassung aufgenommen haben.

Jedoch ist allerdings auch in diesen Ländern ein Theil der christlichen Liebespflege, nämlich die Krankenpflege, von den Gemeinden sehr versäumt worden. Und warum? Weil die evangelische Kirche in den meisten Ländern versäumte, die Hauptwerkzeuge für die Krankenpflege, welche die apostolische Kirche dafür in ihre Gemeinde-Verfassung aufgenommen, die Diakonissen, in ihre Verfassung aufzunehmen, und weil, wo sie es that, wie in Wesel und in den Niederlanden, doch diese Einrichtungen sehr bald wieder zu Grabe gingen.

Wie die Kirche der Reformationszeit das Bedürfniß anerkannte, und Einrichtungen dafür machte, und wie diese wieder zu Grabe gingen, darüber habe ich Näheres in der kleinen Schrift: „Nachricht über das Diakonissen-Werk in der christlichen Kirche, alter und neuer Zeit, 1856“, S. 7-11 mitgetheilt.

Nach Vorstehendem ist nun nicht mehr zu fragen noch zu zweifeln, ob der Diakonat organisch mit der Gemeinde-Verfassung zu verknüpfen sei, sondern die evangelische Kirche hat gar kein Recht, dies Amt, wo sie es noch nicht in ihre Verfassung aufgenommen hat, länger [|116] den Gemeinden zu entziehen, wenn sie sich mit Recht rühmen will, auf der apostolischen Kirche zu fußen, und wenn sie das geistliche Amt wirklich stärken will, dessen festeste Stütze eine treue Armen-und Krankenpflege in der Gemeinde ist.

Wollte die Kirche den Diakonat zunächst ganz der freien Association überlassen, so würde sie sich selbst ein klägliches Armuts-Zeugnis ausstellen, als ob sie nicht im Stande sei, die in der Gemeinde vorhandenen Kräfte für die christliche Liebespflege sich dienstbar zum gemeinen Nutzen zu machen, oder als ob sie diese Mutterpflicht der Liebespflege nicht für ihre Pflicht erkenne, und in träger Gleichgültigkeit freien Vereinen, oder dem Staate einen Theil ihrer Pflicht zu thun überlassen wolle. Sie könnte auch in der selbständig sich neben ihr, statt unter ihr entwickelnden Diakonie leicht eine gefährliche Macht neben sich bekommen, welche von den independentischen und andern sectirerischen Gelüsten zum bittern Schaden der Kirche gemißbraucht werden möchte. – Die römische Kirche hat mit großer Klugheit die vielen, zum Theil frei in ihrer Mitte entstandenen Brüder- und Schwesternschaften für christliche Liebespflege mit sich verbunden.

Nein, die evangelische Kirche darf ihre Pflicht nicht halb, sie muß ihre ganze Pflicht thun.

Dies hat auch die General-Synode von 1846 anerkannt, so daß sie in ihren Grundzügen einer Kirchenverfassung für die evangelische Kirche in den sechs östlichen Provinzen der Monarchie §.11 Diakonen zu Mitgliedern jedes Presbyteriums bestimmt hat, welchen die Armen-Versorgung übertragen ist, sowie die Krankenpflege und die andern christlichen Liebesthätigkeiten. Ebenso haben die von Sr. Majestät genehmigten Grundzüge einer evangelischen Gemeinde-Ordnung für die östlichen Provinzen vom Jahre 1850 in §. 12 dem Gemeinde-Kirchenrath die Leitung der kirchlichen Einrichtung für Armen- und Krankenpflege zur Pflicht gemacht. – Die Glieder des Kirchenrathes haben hierin noch keine Amtsnamen nach ihren verschiedenen Geschäften. So ist denn auch noch kein Diakon genannt, wohl, um eine Collision mit dem für den zweiten Geistlichen oder Nachmittags -Prediger bisher bestehenden Amtsnamen „Diakonus“ zu vermeiden. Es ist jedoch wünschenswerth, daß die Behörden diesen Namen für ein geistliches Pfarr-Amt außer Gebrauch setzen und dadurch anbahnen mögen, daß die Armenpfleger im Kirchenrathe den apostolischen Namen „Diakon“ erhalten. Die Hinweisung auf den apostolischen Ursprung des Amts ist von Wichtigkeit. Nomen est omen. Auch die General-Synode hat sich nicht gescheut, diesen Namen wieder dem Amte zu vindiciren.

In welcher Weise auch das Diakonissen-Amt mit der Gemeinde-Verfassung organisch zu verknüpfen sei, wird bei Beantwortung der III. Frage näher erörtert werden.

