Baumgarten, Michael - Jesus unser Vorbild im Gebrauch der heiligen Schrift.

Baumgarten, Michael - Jesus unser Vorbild im Gebrauch der heiligen Schrift.

Zur Eröffnung der schleswig-holsteinischen Pastoralconferenz in Schleswig am 6. August 1846

Sei mir gegrüßet, geliebte Brüder in Christo, die Ihr von allen Seiten unseres Landes Hieher zusammengekommen, damit wir uns hier durch gegenseitige Mittheilung in unserm großen, gemeinsamen Werke stärken und fördern. Obwohl ein anderer Ort für unsere Zusammenkunft bereits ausersehen und bestimmt war, so hat es sich dennoch so gefügt, daß wir abermals hier in Schleswig uns versammeln mußten, Ist es nicht, als sollten wir dadurch erinnert werden an den schönen und herrlichen Anfang unseres heiligen Werkes und Amtes in diesem Lande, der eben von hier ausgegangen ist, und hier seine tausendjährige Spur zurückgelassen hat?1) Und wie sehr ist diese Zurückweisung, diese Erinnerung gerade jetzt an der Zeit! Denn eben jetzt läßt es sich auch unter uns so ansehen, als ob die alte heidnische Natur, welche sich eine Zeitlang vor der Liebesmacht Jesu Christi hat beugen müssen, in ihrer ganzen Ungebrochenheit wiederum hervortreten will, und mit Pharao spricht: wer ist der Herr, deß Stimme ich gehorchen soll? Darum lasset uns hinschauen auf den alten Helden, unsern Vorkämpfer, der durch sein Wort und Werk dem fernen kalten und rauhen Norden das Verständniß und Gefühl einer auch das Todte und Erstarrte belebenden Liebe Gottes aufgeschlossen hat. Wir wissen ja auch nicht bloß von seinem äußerlichen Leben und Wirken, sondern es ist uns auch vergönnt, in sein reiches Gemüth, aus welchem sein großes Lebenswerk hervorgegangen ist, hineinzuschauen. In seinem Herzen lebte und webte eine große Fülle von göttlichen Gestalten und Bildern, von heiligen Gedanken und Erinnerungen; aber in seinem letzten, heißesten Kampfe waren es wenige einfache Worte, an welche er sich mit der ganzen Kraft seiner Seele anklammerte, und welche ihn als Stecken und Stab in dem dunkeln Thale trösteten; diese wenigen Worte warm nicht aus dem Schatze seines eigenen Herzens, sondern aus dem Buch der heiligen Schriften.. Wenn wir nun den Kampf des heiligen Ans gar aufnehmen und den Sieg gewinnen wollen, womit er gekrönet ist, so müssen wir. auch die Waffe führen, welche sich ihm als dir beste bewiesen hat; wir müssen, so begabt und erfahren wir auch immer sein mögen, doch an der heiligen Schrift den letzten unwandelbaren Halt haben. Ja, das ist es, was ich Euch, lieben Brüder, ans Herz legen will, damit unser Beisammensein gleich auf den rechten Grund hingestellet werde. Aber weit höher noch, weit herrlicher noch stehet und strahlet das Vorbild, an welchem ich Euch diese ausschließliche Bedeutung und Wichtigkeit der heiligen Schrift klar und gewiß machen möchte. Diese Stätte und diese Zeit erinnert uns an den Anfänger der evangelischen Predigt hier in unserm Lande; er selber aber, der Diener, erinnert an seinen Herrn, den Anfänger und Vollender des Glaubens selber. Und nicht nur der treue Knecht Christi, auf welchen wir hinblicken, zeigt uns durch seinen Vorgang in der heiligen Schrift die beste Wehr und Waffe: dasselbe erkennen wir in noch weit lehrreicherer und ergreifenderer Weise in dem Beispiele seines und unsers Herrn. Ich meine hier nicht, daß Christus uns über die Wichtigkeit der heiligen Schrift belehrt, auch nicht, daß er die hohe Bedeutung derselben zeigt, indem er durch ihre Anwendung Andere belehrt und ermahnt, sondern das meine ich, daß unser Herr die heilige Schrift für sich selber gebraucht, aus der heiligen Schrift für sich selber Stärkung und Erbauung schöpft. Wer ihn noch irgend vermag einen Herrn zu nennen, für den kann es keine nachhaltigere Empfehlung der heiligen Schrift geben, als dieses all unsere Selbstweisheit, Zweifelsucht, Trägheit, Unwissenheit tief beschämende Exempel. Vernehmet nun dasjenige Wort, in welchem uns dieses Exempel unsers Heilandes am klarsten vor Augen gestellt wird.

