Blumhardt, Christoph - Gottes Ratschluss über die Welt

Blumhardt, Christoph - Gottes Ratschluss über die Welt

Vorwort

Unter allgemeiner Weltgeschichte versteht man gewöhnlich die Geschichte der Menschheit als einer großen Familie von ihrem Ursprung an durch alle Entwicklungsstufen hindurch bis auf die neueste Zeit. Die Geschichte der einzelnen Völker kommt dabei nur insofern in Betracht, als sie zu dieser Entwicklung des Ganzen wesentlich beigetragen oder an derselben einen bedeutenden Anteil genommen haben. So kann ein einzelner Mann für die Geschichte der Menschheit viel größere Wichtigkeit haben als ein ganzes barbarisches Volk, und in jeder allgemeinen Geschichte findet zum Beispiel Johann Gutenberg eher eine Stelle als die Taladschandgas in Asien.

Gleich wie man aber einem Wanderer nicht sagen kann, ob er auf dem rechten Wege ist, wenn man nicht weiß, wo er hin will, so kann man auch den verwickelten Gang der Völkergeschichte nicht verstehen, wenn man ihr Ziel nicht kennt. Dieses Ziel darf nicht bemessen werden nach dem, was einzelne Völker sich vorgesetzt und erstrebt haben, denn der Einzelne liefert nur einen Beitrag zum Ganzen, der vielleicht nur von untergeordneter Bedeutung ist. Zu einem großen Gebäude werden die Hände verschiedener Handwerker in Bewegung gesetzt: wenn man aber den Schlosser in seiner Werkstätte für dieses Gebäude arbeiten sieht, würde man da schließen dürfen, das ganze Haus solle von Eisen gebaut werden?

Auch nach dem Zustand der Menschheit in einer gewissen Zeit darf jenes Ziel nicht bestimmt werden; denn dieser Zustand ist vielleicht ein krankhafter, oder nur ein Übergang; und die Richtungen, die in einer gewissen Zeit herrschen, sind vielleicht dem Ziele, zu dem die Menschheit dennoch gelangen muss, gerade entgegengesetzt. Eine Stadt kann doch auf einem Berge liegen, wenn gleich der Weg zu ihr manchmal durch tiefe Schluchten und an steilen Abhängen hinabführt.

Wenn die Menschheit selber gehen könnte, wohin sie will, so müsste sie Aufschluss geben können über ihr Ziel; weil sie aber geführt wird, einen Herrn und Regenten hat, der allen Völkern und allen einzelnen Menschen ihre Bahn vorzeichnet, und nach dessen unumschränktem Willen alles gehen muss, so können wir diesen Aufschluss nur von Ihm bekommen. Das Verständnis der Geschichte kann Gott allein lehren.

Ließe Gott die Menschen so dahingehen wie die Fische im Wasser, denen Er von Seinen Regierungsplänen nichts erzählt, so würden wir die Weltgeschichte erst dann verstehen können, wann sie zu Ende ist; weil uns aber Gott in Seinem Wort Seinen ganzen Ratschluss geoffenbart hat, nach dessen Bestimmungen die Geschichte der Menschheit abläuft, so können wir uns mit Hilfe dieses Wortes in jedem Abschnitt dieser Geschichte zurechtfinden und ihn mit der Vergangenheit und mit der Zukunft in den rechten Zusammenhang bringen.

Die meisten Geschichtsschreiber haben die Bibel, wenn sie ihr auch die Ehre antaten, sie für so glaubwürdig anzusehen wie ein anderes Buch, doch nur als eine Urkunden-Sammlung betrachtet, die man zur Ergänzung anderer Nachrichten gut gebrauchen könne; aber sie haben nicht bemerkt, dass in ihr der Schlüssel zu der rätselhaften Bilderschrift aller Geschichte enthalten ist, dass sie nicht bloß den stummen Buchstaben der Natur erst Hauch und Ton verleiht, sondern auch bereits das vollständige Bild enthält, zu welchem die Fäden in dem bunten Gewirre des Völkerlebens verwoben werden sollen.

Auf dem Wege der gewöhnlichen menschlichen Betrachtung sieht man die Ereignisse nur von außen, wie ein Wanderer eine Stadt, in die er nicht hinein kann. Da sind hohe und niedrige, alte und neue Dächer, mit oder ohne Wetterfahne, mit oder ohne Blitzableiter, da sind Häuser, Paläste, Türme, aber die innere Anordnung und Richtung der Straßen, die Ordnung, in welcher die Häuser um den Mittelpunkt stehen und den Mittelpunkt selbst kann man von außen nicht sehen. Der Wanderer hört vielleicht den lauten Schall von Menschenstimmen in der Stadt und meint, es werde ein Siegesfest gefeiert, und es ist ein Volksaufruhr; er hört eine Glocke läuten, aber er weiß nicht, auf welchem Turm. Er sieht einen Schlossturm als den Mittelpunkt der Stadt an, und doch ist der's nicht, sondern ein Wasserbrunnen, den er von außen nicht erblicken kann. Wer dagegen auf der hohen Warte des Wortes Gottes steht, der sieht in alle Straßen hinein, sieht ihre Richtungen und Verbindungen, ihren Anfang und ihr Ende und hat den großen Völkermarkt gerade unter sich. Der Schlüssel zum Verständnis der Weltgeschichte liegt allein im Worte Gottes.

Aber das Wort Gottes selbst ist dem Sinn des natürlichen Menschen eine verschlossene Sache. Bald ist es ihm zu hoch, dass er's nicht erschwingen kann, bald dünkt's ihm zu niedrig wie Kindersprache, er findet figürliche Rede, wo ganz eigentlich gesprochen ist, und übersetzt ins platte Deutsch, was als tiefes Geheimnis gefasst werden sollte. Was auf ferne Zukunft geweissagt ist, betrachtet er als geschehen und verwechselt den Rat Gottes mit dem Beginnen der Menschenhand. Nur der Geist Gottes kann uns zeigen, in welche Ordnung die Worte Gottes zu stellen sind, wenn man den göttlichen Regierungsplan vollständig überschauen will, und wie sie auf die Begebenheiten der Weltgeschichte angewendet werden müssen. Wer die Bibel versteht, der versteht auch die Geschichte; aber die Bibel, und somit auch die Geschichte versteht nur der, welcher sich vom Geist Gottes belehren lässt.

Die menschliche Betrachtungsweise, welche die Gegenstände nur von außen anschaut, zeigt uns in der Geschichte die Aufeinanderfolge der einzelnen Begebenheiten und Handlungen und zieht aus diesen ihre Schlüsse auf die Triebfedern und Kräfte, welche auf ihre Erscheinung gewirkt haben; aber in vielen Fällen reicht sie damit nicht aus, und die großartigen, einflussreichen Ereignisse stehen oft in gar keinem Verhältnis zu den kleinlichen Beweggründen und zu den geringen Mitteln, welche allein im Bereich ihres Blickes liegen.

Von dem unmittelbaren Eingreifen Gottes aber, der als ein Lebendiger überall tätig ist, und von den unsichtbaren Kräften, durch welche Er auf die Begebenheiten wirkt, weiß diese Betrachtungsweise nichts. Das Wort Gottes dagegen, welches die Weltgeschichte von innen heraus anschaut und beurteilt, zeigt uns überall den Finger Gottes, öffnet uns den Blick in das Gebiet unsichtbarer Wesen und Kräfte und lehrt uns, wie durch ihre Tätigkeit die Bewegungen in der sichtbaren Welt veranlasst und geleitet werden, wie an dem Schicksal und den Handlungen der Völker und einzelner Menschen gute und böse Geister ihren Anteil haben. Dadurch werden die wichtigsten Tatsachen der Geschichte erklärt, die sonst ganz abgerissen und ohne Zusammenhang mit einer vorangegangenen Einwirkung dastehen. Die Geschichte versteht man nur bei einem offenen Blick in die unsichtbare Welt.

Der wichtigste Schlüssel zum Verstehen der Weltgeschichte ist die Erkenntnis, dass Christus ihr Mittelpunkt ist, denn um diesen dreht sich der ganze Plan der göttlichen Weltregierung. In den meisten Geschichtsbüchern ist dies nur insoweit anerkannt, dass die einmal eingeführte Zeitrechnung, welche die Geschichte in zwei große Hälften vor und nach der Geburt Christi einteilt, beibehalten wird; aber selten werden die Begebenheiten in Beziehung gesetzt zu diesem größten aller Ereignisse, sei es nun, weil der Unglaube es leugnet, oder mit Stillschweigen übergeht, dass in Christo Gott selbst Mensch geworden ist, oder weil es bequemer ist, die Tatsachen der Geschichte in ihrer einfachen Aufeinanderfolge zu erzählen, als ihren Zusammenhang mit dieser großen Tat der Liebe Gottes nachzuweisen.

Wenn die Geschichte der Menschheit nicht als eine zufällige Aneinanderkettung von Vorfällen und Handlungen, sondern als ein planmäßiges Ganzes zu betrachten ist, so muss der „Augenblick, da Gott selbst persönlich in die Menschenwelt eintritt, als der wichtigste in ihrem ganzen Verlaufe angesehen werden; alles, was vorangegangen, muss Vorbereitung auf diese Tat Gottes, alles was nachgefolgt, muss Entwicklung derselben sein. Christus ist der Mittelpunkt der ganzen Geschichte, ohne den ihre Bedeutung nicht verstanden werden kann.

Der Fall des Menschen

Dass die ersten Menschen gut aus der Hand des Schöpfers hervorgingen, müsste, wenn auch die Schrift es nicht ausdrücklich bezeugte, schon deswegen angenommen werden, weil Gott nichts Böses schaffen kann. Sie standen in vertraulicher Liebe und im Gehorsam gegen Gott, und es fiel ihnen nicht ein, etwas anderes zu wollen als Er; ja, sie dachten nicht einmal an die Möglichkeit eines Abweichens von Seinem Willen. Was aus den Menschen geworden wäre, wenn sie sich in diesem Zustand erhalten hätten, wissen wir nicht; Gott aber wollte sie auf die Probe setzen, weil Er es so für besser hielt. Er verbot ihnen zu essen von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen, der mitten im Garten stand. Aber der unsichtbare Feind der Menschen, der selbst von Gott durch Ungehorsam abgefallen war und ihren glücklichen Zustand mit Neid betrachtete, verführte sie vermittelst der Schlange durch lügenhafte Vorstellungen, dass sie im Misstrauen gegen Gott und stolzer Selbsterhebung dennoch von dem verbotenen Baume aßen, und alsbald wurde auch an ihnen die Drohung Gottes erfüllt:“ Welches Tages ihr davon esset, werdet ihr des Todes sterben.“ Sie verloren das Leben Gottes, das in ihnen war, indem sie durch den Ungehorsam aus der Gemeinschaft mit Gott heraustraten und fielen also in den geistlichen Tod, von welchem der leibliche Tod eine notwendige Folge war. Nachdem ihnen Gott die weiteren Strafen angekündigt hatte, die mit ihrem jetzigen gefallenen Zustand zusammenhingen, trieb er sie aus dem Paradiese, damit sie nicht ihre Hand ausstrecken und auch von dem Baume des Lebens essen möchten, in welchem Kräfte der Unsterblichkeit enthalten waren, denn dann hätten sie in ihrem jetzigen Zustand ewig leben müssen und es hätte ihnen nicht mehr geholfen werden können.

Gott hätte den gefallenen Menschen in Seinem heiligen Zorn vernichten oder seinem Schicksal überlassen können, aber nach Seiner Barmherzigkeit dachte Er auf ein Mittel, ihm wieder zu helfen, und nach Seiner Milde sagte Er ihm diese Hilfe vorher, damit er nicht in Verzweiflung untergehe. Mit der Strafe kündigte Er ihm auch die Erlösung an: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe, zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten und du wirst ihn in die Ferse stechen“, spricht Er zum Verführer. Damit ist schon auf den großen Erlöser hingedeutet, durch welchen die Macht dieses Feindes gebrochen werden sollte, und auf den fortwährenden Kampf, der zwischen den Kindern Gottes und den Kindern des Teufels bis auf diese Stunde besteht. Jede Versuchung, jedes Leiden, jede Verfolgung, welche über die Kinder Gottes kommt, ist ein Fersenstich der alten Schlange; jeder Sieg des Glaubens aber, jede Überwindung der Sünde, welche den Kindern Gottes gelingt, ist ein Tritt auf ihren Kopf. Dass unsere ersten Eltern diese Verheißung als solche wohl verstanden haben, die Zeit ausgenommen, über welche Gott nichts bestimmte, und dass ihnen noch weiteres gesagt wurde, als uns die Bibel erzählt, beweist der Ausspruch der Eva, als sie ihren ersten Sohn gebar, den sie Kain (Gewinn, Erwerb) nannte: „Denn“, sprach sie „ich habe erworben den Mann, den Jehovah.“ Gott muss ihnen also gesagt haben, dass der verheißene Retter der Jehovah selbst sein werde. Aber darin hatte sie sich freilich verrechnet, denn Kain wurde ein Brudermörder, und die ersten Menschen mussten es gleich bitter erfahren, welch einen tiefen Abgrund der Sünde sie durch ihren ersten Ungehorsam eröffnet hatten. Überhaupt waren die Nachkommen Adams seinem Bilde ähnlich, das heißt sie waren geistlich tot wie er, und da die Sünde in dem geistlichen Tode herrscht (Röm 5, 21) so waren sie also auch der Macht der Sünde unterworfen.