II. Frage

Muß nicht der Diakonat, wenn er organisch mit der Gemeinde-Verfassung verknüpft wird, doch auch gleichzeitig in den Boden der freien Association gepflanzt werden?

Allerdings sind nicht alle christlichen Liebesthätigkeiten in der Gemeinde in den kirchlichen Ring des Diakonat-Amtes zu fassen, sondern die freie Liebe christlicher Vereine muß daneben die einzelnen, zerstreuten Brosamen von Kräften, Gaben und guten Willen in der Gemeinde sammeln, vereinigen, und damit die Thätigkeit des Diakonats ergänzen und stützen. Die freie Vereins-Thätigkeit muß daher der Kirche dienen, muß der Amts-Thätigkeit des Diakonats bereitwillig zur Hülfe sein und sich mit ihr vielfach verbinden, muß oft ihr Auge, ihre Hand, ihr Fuß sein.

Die Sache wird sich am besten veranschaulichen lassen, wenn wir die Pflichten der kirchlichen Diakonen oder Armenpfleger, wie die rheinisch-westphälische Kirchen-Ordnung von 1835 auf Grund der alten 200 jährigen Kirchen-Ordnung sie in §. 17 aufzählt, betrachten.

„§. 17. Die besonderen Obliegenheiten der Armenpfleger sind folgende:

1. die Sorgen für die Armen der Gemeinde: sie untersuchen deren Familien-Verhältnisse, ihren häuslichen und ihren sittlichen Zustand, erforschen deren Bedürfnisse, machen die nöthigen Anträge zur Befriedigung derselben in der Versammlung des Kirchenvorstandes und vollziehen in dieser Hinsicht die gefaßten Beschlüsse;

2. sie verwalten den Armenfonds der Gemeinde, besorgen, nach den ihnen zu ertheilenden Anweisungen des Präses, die Einnahmen und Ausgaben und legen jährlich dem Presbyterio, welches für die richtige Kassenführung verantwortlich ist, Rechnung von ihrer Verwaltung ab. Auch haben sie sich jeder von dem Presbyterio angeordneten besonderen Kassen-Revision zu unterwerfen. Auf den Antrag des Presbyteriums kann es der Superintendent gestatten, daß die Rendantur der Armenkasse gegen Remuneration einem besondern Rendanten, der dadurch nicht Mitglied des Presbyteriums wird, übergeben werde. Auch kann ein anderes Mitglied des Presbyteriums diese Rendantur übernehmen.

3. sie besorgen die Sammlungen der Beiträge für die Kirche und Armen der Gemeinde und die vom Staate angeordneten kirchlichen Collekten.“

Von diesen dreierlei Pflichten können die kirchlich bestellten Diakonen die unter Nr. 2 erfüllen. Oder, wo die Größe des Armen-Vermögens seine Verwaltung erschwert, ist amtlich für Hülfeleistung gesorgt. Die Pflichten unter Nr. 3 können die Diakonen in kleinen Gemeinden hinreichend erfüllen. In großen Gemeinden jedoch bedürfen sie dazu, namentlich zur Einsammlung der Beiträge für die Armen, noch persönliche Hülfe. Aber die Hauptpflichten der Diakonen, unter Nr. 1, die specielle Sorge für die Armen, die Untersuchung ihrer häuslichen und sittlichen Zustände, ihrer Bedürfnisse, und das Vollziehen der in dieser Hinsicht gefaßten Beschlüsse des Kirchenvorstandes, übersteigen ihre Kräfte bei weitem, selbst schon in mäßig großen, wie viel mehr in sehr volksreichen Gemeinden.

Wo sollen die Diakone, welche in der Regel Geschäftsleute, Kaufleute, Handwerker, Landleute u. dgl. sind, die ihre Hauptzeit und Kraft ihrem Broderwerb schuldig sind, all` die Zeit und Kraft hernehmen, welche diese Fürsorge für die leibliche und geistliche Wohlfart aller bedürftigen Familien ihrer Gemeinde erfordert, selbst wenn sie die volle Liebe dafür haben? Daher haben in großen Gemeinden, wo viel christliches Leben herrscht, wie z.B. in Barmen, seit vielen Jahren theils die Presbyterien selbst ihren Provisoren ( wie die Diakonen früher hier hießen), noch Hülfs-Provisoren als Privat-Gehülfen beigegeben, welche die Untersuchung der Noth in den Familien, und das Austheilen der Hülfe großentheils besorgen, gegen eine gewisse Vergütung; theils haben die Diakonen, wenn sie wohlhabend waren, für die 2 Jahre ihres Amtes solche Hülfs-Provisoren, mit Wissen der Presbyterien, sich privatim beigesellt und aus ihrer Tasche dafür bezahlt. Indeß waren die Folgen davon, daß selbst wohlgesinnte Diakonen in solchen Gemeinden froh waren, wenn ihre zweijährige Amtszeit zu Ende war, weil sie ihnen Kosten machte, und ließen sich nicht gern wieder wählen; theils wurde auch von den Hülfs-Provisoren die Fürsorge für die Armen nur höchst mangelhaft geübt, weil die Vergütung dafür sehr gering war, und weil sie als Handwerker oder kleine Geschäftsleute ihre Zeit für den Broderwerb nöthiger brauchten.