Text: Matth. 4, 1-11.

Der Zusammenhang, in welchem wir diese Geschichte finden, berechtigt und verpflichtet uns, etwas in hohem Grade Wichtiges und Eigentümliches hier zu erwarten. So eben ist der Herr getauft worden, hat also so eben die Weihe zu seinem Amte erhalten; aber nicht bloß in einem äußerlichen Zusammenhange mit dieser Salbung für sein Amt, auch im innerlichen Zusammenhange mit derselben steht die verlesene Erzählung. Denn derselbe Geist, mit dem er gesalbet ist, führet ihn in die Wüste, damit er versucht werde; das hier Erzählte sollen wir also als das erste Werk ansehen, das unser Herr in seinem Amte angefaßt und ausgeführt hat. Wenn nun schon der bewußte Anfang einer amtlichen Wirksamkeit an sich etwas höchst Bedeutungsvolles und Lehrreiches hat, so läßt die Eigentümlichkeit eben dieses Anfanges noch tiefer in das Innere des Herrn hineinschauen. Das erste Werk seines Amtes war nämlich, daß er die Versuchung über sich ergehen ließ und siegreich bestand. Versucht wird der Mensch, damit offenbar werde, was in ihm verborgen ist; denn der Herr versuchte Israel in der Wüste, heißt es 5. Mos, 8, 2, daß kund würde, was in seinem Herzen wäre. Das innere Geheimniß des Herzens ist nämlich für gewöhnlich mit Manchem umgeben, wovon man nicht gewiß sein kann, ob es dem Menschen wirklich angehört oder nicht; darum wird der Mensch in der Versuchung von diesem Aeußerlichen entkleidet, und ganz auf sich selber hingestellet, in dem Maße, daß Gott selber ihn verlasset, wie es von Hiskia in der Versuchung gesagt wird (2. Chron. 32, 31), In der Versuchung entzieht Gott dem Menschen jede andere Unterlage, und giebt ihn der ihm anerschaffenen Freiheit und Selbstentscheidung anheim, so daß nun zum Vorschein kommen muß, was der Mensch aus sich selber will; und das ist eben sein innerstes und eigentlichstes Wesen. Wird nun Jesus versuchet, so muß das, was von ihm aus dieser Zeit berichtet wird, ganz vorzugsweise als sein Eigenthümlichstes angesehen werden. Wir können es also aus dem genannten zwiefachen Grunde nicht stark genug betonen, daß uns diese Erzählung von dem Siege Jesu in der Versuchung, als dem ersten Werke seines Amtes, in das Geheimniß seines verborgensten Lebens einen Blick eröffnet. Was ist es nun, das sich uns zeigt? So eben hat er empfangen den heiligen Geist ohne Maß, derselbe ist auf ihn leibhaftig hernieder gekommen, um auf ihm zu bleiben. Wird er nicht aus dieser Geistesfülle nehmen und reden? Nichts weniger, als dieses. Unter Allem, was er antwortet, ist nur ein kurzes Wort aus seinem Eigenen entnommen, nämlich das letzte Triumphwort; alles Andere ist von außen her angeeignet und wird jedesmal als ein Solches anerkannt und ausgesprochen: es sind Worte der heiligen Schrift, welche jedesmal mit der ausdrücklichen Erklärung: es stehet geschrieben, eingeleitet werden. Wie aber sollen wir dieses lösen? Wir müssen erwarten, das Allerinnerlichste, das Allergeistigste zu vernehmen, und siehe, wir hören ein fremdes geschriebenes Wort! Dieses Räthsel weist uns zuerst in die Vergangenheit Jesu hinein. Nach seinem ewigen Wesen hatte unser Herr nicht bloß alle Erkenntniß und Weisheit, sondern er selber war ja das Wort Gottes, in welchem der ewige Vater sich selber erkannte und liebte; er war ja die Weisheit, die im Anfang vor Gott spielte, und welche die Werkmeisterin aller Creaturen wurde und ihre Lust hatte an den