Indessen zeigte sich doch gleich von vornherein ein Unterschied unter den Menschen, und eine doppelte Geschlechtslinie, geteilt nach Abstammung und Gesinnung, lief jahrhundertelang nebeneinander her, als vorläufige Erfüllung der obigen Verheißung Gottes. Das Geschlecht Seths, des Stellvertreters für den erschlagenen Abel, bezeichnet die Bibel mit der Benennung: „Kinder Gottes“, weil bei diesem die Erkenntnis und Verehrung Gottes aufrecht erhalten wurde; die Nachkommen Kains aber heißen „Kinder der Menschen“, weil an ihnen die ganze Gestalt der verdorbenen Menschennatur ohne Rückhalt offenbar wurde. Schon Kain baute die erste Stadt, um gegen die Blutrache wegen seines Mordes an Abel sich zu schützen, vielleicht, um seine Familie an einem festen Punkte zu vereinigen, in einem ähnlichen Sinne, wie späterhin der Turmbau zu Babel unternommen wurde. Die Heilige Schrift erzählt uns nur die einfache Tatsache, ohne den Grund und Zweck anzugeben. Sie tut oft so. Wäre nicht durch die falschen Begriffe und durch die verwickelte Mannigfaltigkeit unseres abendländischen Lebens der Blick der Einfalt getrübt und unser Urteil verwirrt, so würden wir die Winke im Wort Gottes, die oft mit einem Wort eine ganze Reihe von Ursachen und Wirkungen andeuten, besser verstehen. Eine vertraute Bekanntschaft mit diesem Wort und ein rechtes Hineinleben in seine Vorstellungsweise kann uns dazu behilflich sein, ebenso eine genaue Kenntnis des eigenen Herzens.

Wie bald die Erkenntnis Gottes unter den Kainiten erloschen war, zeigt der Umstand, dass schon zur Zeit des Enos, eines Enkels von Adam, für nötig gehalten wurde, von dem Namen des Jehovah zu predigen (1. Mose 4, 26). Ein bedenkliches Merkzeichen für unsere Zeit, in welcher Erfindungen aller Art und der Luxus in höchster Verfeinerung im Schwange gehen, ist das, dass Jubal und Thubalkain, die Erfinder der musikalischen Instrumente und der Erzarbeiten, Söhne des Lamech gewesen sind, der die Vielweiberei einführte und ein Totschläger war. Auch schreibt sich ohne Zweifel von der Naema, der Schwester des Thubalkain, die Verführung her, durch welche die Nachkommen Seths zur Vermischung mit den Nachkommen Kains, und damit auch zur Gemeinschaft ihres gottlosen Lebens gereizt wurden. Aus dieser Verbindung entstanden gewaltige, tyrannische Leute, welche die Schwächeren zu unterdrücken suchten; und weil es damals noch keine Gesetze, keine bürgerlichen Anstalten, keine Bibel gab und jeder unbeschränkte Freiheit hatte, seinen Willen geltend zu machen, soweit er die Macht dazu besaß, so wurde die Zügellosigkeit der sündigen Menschen immer größer und allgemeiner. Die Kraft der menschlichen Natur war in dieser Jugendzeit unseres Geschlechtes noch frisch und ungeschwächt; bei dem hohen Alter, das die Menschen damals noch erreichten, hatten die Gewaltigen Zeit, ihre großen Pläne auszuführen und ihre Macht zu befestigen. Die einzige Schranke des Bösen, die Zucht des Geistes Gottes in den Herzen der Kinder Gottes, war nun auch gefallen, seitdem sich diese mit den Kindern der Menschen vermischt hatten. Die wenigen, welche noch auf die Stimme Gottes merkten und über das hereinbrechende Verderben trauerten, galten nichts mehr bei diesen gottvergessenen Menschen, sondern waren ihnen zum Spott und „alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden“.

Die große Flut

Hätte Gott dem gräulichen Unwesen noch länger zugesehen, so wäre die Menschheit endlich in so tiefes Verderben versunken, dass ihr nicht mehr hätte geholfen werden können. Und doch hatte Gott einen Rettungsplan für sie entworfen, den Er auch ausführen wollte. Es blieb also nichts anderes übrig, als die Menschen von der Erde zu vertilgen und gleichsam wieder von vorn anzufangen. Der Acker der Menschheit war so verwildert und mit Unkraut überwachsen, dass er ganz umgebrochen und mit neuem Samen angesät werden musste. Zwar gab Gott den Menschen noch eine Frist und ließ ihnen durch Noah Buße predigen, aber sie achteten das nicht, sie aßen und tranken, sie freiten und ließen sich freien und dachten, weil der Lauf der Natur während ihres langen Lebens noch nie eine gewaltsame Störung erfahren habe, so werde er auch künftighin keine solche erleiden. Indessen baute Noah auf den Befehl Gottes einen großen Kasten, in welchem eine Unzahl von Menschen und Tieren als Samenkörner einer neuen Erdbevölkerung erhalten werden sollte, während der gewaltigen Wasserflut, die Gott über die ganze Erde kommen ließ. Die Seelen der Menschen aber, welche damals dem Worte Gottes nicht glaubten, traf Christus später in den Gefängnissen der Unterwelt, in welchen sie ihren Unglauben büßen mussten. Denn „ohne Glauben ist's unmöglich, Gott zu gefallen, und wer zu Gott kommen will, muss glauben, dass Er sei, und dass Er denen, die Ihn suchen, ein Vergelter sein werde“.

Noahs Söhne

Als das Gewässer nach dem Befehl Gottes sich verlief, stand der Kasten auf der Spitze des Berges Ararat in Armenien still, und Noah ging samt den übrigen Bewohnern desselben heraus und ließ sich in Armenien nieder, von wo aus das neue Geschlecht der Menschen sich über die Erde ausbreiten sollte. Zum Zeichen, dass Gott die Erde nicht mehr durch Wasser verderben wolle, setzte er den Regenbogen in die Wolken, der also vorher, bei einer anderen Beschaffenheit des Luftkreises, nicht gesehen worden war. Neue Einrichtungen wurden gemacht und vorbereitet, durch welche Gott die Erneuerung einer so riesenhaften Verderbnis, wie sie vor der Flut geherrscht, verhüten wollte. Das Lebensalter der Menschen sollte nicht mehr so lange dauern, wozu vielleicht auch die Erlaubnis des Fleischessens mitwirkte; die Gelegenheit, so ein großes Maß von Sünden aufzuhäufen, wurde den Menschen dadurch geschmälert, ihre Naturkraft war beschränkter, und auch äußerliche Schranken der zügellosen Willkür, Gesetze und Obrigkeiten und dergleichen erhoben sich nach und nach. Die Erkenntnis und Furcht Gottes, welche von Adam an durch Überlieferung auf Kind und Kindeskind gekommen war und von Noah treulich gepflegt wurde, sollte durch ihn dem neuen Menschengeschlechte mitgeteilt und bei demselben aufbewahrt werden. Aber was Gott von dem Weibessamen und Schlangensamen verheißen, der fortwährende Unterschied zwischen Kindern Gottes und Kindern der Menschen, stellte sich schon bei Noahs Söhnen heraus, und in prophetischem Geiste verkündet ihnen Noah das verschiedene Schicksal ihrer Nachkommen, eine Weissagung, welche durch die Geschichte bis jetzt bestätigt worden ist und auch künftighin noch ferner bestätigt werden wird. Also lautet diese Weissagung Noahs über seine Söhne und ihre Nachkommen: „Verflucht sei Kanaan (Hams Sohn) und sei ein Knecht aller Knechte unter seinen Brüdern! Gelobet sei Gott, der Herr des Sem, und Kanaan sei sein Knecht! Gott breite Japhet aus und lasse ihn wohnen in den Hütten Sems, und Kanaan sei sein Knecht!“

Sem ist der Stammvater des Volkes Israel, das zu dem lebendigen Gott in besonders nahem Verhältnis stand; darum heißt auch Gott hier in besonderem Sinne der Herr des Sem. Das Volk Israel aber ist als das besonders auserwählte Volk, das Er nur eine Zeitlang verstoßen, aber nicht verworfen hat, der eigentliche Herr der Welt und wird auch zu seiner Zeit dazu eingesetzt werden. Ihm gehört die ganze Erde von rechtswegen, das heißt nach der Verheißung Gottes; die andern Völker wohnen eigentlich nur in der Miete bei ihm. Das Volk Gottes, Israel, ist heutzutage wie ein herabgekommener Edelmann, der wegen vieler Schulden seine Güter und Paläste nicht mehr behaupten kann und als ein Bettler durchs Land zieht. — Fremde haben sich auf seinen Gütern festgesetzt und seine Häuser bezogen. Endlich aber gelingt es einem seiner Nachkommen, der wieder zu Glück und Wohlstand gelangt, seine Schulden zu bezahlen und aus alten Urkunden zu beweisen, dass die Güter sein sind, und seine Rechtsansprüche darauf darzutun. Dann müssen die fremden Bewohner weichen, und der ursprüngliche Eigentümer nimmt sein altes Besitztum wieder ein.

Wo die einzelnen Söhne dieser Stammväter des neuen Geschlechtes sich niedergelassen, darüber gibt die Heilige Schrift nur durch ihre Namen hie und da eine Andeutung, erzählt es aber nicht ausführlich, weil sie überhaupt nur große, einflussreiche und entscheidende Begebenheiten berichtet, oder solche, welche ein lebhaftes Bild von einem ganzen Zeitalter, von einem ganzen Volke geben.

Über ganze Jahrhunderte, die zur ersten Entwicklung des Menschengeschlechts, zu seiner Jugendbildung erforderlich waren, geht die Bibel geradeso hinweg wie über die Jugendjahre Jesu, von welchen eben auch nur das Merkwürdige berichtet wird.

Der Turmbau zu Babel

Als ein solches merkwürdiges Ereignis in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit erhebt sich aus einem dreihundertjährigen Stillschweigen, das außerdem nur durch eine Reihe von Namen unterbrochen ist, auf einmal die Geschichte des Turmbaues zu Babel.

Je mehr die Menschheit den wahren Gott verlässt, desto mehr trachtet sie darnach, sich selbst an seine Stelle zu setzen, und sucht zu diesem Ende durch Vereinigung die nötige Macht und Festigkeit zu erlangen. Das war damals, da alle Menschen nur eine Sprache redeten und die Verständigung so leicht ging, um so eher zu erreichen; sie schlossen einen Bund gegen Gott, indem sie sich selbst einen Mittelpunkt auf Erden setzten und Anstalten trafen, ihre Macht durch Einheit zu sichern, damit sie in einer achtunggebietenden Größe dastehe.

Es wird eine Zeit auf Erden kommen, da alle Völker einerlei Sprache und einen Vereinigungspunkt zur jährlichen Zusammenkunft haben werden; aber diese Vereinigung wird in Jerusalem geschehen und zu Ehren des lebendigen Gottes. Die Gemeinschaft der Sprache wird dazu dienen, die Erkenntnis Gottes auf der Erde allgemein zu machen. Jeder Versuch dagegen, eine solche Vereinigung aller Völker und aller Kräfte zu menschlichen Zwecken und namentlich zur Befriedigung der Selbstsucht, des Stolzes und der gottlosen Selbstgenügsamkeit zustande zu bringen, ist ungöttlich und geht aus bewusstem oder unbewusstem Widerstand, gegen Gottes Ordnung hervor. In einer Zeit, wo die Sünde unter den Menschen vorherrscht und all ihr Tun und Treiben durchdringt, kann eine solche Vereinigung aller nur dazu dienen, sündige Gedanken, Pläne und Werke schnell zu verbreiten und ihnen dadurch größere Gewalt zu geben. Die Scheidewand der verschiedenen Sprachen zwischen den einzelnen Völkern ist deshalb für jetzt noch eine große Wohltat; und das Streben unserer neuesten Zeit, durch alle möglichen Mittel, Dampfwagen, Dampfschiffe, Eisenbahnen und dergleichen, diese Scheidewand niederzureißen und alle Völker zu einer großen gemeinsamen Tätigkeit zu vereinigen, hat etwas ähnliches mit dem Turmbau zu Babel, obgleich die wenigsten, welche dabei tätig sind, wissen, was sie tun. Alle diese Erfindungen unserer Zeit müssen zwar auch dem Reiche Gottes und seiner Verbreitung dienen, aber wenn in unsern Tagen anerkanntermaßen das Böse überwiegt, des bösen Stoffes mehr ist als des guten, so lässt sich leicht berechnen, ob durch den schnelleren Verkehr mehr Gutes oder mehr Böses umgesetzt werde und ob er somit nützlich oder schädlich sei.