In den meisten größeren Gemeinden stehen aber den Diakonen solche Gehülfen nicht zur Seite, so daß die specielle Fürsorge für die Armen gar sehr versäumt wird.

Die Sorge für die Krankenpflege ist in §. 17 der rheinisch-westphälischen Kirchen-Ordnung unter den Pflichten der Diakonen nicht einmal genannt worden. So sehr war sie vergessen. In den alten reformirten Kirchen-Ordnungen für Cleve und Mark und für Jülich und Berg war es wenigstens den Aeltesten als Pflicht aufgegeben, die Kranken, sowie die Armen, Wittwen und Waisen zu besuchen (§. 56 K.-O. für Cleve und Mark, §. 58 K.-O. für Jülich und Berg). Die Generalsynode von 1846 hat in ihren Grundzügen einer Kirchenverfassung §§. 10 und 11 die Krankenpflege, neben der Armenpflege, ausdrücklich als zum Pflichtenkreis der Diakonen gehörend erklärt. Das selbe thun die Grundzüge einer evangel. Gemeinde-Ordnung vom Jahr 1850 im §. 12.

Um obengenannte Versäumnisse der Kirche in der Armen-und Krankenpflege gut zu machen, und diese Lücken auszufüllen, ist die Liebesthätigkeit freier christlicher Vereine für die Diakonie, als innere Mission, auch im Bereich unsrer rheinisch-westphälischen Kirchen -Ordnung nöthig geworden, und noch viel mehr in den Gegenden, wo gar kein kirchliches Armenpfleger-Amt vorhanden ist.

Diese freie Liebesthätigkeit ist um so nöthiger für den inneren Bau der Gemeinde geworden, weil die

III. Frage

ob es wohl möglich ist, eine Thätigkeit, die aus der aufopfernden Liebe und dem herzlichen Erbarmen für die Mühseligen und Beladenen hervorgehen soll, als eine Amtspflicht zu übertragen? nicht bejahend beantwortet werden kann.

Der Apostel Paulus verlangt, daß die Diakonen das Geheimniß des Glaubens in reinem Gewissen haben (1. Tim. 3, 9), und, wenn Jemand Barmherzigkeit übe, so thue er es mit Lust! (Röm. 12, 8). Wo der Glaube lebendig ist, da ist er allerdings auch durch die Liebe thätig und hat herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Sanftmuth und Geduld angezogen. Allein, wie jetzt unsre Gemeinden beschaffen sind, können wir, wenn wir aus den den Gemeindegliedern Diakonen als Mitkirchenvorsteher erwählen lassen oder bestellen, nicht den lebendigen, liebesthätigen Glauben an den Herrn Jesum als ein nothwendiges Erfordeniß zur Wahl verlangen.

Wir müssen uns oft mit kirchlichem, dem Glauben nicht abgeneigten, und im Allgemeinen menschenfreundlichen Sinn begnügen.

Dies thut auch die rheinisch-westphälische Kirchen-Ordnung §. 16: „Es dürfen nur solche selbständige Gemeindeglieder zu Mitgliedern des Presbyteriums gewählt werden, deren Wandel unsträflich ist, die ein gutes Gerücht in der Gemeinde haben, überhaupt ihre Liebe zur evangelischen Gemeinde bethätigen, und durch Theilnahme an dem öffentlichen Gottesdienste und heiligen Abendmahle ihre kirchliche Gesinnung beweisen.“ Ganz dasselbe verlangt die evangelische Gemeinde-Ordnung für die östlichen Provinzen in §. 8 von den Mitgliedern des Gemeinde-Kirchenraths.