Menschenkindern. Alles dessen hat er sich begeben; auch dieses seines eigensten Besitzthums hat er sich entäußert und ist auch in diesem Stücke arm geworden, und wollte nicht anders wissen und erkennen, als in der Weise des Menschen; durch Lernen und Erfahren wollte er Alles wiedergewinnen (Hebr. 5, 8), was er aus Liebe hingegeben hatte. Das Wort der ewigen selbstständigen Weisheit und göttlichen Selbstbewußtheit ist eingegangen in die Welt, das Reich der Abhängigkeit, ist gekommen in die Menschheit, das Gebiet der bloßen Empfänglichkeit für das göttliche Wesen. Gin Kindlein ist er geworden und hat, sowie an Alter, auch an Weisheit zugenommen. Wer möchte nicht hineinschauen in das Geheimniß dieses Zunehmens und Wachsens an Weisheit! Es ist dafür gesorgt, daß wir in dieses Geheimniß einen Blick hineinwerfen können. Aus der Mitte dieser Entwickelung ist uns ein Wort überliefert, welches ohne Zweifel als ein entscheidendes angesehen werden soll, In diesem Worte spricht der Knabe sein ausschließliches Wesens- und Liebesverhältniß zu seinem himmlischen Vater mit völliger Klarheit und Bestimmtheit ans. Zu diesem Verständniß und Worte gelangte er, als er zum ersten Male die heilige Pilgerfahrt machte, als er zum ersten Male das Osterfest vollständig feierte und dadurch in die heilige Vergangenheit Israels auf das Lebendigste versetzt wurde (s. 2. Mos. 12, 26. 27; 13, 8. 14), als er zum ersten Male Jerusalem, „die Stadt des großen Königs“ (s. Matth. 5, 33) schaute, als er zum ersten Male den Tempel Jehovas betrat und den auf dem Stuhle Mosis Sitzenden zuhörte. Der Knabe war aufgewachsen in einer Umgebung, die nicht bloß auf das göttliche Werk der Schöpfung und Erhaltung hinwies, sondern in der auch Alles, was eine geschichtliche Spur an sich hatte, Gottes Offenbarungs- und Erlösungswerke predigte. Die Namen der Städte und Berge, die Einrichtungen und Gewohnheiten des häuslichen und öffentlichen Lebens, die Erzählungen der Alten (s. Ps. 78, 3) und Erinnerungen des Volkes leiteten die Seele des wißbegierigen Kindes zu den Geheimnissen Gottes. Was Wunder, daß der Knabe sich da, wo sich die heilige Vergangenheit und Gegenwart des erlösenden Gottes am deutlichsten offenbarte, am mächtigsten angezogen fühlte! Aber die Seele, welche in dem Heiligthum Gottes mit aller Gewißheit ihre eigentliche Heimat erkannte, stehet scharf und läßt sich durch halbe Wahrheit nicht befriedigen. Da er nun nicht verkennen konnte, daß auf Alles, was der fortgehenden Einwirkung menschlicher Vorstellung und Darstellung ausgesetzt war, die Macht des Irrthums Einfluß gewinnt, daß selbst das Wort der öffentlichen Lehre, das den Knaben sonst mehr, als alles Andere, erfaßte, am wenigsten von dieser Trübung und Entstellung verschont geblieben war: so mußte in ihm das Verlangen nach einer völlig sicheren und untrüglichen Richtschnur der göttlichen Wahrheit entstehen. Eine solche ersah er sich mit demselben sicheren Blick, der in dem Heiligthum Gottes seine Heimat erkennt, in der heiligen Schrift, in welcher die göttliche Offenbarung aller störenden Einwirkung menschlicher Willkühr entnommen ist. Nun versenkte er all seine Triebe nach Erkenntniß in dieses heilige Buch, und nachdem er von Andern so viel gelernt, daß er dasselbe lesen und verstehen konnte, ging er mit demselben in die Einsamkeit, wie es sich grade mit einem Buche leicht thun läßt; denn nicht in den Schulen hat er die Schrift gelernet (s. Joh. 7, 15), sondern für sich in ungestörter Stille, Hier hat er gesehen und gehöret von seinem himmlischen Vater, hier hat er von ihm gelernet (s. Joh. 8, 26. 