Was wäre aus Babel geworden, wenn es der Vereinigungspunkt der Menschheit hätte bleiben dürfen! Alles Böse von allen Enden wäre dahingeströmt und von da wieder verstärkt und verzehnfacht zu allen Völkern ausgegangen. Darum fuhr Gott herab vom Himmel und verwirrte ihre Sprache, dass sie einander nicht mehr verstanden, nicht mehr fortbauen konnten und sich in alle Länder zerstreuen mussten. Das war Barmherzigkeit Gottes, denn sonst wäre das Verderben der Sünde bald wieder so mächtig geworden wie vor der Sündflut. Ihr Schicksal wurde nun getrennt. Jedes Volk konnte seinen eigenen Versuch machen, auf seine Weise das eingebildete Glück zu erringen; und wenn es auch allen misslingen musste, weil sie ohne Gott und Seinen Segen handelten, so war nun doch die Macht der Verderbnis nicht so groß und allgemein, die gemeinschaftliche Ansteckung nicht so reißend, der Sturz der einzelnen Völker nicht so schnell. Und wenn auch eines fiel, konnte das andere stehen bleiben und vielleicht aus diesem Fall eine Lehre ziehen. Selbst der Sturz eines Volkes war noch nicht seine gänzliche Vernichtung; die Demütigung unter die Macht eines anderen Volkes konnte ihm heilsam sein und eine Wiederherstellung blieb noch möglich. Wäre die Menschheit ein Volk geblieben, so würde ihr Verderben schneller, allgemein und unvermeidlich gewesen sein. Dennoch haben die Menschen die Wohltat der Völkertrennung nie recht erkannt, und von Zeit zu Zeit hat sich der Versuch wiederholt, aus den vielen eins zu machen, die Völker unter einem Haupte zu vereinigen und einen Herrscherwillen allenthalben geltend zu machen: so in den Zeiten des babylonischen und persischen Weltreiches, so zur Zeit Alexanders von Mazedonien. Auch die römische Weltherrschaft, die Herrschaft des Papsttums und in der neuesten Zeit Napoleon haben diesen Gedanken ausführen wollen; aber es ist keiner dieser Versuche vollständig gelungen, weil Gott der Regent der Welt ist und es Seinem Plane zuwider gewesen wäre. Einem über, der noch kommen soll, wird es gelingen. Und wenn's mit ihm aufs Höchste gekommen ist, so wird Gott ihn zerbrechen und wird Sein Universalreich auf der Erde errichten, da der Herr nur Einer sein wird und Sein Name nur Einer.

Abraham und sein Geschlecht

Von den Leuten vor der Sündflut wird 1 Petr 3, 20 als Ursache ihrer schweren Strafe weiter nichts angegeben, als dass sie nicht glaubten, dass sie im Sichtbaren so versunken waren, um das Unsichtbare für nichts zu achten. Dieser Unglaube, wenn er auch nicht, wie doch gewöhnlich der Fall, mit besonderen Sünden verbunden wäre, ist schon genug, um den Menschen unglücklich und für die Verdammnis reif zu machen. Ebenso ist aber auch auf der andern Seite der Glaube an Gott hinreichend, um einen Menschen selig zu machen, wenn er auch nicht, wie er doch nicht anders kann, besondere Früchte des Gehorsams trüge. Darum heißt es von Abraham, sein Glaube sei ihm als eine Gerechtigkeit angerechnet worden. — Denn der Glaube ist ein Gehorsam gegen die Wahrheit, eine Verleugnung der Selbstsucht, ja er ist ein Werk Gottes und darum eine vor Gott wohlgefällige und gültige Beschaffenheit des inneren Menschen. Die Erkenntnis und Verehrung des wahren Gottes, die sich nach Noahs Tode nur noch auf wenige beschränkte, sollte unter den Menschen bewahrt und gepflegt werden; darum traf Gott Anstalt, dass sie bei einem Zweige ihres Geschlechts erhalten würde, bis Christus selbst, das Licht der Welt, käme. Abraham sollte der Stammvater eines Volkes werden, das Gott als sein auserwähltes Volk vor der Vermischung mit andern Nationen bewahren und gegen das Eindringen ihres Unglaubens und Götzendienstes umzäunen wollte; eines Volkes, dem Er die Erkenntnis der Wahrheit anvertraute als ein unveräußerliches Eigentum, damit in der Mitte abgöttischer und abgefallener Heiden doch wenigstens ein Ort gefunden werde, von welchem dereinst in der Zeit der Erlösung Licht und Wahrheit auf die übrigen Nationen ausströmen könne. Dieses Volk wollte Gott in Seine besondere Schule und Erziehung nehmen, um es einstmals zu einem Segen der Völker machen zu können. Zu dem Ende gab Er ihm sein Gesetz, seine Verfassung, seinen Gottesdienst und die Kenntnis der künftigen Heilsanstalt, durch welche dem überhandnehmenden Verderben gesteuert und ein besserer Zustand der Menschheit herbeigeführt werden sollte. Mitten unter den Weltreichen, welche ihr Heil in Waffenmacht, Volkszahl, Kunst, Gewerbe, Handel und Wissenschaft ohne Gott suchten, gründete Gott Sein Reich, dessen Bedeutung auf zweifache Weise zu fassen ist, sowohl nach seiner äußeren Erscheinung als nach seinem inneren Gehalt. Nach seiner äußeren Erscheinung bildet es durch Gesetz, Verfassung und Schutz von oben eine feste Grenze gegen das Allgemeinwerden abgöttischer Sitte und ungläubigen Abfalles, pflanzt durch seine Anstalten die lautere Erkenntnis und Anbetung Gottes fort, schützt die wahren Verehrer Gottes und lässt sein Licht auch in die verfinsterten Umgebungen hineinleuchten. Nach seinem inneren Gehalt besteht dieses Reich Gottes aus allen denen, welche sich an dem äußeren Erkennen und Festhalten der Wahrheit nicht genügen lassen, sondern diese Wahrheit auch in Herz und Leben aufnehmen, im lebendigen Glauben an Gott und Seine Verheißung wandeln und die Verbreitung des Lichtes auf der dunkeln Erde zu ihrer Hauptangelegenheit machen. Diese Menschen, deren Zahl nicht bestimmt werden kann, sind eigentlich die Säulen und Träger der Welt; um ihrer und ihrer Fürbitte willen hat Gott mit der abgefallenen Menschheit noch Geduld, und sie bilden den frischen, lebendigen, sich immer erneuernden Kern des Reiches Gottes, dessen äußere Form und Verfassung ohne sie bald als eine dürre Schale zerfallen würde. Obiges gilt von dem Reiche Gottes im Alten wie im Neuen Bunde.

Wie die Führung und Stellung aller Völker in einer näheren oder ferneren Beziehung zu diesem Reiche steht, so bezieht sich in ihm selbst alles auf seinen Mittelpunkt: Christus. Alle gottesdienstlichen Einrichtungen des Reiches Gottes im Alten Bunde, alle Opfer, Feste, heiligen Bücher enthielten vorbildliche und offene Hindeutungen auf den verheißenen Messias und Seine Herrschaft auf der Erde; das Reich Gottes im Neuen Bunde ist nach Seinem Namen genannt, ruht auf Seiner großen Geschichte und predigt Sein unvergängliches Wort. Alle lebendigen Glieder, alle Kernmenschen des Reiches Gottes vor Christus legten hauptsächlich dadurch eine Probe ihres Glaubens ab, dass sie dem Wort der Verheißung trauten und den kommenden Messias erwarteten. Alle Kernmenschen des Reiches Gottes im Neuen Bunde haben nur insofern wahres Leben und inneren Gehalt, als Christus in ihnen lebendig geworden ist und eine Gestalt gewonnen hat.

Wie Christus der Mittelpunkt des Reiches Gottes und sofort der ganzen Menschheit ist, wie die Zeit seiner Erscheinung in die Mitte der Weltzeit fällt, so finden wir auch den Ort, wo Er erscheinen sollte und wo das Reich Gottes zuerst gepflanzt wurde und zuletzt sich verherrlichen wird, in der Mitte der bewohnten Welt. Das Land Kanaan liegt im Mittelpunkt zwischen Asien, Afrika und Europa, und die leichtesten Verbindungswege mit allen Ländern der Alten Welt können von seinen Grenzen aus eröffnet werden. Nach den Weissagungen der Propheten ist diese Stellung des Landes, welches einst das wichtigste Land der Erde werden soll, zu welchem alle Völker hinaufziehen werden, von nicht geringer Bedeutung. In dieses Land führte Gott den Abraham und gelobte ihm, dasselbe ihm und seinem Samen zum ewigen Eigentum zu geben. Es erforderte einen Blick des Glaubens, um diese Verheißung festzuhalten; denn damals gehörte das Land noch den heidnischen Kanaanitern, Hams Nachkommen, und wollte Abraham auch nur ein eigenes Stück Landes besitzen, um einen Begräbnisplatz zu haben, so musste er es um Geld von den Hethitern kaufen. Aber noch schwerere Glaubensproben warteten auf ihn, wie die Dahingabe seines Verheißungssohnes Isaak, und dadurch, dass er mit Ehren bestand, hat er das Recht erlangt, ein Vater aller Gläubigen zu heißen.

Auch Abrahams Sohn Isaak und dessen Sohn Jakob führten das Glaubensleben als Fremdlinge im Lande Kanaan. Sie bauten dem Herrn Altäre, predigten von Seinem Namen in ihren heidnischen Umgebungen, wurden von Ihm besonderer Offenbarungen gewürdigt und trösteten sich der Verheißung, die sie von ferne sahen. Sie suchten ein himmlisches Vaterland. Das ist's hauptsächlich, was sie von andern Menschen unterscheidet, die bloß aufs Irdische sehen und sich daran genügen lassen. Und weil sie mitten unter einem verkehrten Geschlecht diesen himmlischen Sinn bewahrten, so tat ihnen Gott die große Ehre an, ihre Namen in seinen Titel aufzunehmen und sich den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu nennen. Das ist eine Auszeichnung, welche allen Menschenruhm verdunkelt. Wie schwer es für sie gewesen sein muss, unter so verdorbenen Umgebungen den reinen Glaubenssinn festzuhalten und zu üben, davon gibt uns die Geschichte der Patriarchen manche sehr verständliche Winke.

Indessen zeigte sich gleich bei diesen Patriarchen und ihren nächsten Nachkommen der oben genannte Unterschied zwischen dem Inneren und Äußeren des Reiches Gottes. Jene doppelte Linie von Menschen, welche seit Kain und Abel immer nebeneinanderlief und deren Auseinanderhaltung eben durch die Stiftung des Reiches Gottes bezweckt wurde, zeigte sich auch wieder innerhalb der Grenzen dieses Reiches und offenbarte den Unterschied zwischen den Kindern der Verheißung und den Ausgestoßenen oder zwischen den erwählten Lieblingen Gottes und den bloß äußerlichen Stammhaltern der Erkenntnis Gottes und Seiner Verheißung, wie bei Joseph und seinen Brüdern.

Durch die wunderbare Führung Josephs, welche uns das Wort Gottes ausführlich berichtet, versetzte Gott Sein Volk, das Er zum Träger Seines Reiches bestimmt hatte, nach Ägypten.

Gott wollte selbst Israels König sein und unsichtbar regieren, dadurch sollte sich das Volk von jedem anderen Volke unterscheiden. Mächtig genug war Er, sie gegen ihre Feinde zu schützen, das wussten sie. Auch durfte es in der langen Richterzeit kein heidnisches Volk wagen, sie anzugreifen, außer wenn sie sich durch Abgötterei versündigten. Kam irgendein zweifelhafter Umstand, über welchen der Wille des Regenten erforscht werden musste, so durfte der Hohepriester nur den Leibrock anlegen und den Herrn fragen. Wie gut hätte es doch das Volk Israel vor allen anderen Völkern gehabt, wenn es diese Regierungsform beibehalten hätte! Aber es gehörte Glauben dazu, den unsichtbaren Gott als beständig nahen und gegenwärtigen König zu betrachten. Und es gehörte ein strenger Gehorsam dazu, um sich Den geneigt zu erhalten, der zu strafen erwiesenermaßen so große Macht hatte. Aber wohl zu beherzigen ist diese Geschichte als ein Beweis dafür, wie nahe und lebendig der Verkehr ist, in welchem Gott mit der Welt steht; wie wenig der die Welt versteht, der sie als eine ohne Dazwischenkunft Gottes ablaufende Maschine betrachtet, da Gott sich so weit zur Menschheit herabgelassen hat, dass Er bei Seinem auserwählten Volk ein Amt annehmen und sein König bleiben wollte. Übrigens hat er unter allen übrigen Völkern keinem diesen Antrag gemacht, und es ist somit aufs Neue bestätigt, dass das Volk Israel als das erste und vornehmste unter allen Völkern betrachtet werden muss, wie die, Stadt, wo der König eines Landes seinen festen Sitz aufgeschlagen hat, als Residenzstadt die vornehmste unter allen ist. Hätte das Volk Israel nicht durch Ungehorsam seinen Wohlstand selber wieder so oft unterbrochen und seinem Gott endlich die Regierung abgenommen, so würde auch äußerlich offenbar geworden sein, dass es das erste Volk der Erde sei.