Hiernach wird das eine der 3 apostolischen Erfordernisse für die Wahl eines Diakonen (Apgesch. 6, 3) verlangt: ein gutes Gerücht in kirchlicher und sittlicher Hinsicht, aber auch nur dies Eine. Das zweite apostolische Erforderniß nicht: der Geist des liebesthätigen Glaubens, und das dritte auch nicht: die Weisheit. – Dies letztere fehlte denn auch oft nicht weniger, als das zweite. Wie könnten z.B. junge, wohlhabende, vornehm erzogene Kaufleute und ähnliche Geschäftsleute, welche in größeren Gemeinden, namentlich in Städten, besonders gern zum Diakonen-Amt herangezogen werden und das Armen-Vermögen trefflich verwalten können, in der Regel die Weisheit haben, die Armen recht zu behandeln, zu berathen und zu versorgen, mit Scharfblick ihre Bedürfnisse, die Nöthen und Gebrechen ihres häuslichen und sittlichen Zustandes zu erforschen, und die zweckmäßigen Heilmittel dafür vorzuschlagen? Sie haben diesen Armen-Verhältnissen bisher ganz fern gestanden, haben sich Erfahrungen und Umsicht im Armendienst nicht sammeln können, noch weniger technische Uebung darin, und können sich diese auch in den 2 schnell vorübergehenden Jahren ihres Diakonen-Dienstes nicht verschaffen. – Wir wollen gar nicht reden von der Weisheit, zweckmäßige Krankenpflege anzuordnen oder zu beurtheilen, geschweige sie selbst auszuüben, wozu ihr anderweitiges Berufsleben ihnen ohnehin weder Zeit, noch Raum läßt.

Die Kirche muß sich also aus der freien christlichen Association in den Gemeinden die ergänzenden Kräfte holen, welche ihrem kirchlichen Amts-Diakonate jetzt fehlen, oder in zu schwachem Grade ihr zu Gebote stehen, und zwar aus solchen freien Associationen, welche 1. sich der Kirche gern unterordnen und ihr freudig dienen, welche 2. ihre dienenden Glieder und Werkzeuge so auswählen und erproben, daß man bei denselben einen lebendigen, liebesthätigen Glauben erwarten darf, und welche 3. diese dienenden Glieder für ihre Wirksamkeit in der Armen-und Krankenpflege so ausbilden und üben, daß sie mit einem Schatz praktischer Erfahrung und technischer Uebung ausgestattet sind, welche sie befähigt, mit Umsicht und Weisheit die Armen-und Kranken-Verhältnisse zu behandeln, und welche diese Wirksamkeit zu ihrem Lebensberufe zu machen begehren.

Diese Associationen sind, was die männlichen Gehülfen für den Diakonat betrifft: die Bildungs-Anstalten von Hülfs-Diakonen und die sogenannten Brüderhäuser, als in Duisburg, im rauhen Hause bei Hamburg, in Neinstedt, Schreiberhau, Züllchow, Beuggen u.s.w., und was die weiblichen Gehülfen für den Diakonat betrifft: die Diakonissen-Anstalten zu Kaiserswerth, Bethanien zu Berlin und Breslau, zu Königsberg, Stettin u.s.w.

Was die Hülfs-Diakonen und die Diakonissen betrifft, so erlaube ich mir, hier näher darzulegen, wie namentlich die Hülfs-Diakonen, welche in der Pastoralgehülfen-Anstalt zu Duisburg, und die Diakonissen, welche in der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth ihre Vorbildung erhalten, der Diakonie und dem Diakonat zur Hülfe gegeben werden können, da mir durch Gottes Gnade zu Theil geworden, beide Anstalten gründen zu helfen, ich daher mit der Befähigung dieser Personen für die verschiedenen Zweige der Diakonie genauer bekannt bin, als mit den andern ähnlichen obengenannten Anstalten.

1. Die Hülfs-Diakonen von Duisburg. Die im Jahre 1844 gegründete männliche Bildungs-Anstalt zu Duisburg erhielt den Namen: Patoralgehülfen-Anstalt, weil sie dem geistlichen Amte Gehülfen erziehen will, und zwar sowohl geistliche Gehülfen, indem sie Kandidaten der Theologie praktisch fürs Seelsorger-Amt vorbereiten will, als auch Laien-Gehülfen. Diese Laien-Gehülfen haben wir „Hülfs-Diakonen“ genannt, um damit ihre Stellung zur Kirche und zu dem in unserm Rheinland-Westphalen seit der Reformation bestehenden Laien-Diakonat anzudeuten, daß sie als handreichende und dienende Glieder sich der Kirche unterordnen und dem amtlichen Diakonate sich zur Hülfe stellen sollen.

Damit die Anstalt sich nicht neben die Kirche zu stellen unterfange, wie dies einzelne Brüderhäuser begehren, wenigstens begehrt haben, so haben wir statuarisch die jedesmaligen Präsides der Rheinischen und der Westphälischen Provinzial-Synode und den jedesmaligen Superintendenten der Kreissynode Duisburg zu ordentlichen Mitgliedern der Direction, und alle zeitlichen Superintendenten der Rheinprovinz und Westphalens zu Ehrendirectoren ernannt.