28. 38. 40), gelernet seinen Willen zur Erlösung Israels und aller Heiden durch den, welchen er gesandt; denn hier hat er vorgezeichnet gefunden die Bahn, welche er durchwandeln sollte. Daher spricht er am Anfange dieser Laufbahn: Siehe, ich komme, in der Buchrolle stehet über mich geschrieben (s. Ps. 40, 8; Hebr. 10, 7), und dieses Bewußtsein von der heiligen Schrift, als der das Ganze nicht nur, sondern auch alles Einzelne bestimmenden Richtschnur seines Lebens, begleitet ihn bis in seinen letzten Kampf hinein; denn Johannes schreibt: Da nun Jesus wußte, daß Alles vollendet war, was geschrieben stehet, sprach er: mich dürstet (Joh. 19, 28). Denn nicht sowohl einzelne Worte waren es, sondern die ganze Reihe der göttlichen und menschlichen Thatsachen, welche er in der heiligen Buchrolle geschrieben fand, in welchen er als in einem von Gott selber entworfenen und ausgeführten Vorbilde sein ganzes Werk vorgezeichnet sah und seiner Seele einprägte. Er ist der wahre König Israels, der nicht bloß das Gesetzbuch las und lernte, sondern dergestalt in sich aufnahm, daß er niemals, weder zur Rechten noch zur Linken gewichen ist (vgl. 5 Mos. 17, 18-20). Nachdem er so in der Zeit seiner stillen Verborgenheit sich in die Schrift hineingelebt hatte, so steht ihm jetzt, da er zum ersten Male in sein öffentliches Werk eintreten soll, die Schrift ganz besonders lebendig vor der Seele, und da der Geist ihn in die Wüste führt, so macht dieser ihm aus der heiligen Geschichte und Schrift die Bedeutung dieser Wüstenführung klar. Der Geist, erinnert ihn, wie er in seiner ersten Kindheit, gleich dem Volke Israel, aus dem Lande Canaan nach Aegypten habe flüchten müssen, wie er aber nach dem Vorgange Israels des erstgebornen Sohnes Gottes (s. 2. Mos. 4, 22. 23) aus Aegypten zurückgerufen sei (s. Matth. 2, 15); daß Israel ferner im rochen Meere getauft worden sei (s. 1. Kor. 10, 2), um nun als der Knecht Jehovas dazustehen und sein Werk auszuführen (s. Ps. 105, 43-45), und daß dieser Knecht Gottes sofort nach der Taufe in der Wüste versucht werden mußte (s. 5. Mos. 8, 2). Da nun aber Israel in dieser Versuchung nicht bestand, und also noch nicht der rechte Knecht Gottes war, so mußte die Versuchung von neuem aufgenommen und vollendet werden. Denn der Knecht hat sollen wieder gut machen, was verschuldet worden war; darum mußte er ebenda anfangen, und anfassen, wo die Geschichte der Menschheit in Stillstand und Rückgang gekommen war. Sollte aber der Knecht Gottes als der zweite Mensch durch eine zweite Versuchung herstellen, was in der ersten Versuchung verloren gegangen, so mußte er dahin treten, wohin die verlorene Menschheit gerathen war, er mußte nicht wieder im Garten, sondern in der Wüste versucht werden; und damit die zweite Versuchung der ersten ganz entsprechend würde, mußte auch hier der Versucher leibhaftig erscheinen. Nachdem nun 40 Tage in der Wüste vergangen waren, und die Versuchung sich auch durch dieses Zeichen als die Wiederholung und Vollendung der 40jährigen Versuchung Israels in der Wüste erwiesen hatte, ward durch die leibhafte Erscheinung des Versuchers alle Macht der Versuchung, welche in den 40 Tagen lag, noch einmal zusammengefaßt.