Die ganze Geschichte des Volkes Gottes bis auf diese Zeit seiner großen Demütigung predigt die wichtige Wahrheit, dass dem durch die Sünde zugrunde gerichteten Menschen durch kein Mittel von außen geholfen werden kann, weil sein Verderben ein inneres ist und in den verschiedensten äußerlichen Zuständen immer wieder aufs Neue hervorbricht. Der Druck in Ägypten bewirkte bei dem Volke Israel keine rechte Demütigung; die Wunder Gottes in der Wüste machten es nur noch trotziger; die Einführung ins Land Kanaan forderte es vergeblich zur Dankbarkeit auf; der sichere Wohlstand in der Salomonischen Zeit machte es nicht wahrhaft glücklich. Bestände das Verdienst des Welterlösers bloß darin, dass Er ein großer Lehrer war und eine richtigere Erkenntnis pflanzte, wie die Ungläubigen unserer Zeit meinen, so hätte das Volk Israel seinen Messias schon im Alten Bunde gehabt; denn an Erkenntnis der Wahrheit hat es ihm wahrlich nicht gefehlt. Es hatte einen Mose, der mit Gott redete wie ein Mann mit seinem Freunde redet; es hatte einen Salomo, der aller Geheimnisse kundig war; es hatte eine Reihe von Propheten, welche die Wege Gottes und Seine Wahrheit wussten und verkündigten. Weil aber dem Geschlecht Adams nur durch eine vollständige Erneuerung und Wiedergeburt an Geist, Seele und Leib zu helfen ist und diese nur durch die Kräfte und Mitteilungen einer neuen, gänzlich unbefleckten Menschennatur bewirkt werden kann, so war auch eine solche vollkommene Wiederherstellung nicht eher zu erwarten, als bis diese neue und erneuernde Kraft in der Person Christi erschien. Und darum deuteten auch alle Propheten, während sie zur augenblicklichen Buße und Bekehrung aufforderten, doch immer auf die ferne Zeit des Messias hin als auf die Zeit des wahren Heils und der wirklichen Erlösung, und alle Übungsschulen, durch welche Gott Sein Volk führte, waren nur darauf berechnet, die Sehnsucht nach dem verheißenen Erretter und Seinem Friedensreiche in ihm zu erwecken und zu stärken. So war das Reich Gottes im Alten Bunde nur ein keimendes, eine Vorbereitungsanstalt, und hatte die doppelte Aufgabe, die lautere Erkenntnis des wahren Gottes bei dem auserwählten Volke zu erhalten und die Hoffnung der Erlösung in dessen Mitte aufzubewahren. Wie sehr aber auch das Volk Gottes gegen andere Völker durch seine Verfassung und Führung abgeschlossen und verzäunt war, so brach doch von Zeit zu Zeit ein Strahl des Lichtes, das ihm verliehen wurde, durch die Scheidewand hindurch und erhellte seine finsteren Umgebungen, zum Beweis, dass Gott auch anderen Völkern eine bessere Erkenntnis gönnte, soweit sie für dieselbe empfänglich waren.

Griechenland

Der Charakter und die Verfassung der griechischen Staaten gewähren ein anderes Bild als die morgenländischen Reiche. Dort ist das Streben nach Einigung des Vielfachen; hier das Streben nach Vervielfältigung des Einigen. Dort handelt es sich um dauerhaftes, unverändertes Bestehen; hier ist der mannigfaltigste Wechsel des Umfangs und der Gestaltung. Jene stützen sich auf die Trefflichkeit ihrer inneren Verfassung und geistigen Kraft. Im Morgenlande herrscht der Charakter des Großartigen, Riesenhaften, Staunenerregenden; in Griechenland der des Schönen, Wohlgefälligen, Geschmackvollen. Die Regierungsweise im Morgenlande ist despotisch; der Wille eines Einzigen hält alles zusammen, das Volk ist nur eine willenlose Masse, vom Winke des Herrschers bewegt; in den griechischen Staaten hat das Volk auch einen Willen und darf ihn äußern, es regiert sich selbst. Der menschliche Geist entwickelt sich da frei ohne Schranken, versucht das Höchste in Kunst und Wissenschaft, in Weisheit der Verfassung und Verfeinerung des Lebensgenusses.

Griechische Feinheit und List sind zum Sprichwort geworden; griechische Kunst ist das Höchste, was man in diesem Fach bewundert; griechische Philosophie war der einzige geistige Gärungsstoff, der die träge Masse des finsteren Mittelalters in Bewegung setzte; griechische Wissenschaft war die Vorläuferin der Reformation und griechischer Geist herrscht noch jetzt in unsern gelehrten Schulen, in unserm ganzen Bildungsgang und hat unberechenbaren Einfluss auf die Gestaltung unserer Zeit und unseres Lebens.

Aber auch der Versuch, das Heil der Menschheit aus den Kräften des eigenen Geistes statt aus Naturkräften, wie es das Morgenland tat, zu schöpfen, musste zuschanden werden. Denn im Grunde war es doch nur das fleischliche Wesen des natürlichen Menschen, welches unter der Maske geistiger Bildung und Erhebung sich geltend zu machen suchte, wie das sittliche Leben der Griechen deutlich zeigt; und der große Einfluss, den der griechische Charakter auf die Bildung des Abendlandes gewonnen hat, erklärt sich hinlänglich aus der Feindschaft des natürlichen Menschen gegen Gott und Sein Gesetz, welcher das selbstsüchtige Wesen dieses Charakters entspricht und zur Nahrung dient.

Mazedonien und Alexander der Große

Nördlich von Thessalien hatte sich seit dem Anfang des neunten Jahrhunderts v. Chr. der mazedonische Staat gebildet, über den seit 360 v. Chr. König Philipp herrschte, ein ehrgeiziger, eroberungssüchtiger Mann. Es gelang ihm, die Nachbargebiete seinem Reiche einzuverleiben, und Griechenland schien ein ähnliches Schicksal bevorzustehen. Durch Schmeichelei und Bestechung suchte er sich in die griechischen Angelegenheiten zu mischen und festen Fuß im Lande zu fassen. Der Redner Demosthenes war zwar unermüdet, die Griechen, und namentlich die Athener, aufs angelegentlichste vor jeder Gemeinschaft mit Philipp zu warnen; denn er hatte die ehrgeizigen Pläne des Königs durchschaut; aber das leichtsinnige Volk in Athen war zu keiner Besinnung zu bringen. Endlich brach Philipp mit seinem wohlgerüsteten und kriegsgeübten Heer in Griechenland ein und erfocht bei Chäronea einen vollständigen Sieg über die vereinigten Griechen. Nichts hätte ihn gehindert, sie als seine Untertanen zu behandeln, aber großmütig ließ er ihnen ihre Freiheit und Verfassung und verlangte bloß, zum Oberfeldherrn der Griechen gegen die Perser erwählt zu werden; denn auf die Überwindung Persiens hatte sein ehrgeiziger Blick sich gerichtet. Er wurde aber, noch ehe er dieses Unternehmen beginnen konnte, ermordet. Philipps Sohn, Alexander, war ganz der Mann dazu, das auszuführen, was sein Vater angefangen hatte. In seiner Jugend hatte er neben ungemeiner körperlicher Ausbildung auch die Bildung des Geistes nicht versäumt; der berühmte Philosoph Aristoteles war sein Lehrer. Daneben brannte er vor Begierde, sich einen großen Namen zu erwerben und sich durch große Eroberungen auszuzeichnen. Späterhin, als er die halbe Welt erobert hatte, war er von dem Gedanken niedergeschlagen worden, dass er mit der Eroberung der Erde bald fertig sein würde und dann nichts mehr zu tun hätte.

So wurde er von Jugend auf von dem Geiste Babels getrieben, der die natürliche Scheidewand zwischen den Völkern niederreißen und alle unter einem Haupte vereinigen will, obgleich ihm so wenig als den übrigen Welteroberern klar sein mochte, was eine solche Vereinigung aller Völker für unglückliche und zerstörende Folgen haben musste. „Gott hat dem Menschen Ewigkeit ins Herz gelegt“, sagt die Schrift, das heißt, es ist in dem Menschenherzen eine unauslöschliche Sehnsucht, die nur durch eine ewige Befriedigung gestillt werden kann, nur durch die Vereinigung mit dem unendlichen Gott selbst. Aber die meisten Menschen missverstehen dieses Sehnen und suchen seine Befriedigung im Sichtbaren und Endlichen, in dem, was außer Gott ist, der eine im Reichtum, dessen er nicht genug zusammenhäufen kann, der andere in fleischlichem Genuss, der nur für Augenblicke den aufgeregten Durst beschwichtigt, der dritte in der Wissenschaft, die ihn nie sättigt, der vierte in der Ehre vor Menschen, die ein Ende nimmt, der fünfte in der Erweiterung seiner Macht, bei welcher er immer wieder einen über sich erblickt. Alle diese verschiedenen Arten von Bestrebungen sind eitel; denn sie können den tiefen Abgrund des Verlangens nicht ausfüllen, der Durst der Seelen bleibt im Grunde ungestillt, und wenn sie hinüberkommen in die unsichtbare Welt, wo die irdischen Mittel zur Befriedigung oder Betäubung desselben wegfallen, so bricht er, wie bei dem reichen Manne im Evangelium, in helle Flammen aus. Nur wer die Sehnsucht seiner Seele mit den unendlichen Gütern Gottes, mit der Erkenntnis der himmlischen Wahrheit und mit der Speise des Lebens von oben sättigt, findet wahre Befriedigung, die ihn hier und dort glücklich macht.

Alexander suchte den Durst seines Innern mit Eroberung der Welt zu stillen und musste es auch auf seinem Wege erfahren, dass der unsterbliche Geist in dem Überfluss irdischer Nahrung Mangel leidet.

Das jüdische Land in der Zeit vor Christus

Der Zustand des jüdischen Landes war in den letzten Jahrhunderten der Zeit vor Christus vielen Abwechslungen unterworfen. Zuweilen hatten sie ruhige Feierzeit, wenn die kriegerischen Parteien auf beiden Seiten den Schauplatz des Kampfes nicht gerade nach Judäa verlegten; zuweilen wirklichen Wohlstand, dann aber auch wieder Zeiten des tiefsten Elends und der schrecklichen Zerwürfnis. Dieser im Vergleich mit den früheren blühenden Zeiten des Volkes sehr geringe und unansehnliche Zustand, der immer nur ein Schatten der alten Herrlichkeit blieb, auch in seinen besten Tagen, dazu die Unterbrechung prophetischer Mitteilung, deren letzte durch Maleachi schon vierhundert Jahre vor Christus stattgefunden hatte, sowie die innere Spaltung des Volkes selbst in verschiedene kirchliche Parteien — alles das musste dazu helfen, die sehnsüchtige Erwartung des verheißenen Messias aufs höchste zu steigern und das Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit zu wecken und zu schärfen. Und wenn sich selbst unter dem auserwählten Volk Gottes, das Sein Licht und Recht besaß, doch zur Zeit der wirklichen Erscheinung des Weltheilandes nur wenige fanden, in denen ein lauteres Sehnen nach Seiner Zukunft lebendig geworden war, so musste das nur zu einem neuen Beweise dienen, wie tief die Versunkenheit des Menschengeschlechts und wie nötig eben deswegen ein Erlöser sei. Äußerliche Mittel — das hat die bisherige Geschichte gelehrt — konnten die Wiederherstellung des gefallenen Menschen nicht bewirken. Alle Versuche haben fehlgeschlagen. Die höchste Kultur des Fleisches und des Geistes im Morgen- und im Abendlande, die mächtigsten Reiche, die weisesten Verfassungen, der glänzendste Wohlstand, die schwersten Züchtigungen — alles ist vorübergegangen und hat nur dazu gedient, das Verderben des Menschenherzens von allen Seiten zu offenbaren. Selbst das Gesetz Gottes vom Himmel und sein fortwährender unmittelbarer Verkehr mit Seinem Volke durch Priester und Propheten konnten diesem Volke nicht zum wahren Glück helfen und hatten nur die Wirkung, dass es nicht so tief sank wie andere Völker und dass in seiner Mitte ein Heiligtum gläubiger Herzen erhalten wurde, in denen der Messias, als Er kam, Sein neues Werk anknüpfen konnte. Wenn so das Volk Gottes selbst, das seine Verfassung, sein Gesetz und seine Weisheit vom Himmel hatte, dahinsiechte, ohne der Welt das Heil geben zu können, wieviel weniger konnte dieses von der griechischen Weltherrschaft erwartet werden, deren Weisheit irdisch war und so wenig göttliche Grundwahrheiten enthielt. Auch das griechische Reich musste untergehen und durch seinen Verfall das Bekenntnis ablegen, dass es nicht genug Wahrheitsgehalt und göttliches Leben in sich gehabt, um die Kräfte des Todes zu überwinden und seine Verheißungen von Glück an den Völkern zu erfüllen.

Orient und Okzident

Der Grundgedanke des griechischen Geistes ist Freiheit, der des morgenländischen Einheit durch Gehorsam. Die Geschichte der morgenländischen Reiche ist die Geschichte der Versuche, Einheit durch Gehorsam zu pflanzen und zu erhalten. Die Geschichte Griechenlands stellt eine Reihe von Versuchen dar, die Freiheit in allen Gebieten des Geistes und des Lebens geltend zu machen. Durch die Geschichte des vierten Weltreiches, des römischen, zieht sich ein beständiger Kampf zwischen Freiheit und Gehorsam. Während im Morgenlande darauf hingearbeitet wurde, die Bedeutung der Einzelnen nur in ihren Anteil am großen Ganzen zu setzen und möglichst große Massen unter einen Gesamtwillen zu vereinigen, war in Griechenland das Streben herrschend, jedem Einzelnen einen Anteil an der Regierung zuzuerkennen, so dass zwar jeder Untertan, aber auch zugleich Regent, jeder dem Ganzen dienstbar, aber zugleich sein eigener Herr war. Nicht durch sinnliche physische Macht, sondern durch die Macht des Gedankens wollten die Griechen beherrscht werden und herrschen, und diese Herrschaft ist ihnen auch geblieben. Wie sie aber ihre Herrschaft erweiterten, so konnte fremdartige Einmischung nicht vermieden werden, und diese wirkte auf sie selber, auf ihre Verfassung und Religion zurück. Hätten die griechischen Ideen, welche namentlich durch Alexanders Eroberungszug sich fast über die ganze Erde verbreiteten, wahres Leben in sich gehabt, so wären die Völker durch sie glücklich und ihr Reich wäre unerschütterlich geworden. So aber musste es offenbar werden, dass auch durch die feinste und höchste Ausbildung des menschlichen Geistes, welche man den Griechen nicht absprechen kann, keine Kraft in dem Menschen geweckt wird, durch welche der Verwesung des Menschengeschlechts ein Ziel gesetzt werden könnte. Ob der Geist der Forschung und Prüfung, der durch die Verbreitung griechischer Ideen unter den Völkern geweckt wurde, für die Aufnahme der Wahrheiten des Christentums mehr förderlich oder hinderlich gewesen, ist nicht leicht zu entscheiden; denn oft war das Kennzeichen dieser griechischen Philosophen Hass und Verachtung gegen die Wahrheit, wie Apg 6, 9 [ff.] und 17, 18 [ff.] und Paulus selbst erklären (1 Kor 1), und in anderen Stellen, was das Wort Gottes für eine Stellung gegen die griechische Weisheit einnehme.