Die Anstalt bildet, wie die Jahresberichte näher nachweisen, Hülfs-Diakonen für die Armen-und Krankenpflege, für die Erziehung und den Unterricht armer und verwahrloster Knaben, für die Besserung entlassener Sträflinge und verkommener Erwachsener aus u. dgl. Vierzig derselben wirken theils als Hülfs-Diakonen in einigen Gemeinden der Rheinprovinz, in Berlin und zu Neustadt-Eberswalde, wo sie freilich nicht immer amtlich von den Kirchenvorständen, sondern nur bisweilen von den Pfarrern, oder von Vereinen, oder von Privatpersonen, unter Mitwirkung der Pfarrer, berufen worden, theils als Hausväter an Armen- und Waisenhäusern, Männer-Lazarethen und Männer-Asylen, theils als Privatkrankenpfleger, theils als Armenschullehrer, theils als Colporteure. Sie sind in den Gemeinden und Anstalten auf Kündigung angestellt.

Die Hülfs-Diakonen werden in großen Gemeinden, besonders in Stadt-und Fabrik-Gemeinden, dem Diakonen-Amte eine sehr wichtige, vielfach unentbehrliche Handreichung darbieten, werden seine Organe sein, die häuslichen und sittlichen Zustände der Armen und Kranken zu erforschen, Abhülfe dagegen vorzuschlagen und zu vermitteln, namentlich die leichtsinnigen Fabrik-Arbeiter, Lehrlinge und Handwerksbursche, Trunkenbolde, entlassene Sträflinge u.dgl. zu überwachen, Beiträge in der Gemeinde für Armen- und Krankenzwecke sammeln zu helfen u.s.w.

Die Kirchenvorstände müssen sich mit dem Vorstande solcher Hülfsdiakonen-Anstalten e.c. in Verbindung setzen und sich von ihnen die für ihre besonderen Gemeinde-Verhältnisse qualificirten Hülfs-Diakonen senden lassen.

Die Generalsynode von 1846 hat bereits auf Hülf-Diakonen in §. 14 ihrer Grundzüge einer Kirchenverfassung Rücksicht genommen: „für die unmittelbaren Dienstleistungen auf dem Gebiet der Diakonie kann das Presbyterium Helfer (Hülfs-Diakonen) annehmen. Diese sind nicht Mitglieder des Presbyteriums; aber, wenn sie bleibend, wenn auch widerruflich bestellt werden, so erhalten sie einen amtlichen Charakter, und werden dann auch feierlich eingeführt. Gehülfen des Pfarrers für die Zwecke der Diakonie, die seinen amtlichen Charakter haben, werden vom Pfarrer angenommen und entlassen.“

Es ist sehr zu wünschen, daß die amtliche Einführung der Diakonen und der Hülfs-Diakonen durch Einsegnung mit Handauflegung nach der Weise der apostolischen Kirche geschehe, wie wir bisher auch die Hülfs-Diakonen und Diakonissen zu ihrem Amte mit Handauflegung eingesegnet haben. Die Kirche wird den größeren Gemeinden, welche Hülfs-Diakonen bedürfen, nicht, wenigstens vorläufig noch nicht, gebieten können, welche solche anzustellen, sondern ihnen nur die Erlaubniß und den Rath geben dürfen, sie anzustellen, bis ihre Wirksamkeit sich durch längere Erfahrung deutlicher als eine heilsame und unentbehrliche für große Gemeinden herausgestellt hat.

Die Gemeinden werden ferner wohlthun, die Hülfs-Diakonen zuerst nur versuchsweise anzustellen und ihnen nicht gleich Hoffnung auf eine feste, lebenslängliche Stellung zu machen, wo sie einen selbständigen Haushalt gründen und heirathen können, wenn nicht gerade eine Hausvaterstelle in einem Armen-, Waisen-, oder Rettungshause dies wünschenswerth machte. Man ist dann im Stande, wenn der Hülfs-Diakon sich in diesen besonderen Verhältnissen nicht passend zeigt oder solche Mißgriffe macht, wodurch er das Vertrauen der Gemeinde verliert,-wobei ihm Rechtschaffenheit und Glaube darum doch nicht abzusprechen sein mag,-ihn durch einen andern Hülfs-Diakon zu ersetzen und nach seinem Mutterhause zurückzusenden. Auch, wenn er invalide geworden, oder durch Kränklichkeit zu einem anstrengenden Berufe nicht mehr brauchbar ist, muß man ihn ins Mutterhaus zurücksenden können, um eine frische Kraft sich von dort zu verschaffen.