Die Hineinführung des Geistes in die Wüste ist also eine Hineinführung in die heilige Schrift, so weit dieselbe ihm seinen Versuchungsstand in der Wüste in das rechte und göttliche Licht stellte. Seine Betrachtungen waren vornämlich Gottes Zeichen und Wunder in der „grausamen Wüste“ und des Volkes Schwachheit und Widerspenstigkeit, jenes war ihm Trost, dieses war ihm Warnung; in das Anschauen dieser großen Thaten und Offenbarungen Gottes, welche auf dem dunklen Hintergrunde der menschlichen Thorheit und Verkehrtheit um so herrlicher strahlen, lebte er sich so hinein, daß er 40 Tage der Speise entrathen konnte, gleich wie Mose, da er die göttlichen Erscheinungen schaute. Aus diesem Zusammenleben mit der heiligen Schrift, dem früh begonnenen und bis zur Gegenwart fortgesetzten, erklärt sich das Räthsel, daß, wie Jesus sein Innerstes offenbaren will, er sich auf eine Schrift beruft; denn sein Innerstes ist mit dieser Schrift eins geworden, und daß er sich in allen drei Antworten auf eine und dieselbe Gegend der heiligen Schrift bezieht: denn daß alle drei Schriftstellen aus dem Wüstenzuge Israels entnommen sind, kommt einfach daher, weil er in dieser Geschichte gerade jetzt im vollen Sinne des Wortes seine eigene Geschichte erkannte. Was nun aus einem solchen Zusammenleben und Einswerden mit der heiligen Schrift erwachsen ist, zeigt uns die Geschichte der Versuchung, Wir müssen uns nur hüten, zu meinen, als sei es mit der Versuchung und mit dem Kampfe nicht ganzer und wirklicher Ernst gewesen.

Die erste Versuchung geht auf sein leibliches Bedürfniß. Nach 40tägigem Fasten hungerte ihn; nun fehlt es auch nicht Speise, denn der Versucher hat Recht, daß die Steine sich ihm sofort in Brod verwandeln müssen; wenn Hunger und Brod zusammen sind, so pflegen die Menschen zu essen, warum isset nun Jesus nicht, zumal da er dazu aufgefordert wird? Ihm fehlet noch gerade die Hauptsache: aus der Geschichte Israels hat er erkannt, daß der Knecht Gottes nicht sowohl von der irdischen Speise, sondern von dem himmlischen Manna genährt wird; dieses Manna, das gestattende segnende Wort vom Himmel: es ist genug, dein Fasten hat des Menschen Gelüsten gut gemacht, fehlet ihm noch. Wie er seinem Durst am Kreuze erst Befriedigung gestaltete, als er aus der Schrift wußte, daß Alles vollendet war, so wartet er mit seinem Hunger, bis die Engel vom Himmel zu ihm treten und ihm dienen. Die ganze Macht des natürlichen, an sich unschuldigen Triebes drängt er zurück, und die Stelle des Brodes vertritt ihm das Wort aus dem Munde Gottes, welches die Natur und die Kraft des Manna auslegt; so hat er sich also in die Schrift hineingelebt, daß ihm ein Schriftwort als Speise dient, mit welcher er den durch langes Fasten verstärkten Hunger stillen kann. Die beiden anderen. Versuchungen gehen auf das Amt und Werk des Herrn, und es handelt sich darum, ob er das ihm gebührende Reich auf eine leichte rasche Weise einnehmen will, oder auf eine Weise, dessen Ende kein Mensch und auch des Menschen Sohn nicht absehen konnte. Welches Gewicht an diesen Versuchungen hing, kann immer mehr eingesehen werden, je länger sich das Kommen des Reiches Jesu hinausschiebt. Denn der Weg, welchen er sich in der Stunde der Versuchung erwählte, ist ja eben der, nach welchem er, der mit dem heißesten Verlangen wünschte, daß sein Geistesfeuer sofort sich allenthalben entzünden möchte, nun fast schon 