Rückblick auf die alte Geschichte

So sind die großen Weltreiche nacheinander über die Schaubühne der Weltgeschichte gezogen und haben alles aufgeboten, jedes in seiner Weise, um seine Macht zur allein geltenden und dauernden zu machen, die Welt nach seinem Sinn zu gestalten und das Glück des Menschengeschlechtes durch menschlichen Rat zustande zu bringen. Es ist aber von einem Weltreich zum anderen und von einem Jahrhundert zum anderen immer deutlicher geworden, dass alle Herrlichkeit der Welt vergeht und dass das wahre Heil nicht von ihr zu erwarten ist.

In derselben Zeit, da Rom alle Vorzüge und Eigentümlichkeiten der früheren Weltreiche, große Kriegsmacht, Handel und Gewerbstätigkeit, Luxus und Pracht, Bildung in Kunst und Wissenschaft in sich vereinigte und aufs Höchste brachte, wo man von der Verbindung der äußeren Macht mit der Steigerung und Ausbildung aller Geisteskräfte auch das Höchste für die Rettung und Beglückung der Völker und zunächst der Römer selbst hätte erwarten sollen, in derselben Zeit bereitete sich der Untergang der alten Ordnung der Dinge und der alten Völker vor, und an dem Stamm des großen Baumes, der seine grünenden Zweige in alle Länder streckte, nagte bereits die Fäulnis.

Außer im kleinen Judäa herrschte in allen Ländern der Götzendienst in seinen verschiedenen Gestalten, und mit ihm war der Sündendienst fast überall unzertrennlich verbunden. Wenn somit die Heiden gerade an den Orten, wo Ermunterung und Kraft zum Guten geholt werden sollte, in den Tempeln ihrer Götter, noch überdies zur Sünde gereizt wurden, so dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass alle Bande der Zucht locker wurden und die Schamlosigkeit des Lasters mit jedem Jahrhundert stieg, sondern nur darüber, dass dies nicht schneller, reißender, vollständiger geschah; dass in einem Volke, wo das Fundament der Sittlichkeit so untergraben war, noch Männer gefunden wurden, die den Einfluss des Verderbens von sich abwehrten, mitten in der Befleckung sich rein erhielten und durch ihre Treue bei geringer Erkenntnis, durch ihren starken Mut, durch ihren aufopfernden Sinn so viele Christen der jetzigen Zeit beschämen.

Diese auffallende Erscheinung lässt sich dadurch erklären, dass Gott, obwohl Er alle Heiden „ihre eigenen Wege wandeln ließ, sich doch unter ihnen nicht unbezeugt gelassen hat“. Sein Zeugnis unter den Heiden war mannigfach, wurde aber freilich nur von den Denkenden und Wahrheitsliebenden begriffen. Die Offenbarung Gottes in ihrem Gewissen durch den Anblick Seiner Werke lag aller Abgötterei zugrunde, und letztere war nur eine Verdrehung und Entseelung der ursprünglichen wahren Erkenntnis, zu welcher sich edlere und ernstere Gemüter aus dem Gewirre der Göttersagen immer wieder erheben konnten. Dass Gott den Heiden viel Gutes tat, ihnen vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gab und ihre Herzen erfüllte mit Speise und Freude (Apg 14,17), konnte ein offenes, aufmerksames Herz zur Anerkennung Seiner Größe und Güte führen; und selbst Seine Gerichte, welche Er von Zeit zu Zeit über ein faul gewordenes Glied der Menschheit ergehen ließ, konnten dazu dienen, ein solches Herz zur demütigen Unterwerfung unter Seine Macht zu bewegen.

Solche Gerichtsstunden schlugen über Sodom, Tyrus, Babylon, Karthago, Jerusalem. Unter den Millionen, die durch die Eroberungskriege der Nebukadnezar, Cyrus, Alexander, Julius Cäsar zugrunde gingen, mag manche Seele gewesen sein, die im Augenblick schwerer Bedrängnis einen seufzenden, flehenden Blick nach oben zu dem verkannten Gott richtete. Feuer und Hagel, Stürme und Meeresbrausen, Teuerung und Dürre, Erdbeben und Gewitter richteten von Zeit zu Zeit die Botschaft Gottes an die Menschen aus, und gewiss wurde diese hie und da von einem verstanden. Wie oft hat Gott den Völkern durch die Pestilenz Zeugnis Seiner Unzufriedenheit mit ihnen gegeben! Wer möchte behaupten, dass alle diese Heimsuchungen Gottes ganz fruchtlos geblieben, dass nicht wenigstens Einzelne in denselben nüchtern geworden und zur Beugung vor Gott erweckt worden seien! Fanden sich doch auch sonst hie und da einzelne Männer, an welchen eine besondere Wirksamkeit des Geistes Gottes mitten in der heidnischen Finsternis sichtbar wurde und welche nicht ohne Einfluss auf ihre Umgebungen blieben. Dabei ist nicht zu übersehen der gewiss nicht geringe Einfluss, welchen die Verbreitung der Israeliten und ihrer reineren Gotteserkenntnis auf die Vorstellungen der Heiden, mit denen sie in Berührung standen, ausgeübt hat. Diese Zerstreuung der Israeliten beschränkte sich ja nicht bloß auf Assyrien, Babylon und Ägypten, wo sie in größerer Anzahl und Masse wohnten; eine ganze Reihe von Ländern, in denen Juden sich aufhielten, ist Apg 2, 9—11 aufgeführt. Wie hätte bei dem vielfachen Verkehr, in welchen diese Juden mit ihren heidnischen Umgebungen kamen, die Bekanntschaft der letzteren mit ihrem Gott und Gottesdienst, mit ihrer Geschichte und ihren Gesetzen unterbleiben können! Gab es doch im Tempel in Jerusalem einen eigenen Vorhof der Heiden, in welchem diejenigen den Gott Israels anbeteten, welche Ihn durch ihre israelitischen Nachbarn kennengelernt hatten.

Indessen war auch die Absicht Gottes, durch Seine Führungen die Sehnsucht nach einem großen Erretter unter den Völkern rege zu machen, einigermaßen erreicht worden, und der schwere Druck, der unter den immer wieder vereitelten Versuchen der Weltreiche, den Zustand der Menschheit zu verbessern, unaufhörlich gewachsen war, lastete so fühlbar auf den Gemütern, dass das Verlangen nach einer Erlösung sich überall Luft zu machen suchte.

Überhaupt ist wohl die um jene Zeit schon begonnene und später in der großen Völkerwanderung ausgebrochene merkwürdige Bewegung der westasiatischen Völkerhorden am sichersten aus dieser Erwartung einer Weltumwandlung zu erklären, welche damals alle Völker durchdrang. Aber freilich war diese Umwandlung ganz anderer Art, als die Völker dachten; mehr ihren Folgen und Wirkungen als ihrem Ursprung und Wesen nach äußerlich. Von einem kleinen Punkte ging sie aus, von innen heraus — also ganz anders als die bisherigen Weltreiche — begann sie ihr Werk, und der große König und Welterneuerer, des die Völker harrten, wurde in einer armen Herberge des kleinen jüdischen Landes zur Welt geboren.

Die Geburt und Geschichte Christi

Im Jahre 39 v. Chr. war Herodes (auch der Große genannt) vom römischen Senat zum König von Judäa ernannt worden; zwei Jahre darauf eroberte er Jerusalem, vertilgte, was noch von der makkabäischen Regentenfamilie übrig war, und behauptete sich in seiner Herrschaft besonders dadurch, dass er sich frühzeitig an Augustus anschloss. Da er von heidnischer Abstammung war, wollte er den Juden seine aufrichtige Anhänglichkeit an seine neue Religion dadurch beweisen, dass er den Tempel in Jerusalem, der unter der syrischen Herrschaft sehr gelitten hatte, wiederherstellte und mit großen Kosten verschönerte. Sonst war Herodes wegen seiner tyrannischen Regierung verhasst und musste dazu auch beitragen, unter dem Volke Israel, das schon lange nichts mehr von guten Tagen gesehen, das Verlangen nach der endlichen Erfüllung der alten Verheißungen immer stärker zu machen.

Doch ist dabei wohl zu bemerken, dass der größte Teil des Volkes bereits so stumpf geworden war, dass die Nachricht von der Erscheinung des neugeborenen Königs der Juden statt Freude nur Erschrecken unter ihnen erweckte. Nur die wenigen Stillen im Lande seufzten um das Kommen des Verheißenen. Aber es war wichtig genug, auch in diesen wenigen durch alle Mittel die Sehnsucht wachzuhalten und zu stärken; denn Christus wäre nicht gekommen, wenn niemand darum gebetet hätte, wie Er auch zum zweiten Mal nur dann kommt, wenn die Seinen ernstlich rufen: Komm, Herr Jesu!

Einen Messias erwarteten freilich noch alle Juden, aber in ganz anderer Weise. Sie wollten einen Befreier von der Herrschaft der Römer, einen König, der sie wieder zum ersten, angesehensten und glücklichsten Volk der Welt mache und die Weltherrschaft, welche jetzt in den Händen der Römer lag, dem jüdischen Volke zuwende. Wie die Juden zu diesen Erwartungen gekommen sind, lässt sich leicht begreifen. In ihren Propheten hatten sie in der Tat Verheißungen, die solches hoffen ließen und die es immer noch für die Zukunft hoffen lassen. Zu unterscheiden aber, was von den Weissagungen auf die Zeit der ersten und was auf die Zeit der zweiten Zukunft des Messias zu beziehen sei, konnte man ihnen nicht zumuten, da die Propheten selbst diesen Unterschied nicht angegeben, vielleicht nur zum Teil erkannt haben (vgl. 1. Petr. 1, 11). Sie selbst aber konnten bei ihrem irdischen, fleischlichen Sinn die geistige Seite jener Weissagungen nicht auffassen und bildeten sich ihre Messias-Idee nach den Wünschen ihres verdorbenen Herzens aus.

Bisher hatten die Weltreiche nacheinander die Oberhand auf der Erde gehabt; nun trat ein Reich Gottes, ein himmlisches Reich, in die Welt ein, vorerst aber noch innerlich, unsichtbar und darum auch von den Juden noch nicht erkannt. Vorbereitungen auf- dieses Reich, ein Reich Gottes im Keime, waren schon im Alten Bunde gewesen; nun kam das Vorbereitete selbst, fing im kleinen und stillen an, erweiterte sich aber nach und nach so, dass seine äußerliche Gestaltung alle Formen der Weltreiche und des Menschenlebens veränderte und sein Kern, die Gemeinschaft der Kinder Gottes in der Welt, wenn gleich äußerlich unerkannt, verachtet, unterdrückt, doch durch seine innere Lebenskraft den entscheidenden Einfluss auf die Geschichte der Völker ausübte.

Wenn schon diese Behauptung Jesu, dass Sein Reich, das Reich des Messias, nicht mit äußerlichen Gebärden komme, den Erwartungen der Juden widersprechend und darum für sie anstößig war, so musste es noch mehr die unumwundene Erklärung sein, dass sie nach ihrer damaligen Beschaffenheit zur Gemeinschaft an diesem Reiche nicht tauglich seien, und da Er besonders den Pharisäern und Schriftgelehrten ihre Ungerechtigkeit, Heuchelei und Unwissenheit offen zum Vorwurf machte, so benützten diese ihren ganzen großen Einfluss auf das Volk, um es gegen den Propheten von Nazareth aufzubringen. Zwar setzte sich Jesus durch Seine vielen wohltätigen Wunderwerke beim Volk immer wieder in Gunst und Achtung, aber die Juden waren wankelmütige Leute und hatten, mit wenigen Ausnahmen, keinen Sinn für die Wahrheit; darum ärgerten sie sich an Seinen Behauptungen, wenn Er sagte: Gott sei Sein Vater, Er sei von oben her, sei vor Abraham gewesen, werde in den Himmel zurückgehen. Endlich kam es so weit, dass der Hass der Priester und Volkslehrer, die ihren ganzen Einfluss durch Jesum zu verlieren befürchten mussten, auch das Volk umstimmte, dass es Seinen Tod verlangte. Der römische Statthalter Pilatus, ohne dessen Einwilligung keine Hinrichtung vorgenommen werden durfte, war schwach genug, gegen seine bessere Überzeugung ihrem stürmischen Verlangen nachzugeben, und ließ Jesum kreuzigen (eine Todesart, welche im römischen Reich nur bei Sklaven angewendet wurde), vorgeblich, weil Er sich zum König der Juden habe aufwerfen wollen und also als Empörer gegen die römische Regierung zu betrachten sei.