Wenn die Synoden zur Erhaltung eines solchen Mutterhauses, welches eine Versorgungs-Anstalt für kränkliche und invalide Hülfs-Diakonen in sich schließen muß, selbst einen jährlichen Zuschuß geben, so ist das ein geringes Opfer, weil die Gemeinden dann keine Pension zu geben haben, und die Arbeiter mit großer Freudigkeit wirken, wenn sie wissen, daß ihnen für die Zeit der Kränklichkeit und des Alters ein ehrenvolles Asyl offen steht.

Gar manche Gemeinden zaudern, einen solchen neuen Gemeinde-Arbeiter anzustellen, aus Angst, sie würden dann die Last der lebenslänglichen Versorgung für ihn erhalten, so daß die Armen guter Pflege beraubt bleiben. Diese Angst fällt dann weg. Selbst, wenn einem Hülfs-Diakon erlaubt wird, sich als Hausvater eines Armen-oder Waisenhauses zu verheirathen, wird man doch die Vorsicht anwenden müssen, ihn vorläufig nur auf Kündigung anzustellen, damit man das Recht habe, wenn die Frau sich nicht geeignet für die Anstalt erweisen sollte und ein hemmendes Element würde, und der Mann dadurch auch an seiner Brauchbarkeit sehr verlöre, -was die Erfahrung bisweilen gelehrt, -ihnen zu kündigen, und nicht die Pflicht habe, die ganze Familie zeitlebens zu versorgen. Die Gemeinde wird ihm dann doch auch auf andere Weise ein Unterkommen zu verschaffen helfen, wenn er gerne arbeitet und betet, und der Herr wird dann auch ihn nicht verlassen, noch seinen Samen lassen nach Brod gehen.

Das war vor Alters her ein Krebsübel bei der Verwaltung von Armenhäusern u. dgl., daß das Mitleid für den Hausvater und seine Familie, und noch mehr die Rücksicht auf die Kosten ihrer Versorgung, wenn man einen andern Hausvater anstellen würde, nicht selten bewog, eine ganz unpassend erkannte Hausvater-Familie doch der Anstalt noch Jahrzehntelang vorstehen zu lassen, zum bittersten Leibes- und Seelenschaden für all` die Armen-Pfleglinge. So war die Anstalt um des Hausvaters willen da, nicht der Hausvater um der Anstalt willen.

2. Die Diakonissen von Kaiserswerth.

Die Vorbildung der Diakonissen in der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth zu Pflegeschwestern, wie zu Lehrschwestern, ist in der oben erwähnten „Nachricht über das Diakonissen-Werk“ r.c., und in dem neuesten (XIX.) Jahresbericht näher dargestellt. Auch diese Anstalt ist, wie die zu Duisburg, mit der Kirche in genaue Verbindung und Unterordnung gesetzt, so daß nach den Statuten, die jedesmaligen Präsides der Rheinischen und Westphälischen Provinzial-Synode ordentliche Mitglieder der Direction, und alle zeitlichen Superintendenten beider Provinzen Ehrendirectoren sind, auch die Statuten nicht verändert werden dürfen, ohne vorher die Gutachten der Moderamina beider Synoden eingeholt zu haben.

Als Pflege-Diakonissen wirken die Schwestern theils in Armen-, Kranken- und Waisenhäusern, Blinden-Anstalten, Mägde-Herbergen, weiblichen Asylen und Magdalenen-Stiftern, theils in der Privat-Krankenpflege, theils in der Gemeindepflege, und zwar in Gemeinden der Rheinprovinz, Westphalens, Brandenburgs, Schlesiens, und im Nassauischen; als Lehr-Diakonissen arbeiten sie theils in Kleinkinderschulen, theils in Elementarschulen, in Lehr- und Erziehungs-Anstalten und Mägdeschulen.