2000 Jahre wartet, und nur erst der dritte Theil der Menschheit hat seinen Namen erkannt. Sowie er in der ersten Versuchung seinen unbedingten Gehorsam offenbart, der in keinem Stücke und keinem Augenblicke von dem himmlischen Vater wollte unabhängig sein, so zeigt sich hier eine Liebe und Geduld, mit der er sein Werk anfasset, für welche uns alles Maaß ausgeht. Dieser Gehorsam, diese Liebe und diese Geduld ist das verborgene Geheimniß des Herzens Jesu gewesen, das durch die Versuchung ans Licht getreten ist. Dieses Geheimniß erscheint nicht in seiner eigentlichen Gestalt, sondern es kleidet sich in das feste und treue Anschließen an die heilige Schrift. So wie er sich der Versuchung menschlich unterzogen hat, so hat er sie auch menschlich bestanden. Da der Herr nach Leib und Seele versucht, und seine ganze Person bis in ihrem innersten Grund erschüttert wurde, da stützte er sich nicht auf die in ihm ruhende Kraft, sondern all seine Kraft wandte er an, nach Menschenweise einen Halt außer sich zu gewinnen. Und das Wort Gottes in der heiligen Schrift ist der Stab, den er in seine Hand nimmt, ist der Felsen, auf den er seinen Fuß setzet. All sein Gehorsam richtet sich dahin, das Wort aus dem Munde Gottes in seinen Mund zu nehmen und damit den quälenden Hunger zu besänftigen; und als er versucht ward, sein heiliges Werk auf weltliche Weise zum Ziele zu führen, hielt sich seine Liebe und Geduld an diejenigen Schriftworte des heiligen Bezirks, in dem sich seine Seele damals erging, welche den Versuchungen einfach und gradezu das Gegengewicht hielten; und an diese Schriftstellen anlehnend blieb er unverrückt, ohne sich auf etwas Anderes auch nur im Geringsten einzulassen. Und weil ihm das Wort Gottes diesen Dienst leisten soll, so braucht er es eben in der Form der Schrift, welche fest und unwandelbar ist. Denn es denke Niemand, wenn der Herr einmal über das andere: es stehet geschrieben, spricht, er sage solches mit Rücksicht auf den Versucher oder auch auf uns; nein, wer in der Versuchung ist, wird auf sein innerstes Selbst zurückgeführt, und müssen ihm die Rücksichten auf Andere verschwinden; darum sagt er jenes Wort zu seiner eigenen Befestigung. Und eben weil der Teufel merkt, daß eben die Schrift seine Kraft ist, so tritt auch er mit einer Schrift auf, aber da zeigt sich recht, in einem wie eigentlichen Sinn der Herr sich an die Schrift anschließt; denn ohne sich nur im mindesten um das gemißbrauchte Schriftwort zu kümmern, bleibt er unverwandt in demjenigen Kreise, in welchen er sich jetzt hinein gelesen, gebetet und gelebet hat. Die erste Versuchung des Menschen begann damit, daß der Mensch von dem Worte Gottes getrennt werden sollte, und dem Verführer gelang seine List. Dadurch vollendet sich nun der Sieg in der zweiten Versuchung, daß des Menschen Sohn als ein Solcher offenbar wird, der die heilige Schrift in sein innerstes Wesen ausgenommen und an der heiligen Schrift seinen festesten Halt hat. - Dieses nun, lieben Brüder ist uns zum Vorbilde geschehen und geschrieben worden. Es bedarf nicht vieler Worte, um zu zeigen, daß dieses Vorbild uns ebenso sehr demüthigen, als erheben muß. Auch wir, sei es nun, daß wir bereits mit dem Amte der Verkündigung bekleidet sind, oder dasselbe noch suchen, auch wir haben ein Werk, für welches die heilige Schrift gleichfalls in einem besonderen Sinne Richtschnur und Vorbild enthält; außerdem sind