So wurde der große Plan Gottes, den Menschen wieder zu helfen, durch Menschen ausgeführt; und ohne es zu wissen oder zu wollen, mussten sie Werkzeuge des göttlichen Ratschlusses werden. Gerade der Umstand, dass sogar das auserwählte Volk Gottes so weit gesunken war, um Seinen größten Wohltäter und Retter, den unschuldigsten und besten der Menschen, zum Tode zu bringen, musste den augenscheinlichen Beweis liefern, wie notwendig diese äußerste Maßregel der Erbarmung Gottes war, nach welcher Er Seinen eingeborenen Sohn für das Heil der Menschen dahingab. Durch Seinen unbefleckten Gehorsam in der tiefsten Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz, den Er starb für die Sünden der Welt, musste Er vor der sichtbaren und unsichtbaren Welt den Beweis liefern, dass er würdig sei, der Heiland der Menschen zu werden; und weil es den Menschen nicht bloß an der Erkenntnis der Wahrheit fehlte, weil ihr ganzes Wesen durch die Sünde verdorben ist, musste Er durch Sterben und Auferstehen verklärt werden, um durch die Kräfte Seiner verklärten Menschheit die verdorbene Menschennatur zu erneuern, zu beleben und zu heiligen. Gott erweckte Ihn wieder aus Seinem Grabe und erhob Ihn in den Himmel auf Seinen Thron, von welchem aus das große Werk der Wiederherstellung des gefallenen Menschengeschlechtes ausgeführt werden sollte. Zu diesem Ende hat Gott Ihm die unumschränkte Regierung der ganzen Welt übertragen, damit alles erneuert und alle Feinde der göttlichen Weltordnung nach und nach überwunden würden.

Von der Zeit an beginnt im Himmel eine neue Regierungsperiode. Ein Mensch sitzt auf dem Throne Gottes und führt nach einer neuen Weise den Willen Gottes in der Welt aus. Die Wirkungen dieser Regierung werden für diejenigen, welche den Plan Gottes kennen, nach und nach auf der Erde sichtbar. Das Reich Gottes breitet sich aus unter den Völkern und durchdringt die Masse als ein langsam, aber sicher wirkender Sauerteig; die Welt bekommt eine andere Gestalt, und an den Einzelnen wird das Werk der Erlösung zustande gebracht.

Erste Ausbreitung des Christentums

Dass dieser Regierungsplan Gottes bekannt werde, dafür hat Er bestens gesorgt durch die heiligen Schriften des Neuen Bundes, welche von den Schülern Jesu geschrieben worden sind und in ihrem Zusammenhang nicht bloß die Geschichte des Lebens Jesu auf Erden und der ersten Ausbreitung seiner Kirche, sondern auch den Ratschluss Gottes über die Welt enthalten. Dazu waren sie befähigt durch den Geist Jesu, den Er am Pfingstfest nach Seiner Himmelfahrt über sie ausgoß und der sie überhaupt tüchtig machte, den Beruf, welchen ihnen Jesus aufgetragen, zu erfüllen. Sie sollten hingehen unter die Völker und ihnen die gute Botschaft bringen, dass nun eine neue Zeit in der Welt angebrochen sei. Der Retter der Völker sei gekommen, habe durch Seinen Tod die Welt mit Gott versöhnt, und wer nun an Ihn sich gläubig wende, könne durch Seine Macht von der Knechtschaft der Sünde und des Satans frei werden und aus dem Tode zum Leben kommen.

Wer es auf ihr Wort glaubte, dass Jesus von Nazareth sei der Christus (das heißt der längst verheißene und erwartete Weltheiland), der wurde durch die Taufe zu einem Anhänger Jesu geweiht und zu der Gemeinschaft der Gläubigen hinzugetan. Diese Gemeinschaft heißt: die Kirche. Anfangs war sie nur wie eine Seitenkapelle an den Tempel zu Jerusalem angebaut; als aber dieser zerstört wurde, blieb sie stehen, und es wurde offenbar, dass sie ihr eigenes Fundament habe. Ihre ersten Mitglieder waren Juden, aber auch als die Apostel anfingen, hinauszugehen in andere Länder, wandten sie sich vorzugsweise an die überall verbreiteten Juden und erst nachdem sie von diesen zurückgewiesen wurden, auch an die Heiden. So kam die Lehre Christi in die großen Handelsstädte Kleinasiens: Smyrna, Ephesus, Milet; so nach Mazedonien, von wo das dritte Weltreich ausgegangen war; so nach Athen, welches noch immer der Sitz der Bildung und die Schule des Geschmacks war, nach Korinth, das sich von seiner großen Demütigung wieder einigermaßen erholt hatte. Aber wie wenig der Geist der griechischen Weisheit und Weltbildung mit der göttlichen Weisheit und Wahrheit in Verwandtschaft stand, das zeigte sich gleich bei der ersten Begegnung. Mit stolzer Verachtung oder leichtsinnigem Spott wurde die treffliche Rede des Apostels Paulus in Athen angehört, und nur von wenigen wird berichtet, dass sie das Wort der Wahrheit gläubig angenommen haben.

Das Reich Gottes trat freilich nicht mit solchem Aufsehen wie die Weltreiche unter die Menschen ein. Im Kleinen und stillen, ohne viel Äußerlichkeiten, bei den Juden sich an das Bestehende anschließend, bei den Heiden nur die Gemeinschaft des Götzendienstes und der Sünde vermeidend, breitete es sich aus. Sein wirksamster Apostel, Paulus, saß am Webstuhl, während er seine Briefe voll tiefer Weisheit diktierte. Und als Paulus schon in Rom gefangen saß, fiel es den üppigen Römern noch nicht ein, dass das Reich bereits seinen Anfang genommen habe, das ihrem Weltreiche zuerst eine ganz andere Gestalt geben und es dann gänzlich stürzen werde.

Konstantin und die christliche Kirche

Ob Konstantin bloß durch den Eindruck der großen Macht Christi in seinem Gemüt oder durch die kluge Berechnung, dass das Christentum eine große Zahl von Anhängern im römischen Reiche hatte, welche er für seine Sache gewinnen könnte, bewogen worden sei, der Schutzherr der christlichen Kirche zu werden, wollen wir nicht entscheiden; wahrscheinlich hat beides zusammengewirkt. Mit ihm beginnt die Reihe der christlichen Kaiser und zugleich eine neue Gestalt des römischen Reichs und der christlichen Kirche. Konstantin machte das Christentum aus einer verfolgten und unterdrückten Religion zur herrschenden des Reiches, und der Einfluss der Soldaten, Welchen sie bisher bei den Kaiserwahlen und in der Regierung ausgeübt hatten, ging von seiner Zeit an nach und nach auf die Geistlichkeit über, welche er und sein Sohn Konstantius zu großer äußerer Würde und Macht erhoben.

Waren die Christen bis daher selbst an den Orten, wo sie die Mehrzahl bildeten, doch dem Grundsatz nach nur geduldet und je nach der Ansicht des Regenten oder des Statthalters beeinträchtigt und misshandelt, so bekamen sie jetzt überall die entscheidende Oberhand, und die Heiden wurden unterdrückt und verfolgt. Waren die kirchlichen Versammlungen der Christen bisher an manchen Orten im Stillen und Verborgenen gehalten worden und auch ihre einfachen Bethäuser gewöhnlich über den Gräbern ihrer Märtyrer gebaut, so wurden jetzt ihre Zusammenkünfte öffentlich und feierlich, ihre Bethäuser wurden zu prächtigen Tempeln und die Tempel der Heiden kamen in Verachtung und Verfall oder wurden zerstört. Die christlichen Priester gelangten zu Ehre und Ansehen und wurden in verschiedene Rangstufen abgeteilt, der Gottesdienst wurde glänzender, den sinnlichen Menschen ansprechender und suchte so den Heiden etwas von ihrem Verluste zu ersetzen. Aber wie die Rose in fettem Boden und unter der sorgfältigen Pflege des Gärtners alle ihre Kraft in die Blüten treibt und keine Früchte mehr ansetzt, so ungefähr ging es auch dem Christentum. Je mehr es sich zur Entwicklung der äußeren Gestalt und Farbe neigte, desto weniger Kraft und Leben blieb ihm innerlich. Und während in der Zeit des Drucks und der Verfolgung das Leben immer wieder nach innen gedrängt wurde, verlor es sich in der Zeit des Wohlstandes und der Sicherheit mehr und mehr in äußerliche Formen. Eine Unterscheidung zwischen Wesen und Schein, Leben und Form, wahren Christen und Namenchristen wurde immer nötiger, und die Entstehung des Einsiedlerlebens und der Klöster ist als ein, wenn auch nicht ganz gelungener Versuch zu betrachten, diesen Unterschied tatsächlich auszusprechen. — Diejenigen Christen, die an dem von heidnischer Einmischung nicht völlig frei gebliebenen äußerlichen Kirchenwesen und der einreißenden Sittenverderbnis Ärgernis nahmen, zogen sich aus seiner geräuschvollen Mitte zurück und wollten in der Stille der Einsamkeit ihrem Gott lauterer dienen und das Kleinod des Glaubens vor weltlicher Verunreinigung retten. Aber das Leben in der Einsamkeit hat so gut seine Versuchungen wie das Leben in der Welt, und ein Sauerteig, der im Kasten liegt, kann seine Bestimmung, die ganze Masse zu durchsäuern, nicht erfüllen. Wenn auch die Bewohner der Klöster ihr eigenes verdorbenes Herz nicht mit in dieselben hineingebracht hätten, so konnten sie sich doch vor dem Eindringen des wachsenden Verderbens der Außenwelt um so weniger verwahren, weil ihre Zahl immer wieder von außen her ergänzt werden musste.

Das Reich Gottes hätte sich sollen von innen heraus entwickeln durch Überzeugung und Wiedergeburt des Einzelnen. Es war zunächst nicht für die Völker und Staaten, sondern für die Menschen bestimmt, und sollte nur allmählich die Herrschaft in der Menschheit erringen. Statt dessen wurde es von Konstantins Zeit an nur als eine neue Form des Gottesdienstes behandelt, welche ganzen Völkern wie ein Gewand angezogen werden konnte; auf die freie Übereinstimmung des Einzelnen mit seinen Grundwahrheiten wurde nicht mehr so streng gesehen; das Äußere wurde mit dem Inneren verwechselt, und die Heilanstalt für die Kranken wurde zu einem großen Wohnhause, in welchem sich auch diejenigen einmieteten, die sich ihrer Krankheit noch nicht bewusst geworden waren. Weil man nicht mehr alles Heil von der seelenrettenden Macht Christi erwartete und nicht Geduld genug hatte, seiner langsamen, aber gründlich wirkenden inneren Errettung zuzusehen, so wurden menschliche Kraft und äußerliche Einrichtungen zu Hilfe gerufen; der alte Mensch zog ein neues Kleid an und meinte, er sei nun ganz neu. Das Wort Gottes wurde nicht als die einzige Quelle aller Wahrheit und Weisheit, alles Lebens und aller Erneuerung geschätzt; heidnische Philosophie hielt man für eine notwendige Ergänzung seiner Lücken; heidnische Gesetze und Einrichtungen wurden beibehalten, und auch die Glaubenslehren der Heiligen Schrift wurden durch menschliche Zusätze entstellt und verfälscht. So kommt es, dass unser ganzes Leben immer noch eine Menge heidnischen Grundstoffes enthält, weil die Christen sich nie dazu verstehen konnten, die ursprüngliche Bestimmung der Bibel vollständig anzuerkennen, nach welcher sie alle Verhältnisse des Lebens und Wissens durchdringen und heiligen soll. Das Christentum blieb mit dem Heidentum vermengt und wurde nie zur einzigen Grundlage der Weltbildung und des Menschenglücks gemacht. Zwischen dem Reiche Gottes, wie es sich zur Zeit der Apostel gestaltete, und zwischen der Heidenwelt, die ganz außer Christo steht, entstand nun ein drittes, die äußerliche Kirche.

Seitdem müssen von ihr, wie einerseits die heidnischen Völker, so andererseits die einzelnen wahren Christen wohl unterschieden werden. Mit der Geschichte der letzteren hat es die Kirchengeschichte zu tun, die heidnischen Völker haben gar keine Geschichte, weil sich bei ihnen, solange sie noch ohne Christum leben, keine Entwicklung, kein Streben nach einem festen Ziele nachweisen lässt, was allein den Namen einer Geschichte verdient. Die Weltgeschichte beschränkt sich auf den Gang der Entwicklung, welchen die in der äußerlichen Kirche eingeschlossenen oder zu derselben in einem Verhältnis stehenden Völker genommen haben. Nur insofern es mit Christus in irgendeine Berührung gekommen, gehört ein Volk in den Kreis der Weltgeschichte herein, deren Mittelpunkt Christus ist.

Verfall des römischen Reiches

Von der Zeit an, welche mit der sogenannten Völkerwanderung beginnt, geht der Schauplatz der Geschichte von Rom nach Deutschland über; und obwohl bereits die Elemente einer neuen Weltherrschaft in Rom sich gebildet haben, so ist diese doch mehr geistiger Art, und die Entwicklung der Volksherrlichkeit und der politischen Macht geht von einem neuen, dem deutschen Völkerboden aus und bildet den fortwährenden Gegensatz und die wirksamste Beschränkung jener geistlichen Weltherrschaft, welche kräftiger und gefährlicher als irgendeines der früheren Weltreiche nach der Einrichtung einer Universalregierung strebt.