Die Diakonissen und die Hülfs-Diakonen werden, jeder in seinem Theil, ihre besonderen Gaben und Vorzüge für die Diakonie entwickeln. Die Hülfs-Diakonen werden bei Verwaltung von Waisen-, Armen- und Rettungshäusern, wo die Kinder beider Geschlechter zusammen erzogen werden, den Diakonissen vorzuziehen, und als Colporteure, Stadt-Missionare, Agenten von Bibel-Gesellschaften, Enthaltsamkeits-Vereinen u. dgl. durch Diakonissen gar nicht zu ersetzen sein. Dagegen werden die Diakonissen für die Krankenpflege überhaupt, und für die innere Gemeindepflege in den Häusern und Familien vorzuziehen sein. In den mäßig großen Gemeinden von 500-2000 Seelen und darüber, wo im Kirchenvorstand das Diakonats-Amt vertreten ist, wird daher in der Regel nur eine Diakonissin, und kein Hülfs-Diakon, zur Handreichung in der Diakonie nöthig sein. Denn theils eignen sich die Diakonissen mehr zur Krankenpflege in den Familien wie in den Hospitälern; theils thut sich ihnen in den Familien ein viel größeres Arbeitsfeld auf, bei den Müttern, wie bei den Kindern, durch Regelung und Hülfeleistung in armen und verkommenen Haushaltungen, durch Unterrichten kleiner und großer Mädchen und armer Frauen in Näh-, Strick- und Flickschulen, durch Kochen, Nähen und Flicken für Arme und Kranke, durch geistiges Pflegen der meist vereinsamt stehenden Mägde, durch Heranziehen der Töchter von gebildeten und wohlhabenden Familien, sie im Besuchen der Armen und Kranken, im Halten der Schulen, im Sammeln von Liebesgaben u. dgl. zu unterstützen, durch leichteres Verkehren mit den Frauen-Vereinen u.s.w. hierzu kommt, daß ihre Unterhaltung wohlfeiler ist, als die der Hülfs-Diakonen, theils weil sie als Frauenzimmer überhaupt weniger bedürfen, theils weil sie durch Halten von Näh- und Strickschulen der Gemeinde Kosten ersparen, theils weil sie, sobald sie etwa heirathen, aus ihrem Amt in der Regel ausscheiden und durch eine neue Diakonissin aus dem Mutterhause ersetzt werden, welches auch die invaliden oder kränklich werdenden Gemeinde-Diakonissen aufnimmt, so daß die Gemeinde stets nur einzelne Personen, keine ganze Familie zu ernähren hat. Daher haben auch die Presbyterien, Pfarrer und christliche Vereine in der Rheinprovinz und Westphalen bisher viel mehr Diakonissen für ihre Gemeinden begehrt und erhalten, als Hülfs-Diakonen, was mit darin seinen Grund hat, daß in jeder rheinisch-westphälischen Gemeinde männliche Amts-Diakonen sind, aber kein weibliches Amt bisher in der Gemeinde zur Hülfe in der Diakonie bestellt war.

In Betreff der Einführung der Diakonissen in den kirchlichen Organismus ist es natürlich am passendsten, eben so wie in Betreff der Hülfs-Diakonen, daß die Kirche den Gemeinden vorläufig nur die Erlaubniß und den Rath giebt, Diakonissen als Gehülfinnen für ihre Diakonie zu rufen und amtlich zu bestellen, und zwar aus solchen Anstalten, an deren Leitung die Kirche betheiligt ist, wo sie daher eine Garantie für den christlichen und kirchlichen Charakter der Diakonissen hat. Eine amtliche Einführung der Diakonissen in der Kirche vor der Gemeinde ist dringendst zu wünschen, wie auch schon mehrere Pfarrer die Gemeinde-Diakonissen, die wir ihnen gesandt, in dieser Weise ihren Gemeinden vorgestellt haben.

IV. Frage

Ist der Diakonat nicht bloß ein Theil der gemeindlichen Institutionen, sondern eine eigene Ordnung in der Kirche, welche zwischen der höheren Ordnung der Diener am Wort und der in den Hausvätern dargestellten Gemeinde mitten inne steht?

Diese Auffassung des Diakonats beruft sich auf die Thatsache, daß wir von zwei der sieben zuerst erwählten Armenpflegern (Apgesch. 6), von Stephanus und Philippus, lesen, daß sie zugleich gepredigt haben (Apostelgesch. 8, 5. 40). Was nun zuerst Stephanum betrifft, so wird man nicht die gewöhnlichen Diakonen mit ihm auf Eine Linie stellen dürfen, da er „voll Glaubens und Kräfte Wunder und große Zeichen that unter dem Volk“ (Apgesch. 6, 8), also mit außergewöhnlichen, apostolischen Kräften zur Ausbreitung des Evangeliums vom Herrn ausgerüstet war. Von Philippus aber heißt es ausdrücklich, daß er nicht bloß Diakon, sondern zugleich Evangelist gewesen sei (Apgesch. 21, 8). Dies Amt eines Evangelisten wird neben dem Amt der Apostel, der Propheten u.s.w. als ein besonderes Amt in der apostolischen Kirche genannt (Eph. 4, 11). Es war aber, nach der Geschichte, kein in der Kirche fortdauerndes Amt, wie das der Bischöfe und Diakonen, sondern hörte mit der apostolischen Zeit auf, wie das der Apostel und Propheten. Auch ist hierbei der Umstand nicht unwichtig, daß, wie schon oben bemerkt, der Apostel Paulus, wenn er die erforderlichen Eigenschaften eines Diakons aufzählt, durchaus nicht Lehrhaftigkeit, wie beim Bischof, verlangt(1. Tim. 3). Die Kirchengeschichte weiß auch nichts von einem fortdauernden besonderen Amte solcher Diakonen, welche einestheils Armenpfleger und Verwalter der Anstalten für die Pflege in der Gemeinde gewesen seien, anderntheils zugleich Prediger, wie die andern Diener am Wort. Die Zeit und Kraft eines einzelnen Menschen erlaubt es auch nicht, beide Aemter zu vereinigen. Wenn die Apostel in ihrer heiligen, von Gott eingegebenen Weisheit gerade darum beide Aemter von einander getrennt haben, wenn Luther aus der tausendjährigen Erfahrung der Geschichte heraus die Nothwendigkeit bestätigt, daß die Priester von der Last der zeitlichen Güter entledigt werden müßten, um mit dem Gebet und dem Worte Gottes geflissener und freier anzuhalten, wie es oben bemerkt worden, wie sollte wir weiser sein wollen, als die Apostel, und wieder zusammenfügen dürfen, was Gott geschieden hat?