wir die von Natur Irrenden, unser Herr dagegen ist die Wahrheit selber. Aber während seine suchende und fragende Liebe zur Wahrheit, durch die menschlichen, wenn auch die allerbesten Bildungsmittel nicht befriedigt, erst in der heiligen Schrift völlige Genüge und Ruhe fand, lassen wir uns in der Menge des menschlichen Wissens, wenn auch nicht verwirren, doch wenigstens aufhalten, und gelangen mit unserm Fragen und Forschen sehr oft gar nicht bis an die heilige Schrift. - Es ist wahr, es hat sich Vieles zwischen uns und der heiligen Schrift aufgethürmt, es ist manche Kenntniß, manche Fertigkeit zu erwerben, manche Bedenklichkeit, mancher Zweifel zu beseitigen, ehe wir in das Heiligthum eintreten können; aber wäre nur der rechte Drang der Liebe vorhanden, so wären die Schwierigkeiten bald überwunden. Aber daß es daran fehlet, zeigt der Erfolg. Die Klage ist allgemein, daß nicht bloß in der gegenwärtigen Christenheit, sondern vornämlich auch unter den Schriftgelehrten, die Kunde der heiligen Schrift sehr lückenhaft und unsicher sei, und diese Klage ist gegründet. Wie viele, nicht etwa Verse, sondern Capitel, ja Bücher der heiligen Schrift bleiben von den meisten unter uns ungelesen, geschweige daß sie angeeignet würden! Und in denjenigen Büchern, welche für die wichtigsten gehalten werden, wie wenig wird in der Regel der Zusammenhang der einzelnen Theile beachtet! Und um das Nächste und Einfachste zu nennen, wie wenig genau und sicher ist oft das Wissen derjenigen Stellen, welche wir als Kernsprüche ansehen. Wer auch in diesen Stücken sich etwa vor Anderen auszeichnet; wenn er hinstehet auf unsern einigen Meister, wie er von heiliger Wißbegierde getrieben, ohne Hülfe der Schule, zu solcher Schriftkenntniß gelangte, daß die Schriftgelehrten sowohl, als das Volk, sich verwunderten, und er in den Stunden der tiefsten Erschütterung jedesmal das schlagende Wort zu finden wußte, so wird er sich doch seines matten Fleißes und seines ihm oft im rechten Augenblicke ausgehenden Wissens schämen. Aber viel schlimmer, als der Mangel des Wissens in der heiligen Schrift, ist der Nichtgebrauch dessen, was aus der Schrift gewußt wird. Wenn wir sehen, daß die Schrift dem Sohne Gottes selber zur Stütze gedient hat, so können wir erst ermessen, wie groß und schwer der Nichtgebrauch der heiligen Schrift bei uns ist. Ein jedes Wort Gottes, das wir kennen, sollte in uns stehen wie eine feste unerschütterliche Säule, an der wir uns zu jeder Zeit aufrichten und halten könnten. Wie viele Gottesworte liegen aber in unserm Herzen wie niedergeworfen, entweder durch Nichtachtung oder durch willkührliche Umdeutung, aber am allermeisten durch den Hochmuth, der sich mehr auf seine eigenen Gedanken verlassen, als vor dieser göttlichen Autorität beugen will! Dieser Hochmuth ist der eigentliche Grundfehler in unserer Stellung zur heiligen Schrift. Es ist die Rede ausgegangen, als sei es ein niederer Stand im Christenthum, sich vor sich oder auch Anderen auf die Autorität der heiligen Schrift zu verlassen. Wir Alle mit einander, lieben Brüder, lasset es nur gestehen, kennen diese Stimme nicht bloß als eine Stimme unsrer Zeit, sondern auch unserer eigenen Neigung; aber demüthiget Euch vor diesem Exempel, die Ihr sehet, wie unser Herr eben in den Augenblicken, da sein Innerstes offenbar werden sollte, gar nichts weiter zeiget, als sein unverrücktes Festhalten an dem, was