Das römische Volk und die übrigen seiner Herrschaft unterworfenen Völker waren nach und nach zur Vertilgung oder Unterjochung reif geworden. Üppiges Leben, im Verein mit dem leichten Geiste griechischer Bildung, hatte die Römer weichlich gemacht und die zügellos herrschenden Sünden ihr Lebensmark verzehrt. Das Christentum mit seiner neubelebenden Kraft war ihnen zwar zu Hilfe gekommen, aber es konnte sie nur an Einzelnen beweisen; und der Geist des Heidentums, dem vor einer Wiedergeburt graute, schuf sich aus dem Christentum eine neue Hilfe, in welcher er sich unter anderer Gestalt noch länger zu erhalten hoffte. In dem alten, ausgesogenen, zertretenen und von wucherndem Unkraut überzogenen Boden konnte die edle Pflanze des Evangeliums nicht mehr gedeihlich fortkommen, der Neubruch eines frischen, kräftigen Völkerbodens taugte besser für sie, und diesen fand sie in den deutschen Völkerschaften, welche an den nördlichen Grenzen des großen Römerreiches vom Ursprung bis zum Ausfluss der Donau gelagert waren.

So ging das große römische Reich zu Ende im Jahre 476, nach einer Dauer von 1230 Jahren, in deren Mitte es den höchsten Punkt seiner Macht und Größe erreicht, das griechische Weltreich gestürzt und sich an seine Stelle als viertes Weltreich gesetzt hatte. Es ist das vierte der Tiere in Daniels Gesicht, „viel anders als die andern Tiere“, der eiserne, geringere Teil des Bildes von Metall in Nebukadnezars Traum. Das Streben nach Alleinherrschaft ist bei ihm unverhüllter, ausgesprochener, härter und drückender; die Anerkenntnis Gottes, die in den drei führenden Weltreichen immer mehr abgenommen, hört vollends ganz auf. Sein Luxus und seine Sittenverderbnis übersteigen alles, was bisher dagewesen, seine Kaiser sind zum Teil abscheuliche Menschen und lassen nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Bildnissen Opfer bringen; gegen das Eindringen des christlichen Lichtes wehrt es sich mit erbitterter Anstrengung und führt unzählige Christen zum Märtyrertode. Es vereinigen sich in ihm alle Grundzüge der vorigen Weltreiche, alle Kräfte des natürlichen Menschen; aber es ist schlechter denn sie alle, weil ihm die Anerkennung des wahren Gottes mangelt, und auch, wo sie endlich ausgesprochen wird, zu spät kommt, um das Ganze vor dem Verfall zu schützen. Das römische Reich teilt sich nunmehr in zehn Reiche; das Eisen des römischen Grundstoffes vermischt sich mit dem bildsamen Ton der deutschen und anderer nordischen Völkerschaften; römischer Geist, römische Sprache und Gesetze gehen in die Verfassung und in das Leben wie in die Religion der germanischen Völker über und sind bei ihrer Bildung und Entwicklung wirksam; und wenn auch das römische Reich seiner alten Gestalt nach aufgehört hat, so pflanzt sich doch in Rom die Idee der Weltherrschaft durch das Papsttum fort. Aber wie Eisen und Ton nicht so gemischt werden können, dass sie sich gegenseitig durchdrängen, so ist auch der Zusammenhalt des römischen und deutschen Wesens mehr ein äußerlicher, gezwungener; der Keim eines beständigen Zwiespaltes liegt in demselben und offenbart sich in dem unaufhörlichen Streit des deutschen Kaisertums mit dem Papsttum.

Rückblick über die Jahre 375—800

Wie ganz anders hatte sich seit dem Anfang dieses Zeitraumes der Kreis der Völker, welche der Geschichte angehören, gestaltet! Das große römische Reich, das damals noch in weiter Ausdehnung, wenn auch innerlich entkräftet, bestand, und so lange die Herrschaft der kultivierten Welt innegehabt hatte, war verschwunden und sein letzter Zweig, das griechische Kaisertum, fast ganz auf Griechenland und Kleinasien beschränkt. Der Schauplatz der Geschichte war von Rom, wo die Länder des Mittelmeers rings umher seine Grenzen bildeten, in den engeren Kreis deutscher Völkerschaften übergegangen, welche allmählich, wenn auch langsam, der Herd der Kultur und eines neuen Kirchenlebens wurden. In den Ländern, wo die Kirche Christi vormals ihre blühendsten Arbeitsstätten gehabt, war durch das überraschend schnelle Umsichgreifen einer neuen falschen Religion (des Islam) alle ihre Herrlichkeit vernichtet, und an der Stätte des Kreuzes wurde der Halbmond erhöht. Bisher hatte die Geschichte immer einen Mittelpunkt, um den sich alles drehte, die Weltmacht. Nun sind zwei Mächte auf den Boden der Geschichte gelagert, eine christliche im Abendland, eine mohammedanische im Morgenland, die in dem folgenden Zeitraum fast immer im Kampfe miteinander liegen. Völker, die bisher ganz außerhalb des Kreises der Geschichte gestanden, sind nun in ihren Wirbel hereingezogen worden und bilden fast einzig das Material, mit dem sie sich beschäftigt: die deutschen Völker im Westen, die arabischen im Osten. Die Weltgeschichte ist eine Waage geworden, in deren einer Schale das Christentum, in der anderen der Mohammedanismus liegt und von denen die eine sich hebt, die andere sinkt.

Wie aber im Osten wieder ein besonderes Wechselverhältnis zwischen dem Reich der Kalifen und dem griechischen Kaisertum besteht, so ist im Westen der Gegensatz der weltlichen und geistlichen Macht bereits wahrzunehmen. Und wie das Reich der Kalifen zwischen den Parteien der Ommajaden und der Abassiden schwankt, so bietet auch die Weltmacht im Westen das Bild innerer Spaltung und Uneinigkeit.

Auch diese neue Welt, in welcher das Christentum der Form nach die erste Stelle“ einnimmt, hat es nicht begriffen, dass das wahrhaft Große ein innerliches ist, dass das Glück und der Wohlstand der Völker sich von innen heraus entwickeln muss und geistiger Natur ist. Auch sie hat aufs neue das äußerlich Große, Sinnliche und Glänzende der alten heidnischen Welt hervorgesucht, mit dem Christentum vermischt und zum Grund ihres Gebäudes gemacht und muss aufs neue erfahren, dass die Herrlichkeit des Fleisches nicht erretten kann, weil sie schon den Keim des Verderbens in sich trägt. Auch in ihr wird ein Streben nach großen Weltreichen, nach Vereinigung der Macht auf einem Punkte wahrgenommen, aber es kann nicht gedeihen, weil in ihrer ganzen Verfassung der Grundstoff zur Spaltung und Zertrennung gewurzelt ist.

Dazu war besonders die Einrichtung des Lehenswesens wirksam. Der Fürst verteilte seine Ländereien an seine Vasallen, der König an die Herzöge, die Herzöge an die Grafen. Dadurch wurden sie mächtig und es geschah oft, dass das Lehen, welches nur auf die Zeit des Hof- oder Kriegsdienstes verwilligt war, zu einem erblichen Besitz gemacht wurde, besonders wenn der Lehensherr selbst einen schwachen Charakter hatte. Auch Staats- und Kirchenämter wurden als Lehen übertragen, und so unter den Staatsdienern knechtische Abhängigkeit, unter den Kirchendienern Unwissenheit und Unsittlichkeit gepflanzt. Auch die Gerechtigkeitspflege stand auf schwachen Füßen; die Strafen richteten sich nach dem Stande des Klägers, der Mord eines Fürsten, Grafen, Geistlichen zum Beispiel wurde schwerer bestraft als der Mord eines niedrigen Vasallen oder eines Leibeigenen, und in vielen Fällen mussten die Gottesurteile, Feuer- und Wasserproben und dergleichen über die Schuld der Angeklagten entscheiden.

Der Bischof in Rom hatte bisher mit wechselndem Glück seine Ansprüche auf den Vorrang in der Christenheit gegen die Patriarchen, auf Unabhängigkeit gegen den griechischen Kaiser und auf die entscheidende Stimme in allen Kirchensachen gegen die Fürsten deutschen Stammes, zum Beispiel gegen den König der Westgoten, verteidigt und stand am Ende dieses Zeitraumes als erstes Oberhaupt der christlichen Kirche des Abendlandes fast allgemein anerkannt da. Noch war die Bestimmung der deutschen Fürsten, seinem immer wachsenden Einfluss das Gleichgewicht zu halten, zu welcher sie von Gott berufen zu sein schienen, nicht hervorgetreten; aber schon zeigte sich in einzelnen Spuren das Streben seiner Macht, sich zur Weltherrschaft zu entwickeln und die Rolle des verfallenen römischen Reiches im geistlichen Gewand fortzuspielen, ein Streben, das sich im folgenden Zeitraum aufs entschiedenste entwickelte.

Betrachtungen über die Reformationszeit

Die Reformation hatte sich fast überall, nicht bloß durch den Widerstand von sehen der bestehenden Kirche, die eine ihrer Säulen um die andere fallen sah, sondern auch durch die Abneigung der Fürsten durchkämpfen müssen, denn sie stand mit der damaligen Politik in direktem Widerspruch. Während diese überall darauf ausging, durch große Menschenzahl, stehende Heere und große Schätze, überhaupt also durch materielles Übergewicht, ihre Herrschaft zu befestigen, legte die Reformation allenthalben das Gewicht geistiger Größe in die Waage und bot dem krankhaften Zustand der Völker innere Heilmittel an. Die Fürsten meinten durch äußeren Zuwachs ihrer Macht, durch Verstärkung und Verschärfung der Regierungsgewalt und durch Beschränkung entgegenstehender Freiheiten mehr Ordnung und Ruhe in den Gang der Staatsverwaltung zu bringen. Der neue Geist aber, der in der Reformation sich Luft machte, wollte durch innere Reinigung und Heilung der kranken Elemente, durch Besserung des Sinnes denselben Zweck erreichen. Diese beiden entgegengesetzten Bestrebungen konnten einander nicht begreifen und mussten sich darum gegenseitig bekämpfen, bis eine oder die andere die Oberhand behielt. Soviel lässt sich bei Betrachtung der äußeren Erscheinungen erkennen. Vom Standpunkte des Wortes Gottes aus aber ist noch weiter zu bedenken, dass es so, wie es in der letzten Zeit vor der Reformation gegangen, nicht länger fortgehen konnte, wenn nicht die wenigen Züge der Wahrheit, die sich noch fanden, vollends vertilgt und der wahren Gemeinde Christi, die von der herrschenden Kirche unaufhörlich verfolgt wurde, eine Ende gemacht werden sollte. Die herrschende Kirche, welche nicht nur durch Aberglauben und Laster, sondern auch durch Unglauben im Innersten angefressen war, brauchte selbst eine Erneuerung, um nicht vollends der Fäulnis zum Raube zu werden. Die unsichtbare Macht der Finsternis aber, welche ihren Sieg über das Gute so nahe geglaubt hatte, musste natürlich dem Wiederaufleben desselben den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzen, und dadurch hauptsächlich wird, während andere Ursachen das Widerstreben der Fürsten und der Geistlichkeit begreiflich machen, verständlich, dass auch unter dem Volke so viele, die durch die Reformation offenbar nur gewinnen konnten, doch ihre erbitterten Feinde waren.

Merkwürdig ist ferner die Wahrnehmung, dass gerade in der Zeit der Reformation mehrere Völker Europas auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Wohlstandes sich befanden, von dem sie nachher entweder wieder herabsanken, oder der wenigstens in dieser Weise in der Geschichte nicht wieder anzutreffen ist. So England unter Elisabeth, die Niederlande unter Wilhelm und Moritz von Oranien, Spanien unter Karl V. und Philipp II., die Türkei unter Soliman II. Es ist also überhaupt eine merkwürdige Epochenzeit von großen Entwicklungen auch in der politischen Welt, und die Reformation hängt mit derselben genau zusammen, teils auf sie einwirkend, teils von ihnen freundlich oder feindlich berührt. Wie zur ersten Zeit des Christentums das römische Reich auf dem höchsten Gipfel seiner Macht stand und dennoch von den geistigen Kräften des Christentums überwältigt wurde, so mussten auch die blühenden Reiche zur Reformationszeit es erfahren, dass die geistige Macht der Wahrheit stärker ist als Waffengewalt und Politik, und dass auch die höchste Stufe irdischen Wohlstandes, weltlicher Ehre und Macht die Herzen nicht befriedigen kann, sondern ihre Sehnsucht nach einer geistigen Sättigung nur noch höher steigert. Wenn aber der Sieg der Reformation über das Papsttum nicht so entschieden und vollständig gewesen ist wie der Sieg des Christentums über das Heidentum, so ist dabei zu bedenken, dass in der Reformationszeit dem Glauben nicht bloß heidnischer Unglaube und Aberglaube, sondern ein seit Jahrhunderten als Christentum ausgegebener und dafür gehaltener Aberglaube gegenüberstand, dass mit der Wahrheit nicht ein nackter Irrtum kämpfte, sondern ein solcher, der den Schein der Wahrheit trug und den Gemütern wenigstens eine vermeintliche Befriedigung darbot.