Eine andere und sehr heilsame Sache aber ist es, daß die Candidaten des Pfarr-Amtes, ehe sie ins Seelsorger-Amt eintreten, vorher noch praktisch in die leibliche Armenpflege und in die zweckmäßige geistliche Behandlung der Kranken und Armen eingeführt werden, indem erfahrene Praktiker sie in die Hütten der Armen und an die Betten der Kranken führen, wie dies in unserer Pastoralgehülfen-Anstalt zu Duisburg von Anfang an geschehen ist und im Dom-Candidatenstift zu Berlin gleichfalls geschieht.

Für diesen Zweck müßte jede preußische Provinz ein praktisches Prediger-Seminar haben, aber nicht nach der gelehrten, unpraktischen Einrichtung des Wittenbergischen. Wenn in diesen Seminaren die Pastoral-Theologie und die Diakonie in obigem Sinne gründlich praktisch getrieben würde, unter Leitung frommer und praktisch erfahrener, durchgebildeter Männer, so würden unsre jungen Geistlichen, wenn sie ins Pfarr-Amt kommen, nicht so oft unbeholfen und steif dastehen, in Verlegenheit, wie sie praktisch in der Gemeinde bei der Armen- und Krankenpflege mitwirken sollen, würden sich nicht den Behörden gegenüber selbst bisweilen lächerlich machen und durch ihr unbeholfenes unpraktisches Wesen.

Hierin stehen sie jetzt nicht selten den jungen katholischen Geistlichen nach, welche in ihren geistlichen Seminaren viel praktischer, wenn auch mehr weltklug, fürs Leben vorbereitet werden. (Im II. Bande meiner Kollektenreise nach Holland e.c. habe ich bereits im Jahre 1831 ausführlich die Wichtigkeit dieser praktischen Seminarbildung für unsre jungen Geistlichen, und die passendste Art, dieselbe einzurichten, darzustellen gesucht.)

Diejenigen Candidaten, welche in einem solchen praktischen Seminar- oder Convikt-Cursus am meisten praktische Gabe, und am meisten Liebe und Eifer zeigen, sich der Armen, Kranken, Verirrten e.c. anzunehmen, werden dann am besten zu Reisepredigern, Stadtmissionaren, Seelsorgern an Hospitälern, Gefängnissen, Waisen-, Armen- und Rettungshäusern, Magdalenenstiftern, an Gustav-Adolphs-Gemeinden, zu Missionspredigern im Auslande u. dgl. erwählt werden.

Solcher Reise- und Missionsprediger für die innere und äußere Mission bedarf man heutzutage in immer steigender Zahl, wo die suchende Hirtenliebe, von dem König und den höchsten Kirchenbehörden bis zum gläubigen Bäuerlein unter dem Strohdach, sich der Zehntausende verlassener, verkommener und verirrter Seelen in der Heimath, wie im Auslande, so eifrig annimmt. Mache man eine besondere Klasse von Geistlichen aus ihnen, wenn man will! Nenne man sie Evangelisten! Auf daß in vollem Maaße wieder erfüllt werde: „Der Herr giebt das Wort mit großen Schaaren Evangelisten“ , und man allerwärts höre: „Den Armen wird das Evangelium gepredigt!“

Quelle: Aktenstücke aus der Verwaltung des. Evangelischen. Oberkirchenraths; Berlin 1856; 3. Bd., S.108

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Der Text ist abgedruckt in: Aktenstücke a.d. Verwaltung d. Evang. Oberkirchenraths, Berlin 1856; 3. Bd., S. 108-126.
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