Rückblick und Vorblick

Die Geschichte der Menschheit hat ihr Ziel immer noch nicht erreicht. Alle menschlichen Kräfte haben sich in ihrem Verlauf nacheinander oder miteinander an den Versuch gemacht, den glücklichen Zustand der Welt herbeizuführen; Macht und Freiheit, große Weltreiche und kleine Staatensysteme, Luxus des Reichtums und Unschuld des einfachen Hirtenlebens, Künste und Wissenschaften — alles ist der Reihe nach zum Heilmittel der Menschen vorgeschlagen und angewendet worden und hat nicht geholfen.

Der Sohn Gottes selbst ist vom Himmel gekommen und durch Leiden, Sterben und Auferstehen der Erlöser der Menschen geworden, der in Seinem Geist und Wort, in Seinem Leib und Blut die Quelle eines neuen Lebens und einer völligen Wiederherstellung eröffnete; aber nur Einzelnen ist dadurch wirklich geholfen worden. Die Menschheit im Ganzen liegt noch in ihrem innerlichen Tode und in dem diesem Tode angemessenen elenden äußeren Zustand. Solange nicht die Schwerter zu Pflugscharen gemacht und alle Götzen der Welt in die Löcher der Maulwürfe und Fledermäuse geworfen sind, ist das Reich Gottes noch nicht herrschend auf der Erde. Die gegenwärtige Politik hat sich zwar zur Aufgabe gesetzt, einen solchen friedlichen Zustand herbeizuführen und sucht mit der äußersten Kunst die hin und wieder bei so vielfacher Verwicklung sich schürzenden Knoten zu lösen, aber die Bürgschaft für das Gedeihen ihrer Pläne liegt nicht in ihrer Gewalt, und der dauernde Friede soll nicht durch die Politik, sondern durch die Offenbarung der herrlichen Macht Gottes auf die Erde kommen.

Was das Monarchienbild in Nebukadnezars Traum von der Geschichte der Menschheit geweissagt, das ist nun alles in Erfüllung gegangen, bis auf den Stein, der es zerschlagen und dann zum großen, die ganze Welt füllenden Berge werden soll. Das haben wir noch zu gewarten. Die Heiligen des Höchsten müssen noch das Reich einnehmen, und was den Propheten schon längst von diesem Reich Gottes auf Erden vorhergesagt, muss vollständig eintreffen. Die bisherige Geschichte der Welt und der christlichen Kirche ist nur Vorbereitung darauf. Es lag gar nicht im Plane Gottes, schon in der Periode von der ersten zur zweiten Zukunft Christi ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit auf Erden einzurichten; es sollte eine Zeit des Kampfes sein, und die selige Friedenszeit wird erst beginnen, wann Christus selbst wieder kommt. Vorher aber muss es nach dem Worte Gottes noch aufs Äußerste kommen. Es wird einer erscheinen, der allen Wünschen der Völker Befriedigung verheißt und dem sie alle anhangen werden. Der wird geistliche und weltliche Gewalt vereinigen, das Papsttum stürzen und sich selbst für den Messias ausgeben, alle Anhänger des wahren Christus aber vertilgen. Durch die Erscheinung Christi selbst wird ihm und seinem Anhang ein Ende gemacht werden, und dann wird das Volk Israel in sein altes Erbland zurückgerufen und zu Christus bekehrt, den neuen Mittelpunkt der Geschichte bilden. Von ihm wird dann Licht auf alle Nationen ausgehen; und der Fürst der Finsternis, der dann gebunden wird, wird sie nicht mehr zum Bösen versuchen können. Das ist die Entwicklung der Weltgeschichte zu ihrem Ziele, wie das Wort Gottes sie festsetzt. Jeder andere Weg und jedes andere Ziel, wovon die Menschen reden, ist leere Träumerei. Wie lange es noch bis zu dieser Entwicklung anstehen wird, darüber gibt uns das Wort Gottes keinen Aufschluss, sondern verweist uns auf die Zeichen der Zeit. Wer diese nicht selbst bemerkt, dem würde es wenig helfen, wenn man ihm auch im einzelnen zeigen wollte, auf was sie in unseren Tagen deuten.

Über die prophetische Betrachtungsweise der Geschichte, wie sie in der Heiligen Schrift enthalten ist

Der in der obigen Darstellung befolgte Grundsatz, das Volk Israel als das wichtigste der Völker und seine Geschichte als den Kern der Weltgeschichte aufzufassen, wird durch die prophetische Betrachtungsweise der Heiligen Schrift vollkommen gerechtfertigt. Denn während dieselbe ausdrücklich nicht bloß die Geschichte der Israeliten, sondern das Schicksal aller Nationen in den Kreis ihrer Betrachtung zieht, setzt sie doch dasselbe fortwährend in Beziehung zu Israel und übergeht ganz diejenigen Partien der Geschichte, in welchen eine solche Beziehung nicht stattfindet. Wäre die Bibel ein bloß menschliches Buch, so würde man diese Methode einer nationalen Engherzigkeit und Befangenheit ihrer Verfasser zuschreiben. Weil wir sie aber als ein göttliches Buch zu betrachten haben, das eine Offenbarung Gottes an alle Menschen enthält, so muss sie vorweg als richtig anerkannt und jeder bibelgemäßen Behandlung der Geschichte zugrunde gelegt werden. Wenn die Weissagungen der Propheten nicht anders als wörtlich verstanden werden können, ohne der größten Willkür und Unsicherheit bei der Erklärung Raum zu geben, so ist leicht nachzuweisen, dass dieselben von der Zeit zwischen der ersten und zweiten Zukunft Christi beinahe gar nichts sagen, und auch von der ersten nur wenig. Aber selbst in den Stellen, wo Seine Zukunft ins Fleisch unzweifelhaft angedeutet ist, wird gewöhnlich sogleich auf Seine Zukunft in der Herrlichkeit oder auf die damit verbundenen Umstände und Zustände übergegangen, ohne auch nur von fern einen Wink über das zu geben, was zwischen beide fällt. So zum Beispiel in der bekannten Weissagung Mich. 5, wo im ersten und in der ersten Hälfte des zweiten Verses offenbar von der Geburt des Messias die Rede ist, aber schon in der zweiten Hälfte des Verses 2 und in den folgenden Versen unverkennbar von der mit der zweiten Zukunft verbundenen politischen Wiederherstellung des Volkes Israel. Stellt man sich das Schauen der Propheten als ein perspektivisches vor, so muss die ganze Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Herrn als eine tiefe Schlucht gedacht werden, welche ihren Augen verborgen blieb. Dieser Umstand lässt sich nur dadurch erklären, dass die Weissagungen sich an die Geschichte des Volks Israel, als des Hauptvolkes, halten und somit die Zeiträume, in welchen dasselbe keine Geschichte hat, weil es zerstreut ist, überspringen. Nur so wird es auch begreiflich, warum in der bekannten Weissagung Dan. 9, 24—27, nachdem schon die Ausrottung Christi und die Zerstörung Jerusalems erwähnt worden, noch einmal von einer Jahrwoche die. Rede ist, für die sich in der Geschichte der Vergangenheit durchaus nichts der Weissagung und ihrer Ordnung Entsprechendes findet. Die 62 Wochen reichen nach Dan 9, 26 offenbar bis zur Zerstörung Jerusalems, und mit dieser hat die Geschichte des Volks Israel als eines Ganzen und die Geschichte der Stadt als einer heiligen ein Ende genommen. Somit kann nach obigem Grundsatz der prophetischen Betrachtungsweise die Erfüllung des 27. Verses nur in eine Zeit fallen, in welcher das Volk Israel wieder zu Gnaden angenommen ist und wieder als Volk Gottes und seine Stadt als eine heilige betrachtet werden kann. Damit stimmt genau überein die Hinweisung Jesu auf diesen Vers, Mat. 24, 15, in einem Zusammenhang, wo Er weislich nicht von der Zerstörung Jerusalems, sondern von Seiner zweiten Zukunft und den derselben vorangehenden Ereignissen redet. Jede andere Erklärung jener Danielschen Weissagung muss sich notwendig in die größten Schwierigkeiten und Willkürlichkeiten verwickeln.

Ein anderes ist es mit solchen Weissagungen, welche zwar im Neuen Testamente auf den Anbruch der messianischen Zeit angewendet werden, aber nach dem Zusammenhang bei den Propheten selbst so unwidersprechlich auf die zweite Zukunft Christi gehen, dass man sie durchaus nicht als schon vollständig erfüllt betrachten kann. So muss zum Beispiel Maleachi 3, 1 wegen V. 2 u. ff., wenn man nicht alles aufs willkürlichste in figürliche Rede verflachen will, notwendig von der zweiten großen Erscheinung Christi verstanden werden, was Er auch selbst Mar. 9, 12 bestätigt. Aber der Vorläufer der ersten Zukunft Christi war ein Vorbild von dem Vorläufer der zweiten, und darum wird die Weissagung auch auf ihn angewendet. So wird die Weissagung Joel 3, 1-5 von Petrus auf die Erscheinungen am Pfingstfest angewendet; bei dem Propheten ist offenbar von der zweiten Zukunft Christi die Rede, denn nur diese kann „der große und schreckliche Tag des Herrn“ genannt werden. Aber die Erfüllung hat damals in Jerusalem angefangen und wird nach der langen Unterbrechung, durch welche das Volk Israel außer Wirksamkeit gesetzt ist, fortgesetzt werden. In der Rechnungs- und Anschauungsweise der alttestamentlichen Prophetie wird diejenige Zeit, in welcher das Volk Israel seine Geltung verloren hat, gar nicht in Anschlag gebracht und höchstens im Vorübergehen flüchtig mit einem Wort angedeutet, wie Dan. 9, 26 die achtzehnhundertjährige Periode von der ersten bis zur zweiten Erscheinung Christi als eine Zeit „des Streites“ bezeichnet wird. Den Zeitraum, der den Heiden gegeben ist, haben die Propheten nicht berücksichtigt; in ihren Gesichten und Weissagungen ist die doppelte Zukunft Christi selten unterschieden, meistens von der zweiten allein die Rede, und wo die erste erwähnt ist, folgt unmittelbar auf sie die Entwicklung des herrlichen Reiches, das erst in der Zeit des Sieges, nicht in der Zeit des Streites, errichtet sein wird. Es ist darum nicht zu verwundern, dass die Juden zur Zeit Jesu nicht allein, sondern auch Seine Jünger selbst die Errichtung des Reiches der Herrlichkeit sich so nahe dachten und dass auch die ersten Christen, ehe durch die Offenbarung Johannis das Geheimnis der Zeiten kundgemacht wurde, das Kommen des Herrn zum Gericht in Bälde erwarteten; denn sie standen auf dem Grunde der alttestamentlichen Propheten, deren Weissagungen durchaus nichts anderes erwarten ließen. Auch über diejenigen Stellen in den apostolischen Schriften, wo die Christen immer auf die Nähe des Herrn verwiesen werden und von der letzten Stunde die Rede ist, wird durch diese Betrachtungsweise Licht verbreitet. Wenn der Zeitraum, der den Heiden gegeben ist, bei der Berechnung ausfällt und die Siegesperiode unmittelbar an die Zerstörung Jerusalems angeschlossen wird, so musste die Zeit der ersten Ausbreitung des Christentums als eine Schlusszeit angesehen werden, und erst die Offenbarung Johannis brachte in die Zeitordnung ein helleres Licht, das freilich auch von den wenigsten begriffen wurde. Die Apokalypse füllte die Lücke aus, welche in den Propheten übrig geblieben war, und verkündete die Erfolge, welche durch die Erhebung des Menschensohnes zum Throne Gottes und die Übergabe der Regierungsgewalt in Seine Hände in der Zeit des Kampfes sich nacheinander entwickeln sollten. Durch Christus kam eine neue Macht des Guten in die Welt, mit welcher die vorher fast ungehinderte Macht des Bösen, der Finsternis, in den Kampf trat; die Geschichte der christlichen Kirche und der von ihr berührten Menschheit ist die Darstellung dieses Kampfes. Wann aber Christus zum zweiten Mal kommt, dann wird die Macht der Finsternis vertilgt und die Zeit der Herrschaft des Guten beginnt. Dies ist die Betrachtungsweise der Heiligen Schrift, deren Wahrheit sich auch durch die kommenden Ereignisse der Weltgeschichte rechtfertigen wird.

Gedanken zur Weltgeschichte von Johann Christoph Blumhardt
Gotthelf-Verlag Zürich
Vorliegendes Büchlein enthält eine kleine Auswahl des Buches
Die Allgemeine Weltgeschichte nach biblischen Grundsätzen,
bearbeitet für nachdenksame Leser
von Joh. Chr. Blumhardt, anonym im Jahre 1837 herausgegeben durch den Calwer Verlagsverein (VIII, 373 S.).
Die Teile wurden so ausgewählt, dass nach ihnen der biblische Blick Blumhardts in die Weltgeschichte ersichtlich ist.

Es wird jedem Leser deutlich sein, dass Blumhardt nicht die Absicht hatte, eine Weltgeschichte nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu schreiben; seine Darstellung ist zeitgebunden.

Darin aber beruht noch heute der Wert seiner Geschichtsbetrachtung, dass er dabei der verborgenen Geschichte des Reiches Gottes nachgeht und uns anregt, auch unsererseits die Zeitereignisse in gleicher Weise anzuschauen.

1. Auflage 1947
Gotthelf-Verlag Zürich
Druck: Christliche Vereinsbuchhandlung Zürich

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