geschrieben stehet, und was er gelernet, so daß in dieser Unterwerfung unter die heilige Schrift die ganze Fülle seines Gehorsams und seiner Liebe, die sich nachher entfaltete, wie eingeschlossen lag. Aber eben dasselbe Beispiel erhebe uns auch wieder. Denn woran könnten wir mehr erkennen, welch ein Schatz uns anvertraut ist, als daran, daß wir sehen: cm dem geschriebenen Wort, das uns heute noch aufgeschlossen ist, habe sich der Sohn Gottes in der Stunde der Versuchung aufrecht gehalten? Wer fühlte sich nicht gehoben und angetrieben, mit neuem Eifer zu forschen, um auch für sich einen solchen Kreis zu finden, wie ihn Jesus fand; einen heiligen Kreis, in den er sich hinein lesen, beten und leben will, um einen festen Stand zu gewinnen, denn Jeder hat in den weiten Räumen dieses Heiligthums eine Stätte, welche er vornämlich als seine Heimath erfahren soll, eine Geschichte, ein Gleichniß, ein Lied, einen Spruch, dessen Gotteskraft und Wahrheit seiner Seele zumeist einleuchtet, diese Stätte soll sich Jeder erforschen und erfragen und von da aus Zugang zu allen Theilen des heiligen Gebietes gewinnen. Und wer eine solche innere Berührung zunächst mit einem Gottesworte erlebt hat, in dessen Seele erniedrigen sich alle menschlichen Höhen, die eigenen Gedanken und Empfindungen, Anderer Lehren und Urtheile, Richtungen und Erklärungen des Zeitgeistes, und allein hoch und aufgerichtet steht das Wort Gottes.

Wenn sich aber diese falschen Höhen wieder erheben wollen, so blicket nur auf das Vorbild unsers Herrn, das uns vorgehalten ist; ein einzelner heller Blick dahin genügt, daß wir uns wiederum mit Freuden in unsere demüthige Stellung zur Schrift begeben. So wird unser in sich unbeständiges Herz fest werden durch Vereinigung mit dem Wort, von dem nicht ein Titel oder Strich untergehen soll, bis Himmel und Erde vergeht (Matth. 5, 18); und so werden wir bestehen in der Stunde der Versuchung; so sind wir jedesmal des Wörtleins mächtig, welches den Feind schlagen kann. Und dann sind wir fähig, auch die, welche uns anvertraut sind, in die heilige Schrift hineinzuführen, damit sie darin selber heimisch und erfahren werden. Denn es soll kommen die Stunde der Versuchung über den ganzen Erdboden (s. Offenb. 3, 10). Wenn aber unser Vorkämpfer nur mit Hülfe der Schrift seine Versuchung bestehen konnte und wollte, wie viel mehr werden dann Alle, die auf Erden wohnen, wenn sie nun versuchet werden, dieser Stütze bedürfen! Darum lasset uns eilen, damit wir Alles, was uns noch scheidet von der Schrift, beseitigen und nach unserem Theile dazu thun, damit die ganze Christenheit in der Schrift fest gegründet werde, ehe die böse Stunde kommt. - O, Herr Jesu, präge du dein Bild, das Bild deines kindlichen und demüthigen Sinnens und Forschens in der heiligen Schrift, deines glaubensstarken sieghaften Gebrauchs der heiligen Schrift in unsere Seele; laß vor diesem Bilde verschwinden all unsern Hochmuth, all unsere Trägheit, und durch dasselbe jetzt um immerdar uns kräftig ermuntert werden, dir auch in diesem Stücke nachzufolgen. O, laß uns heute damit auf's Neue beginnen, laß uns alle unsere Verschiedenheiten der Entscheidung deiner heiligen Schrift willig und aufrichtig unterwerfen, und eben in solcher, Unterwerfung unsere höchste Kraft und Stärke haben und erfahren, dann wird dieser Tag ein Segen sein für uns und deine Gemeinde, welche du dir durch Demuth und Selbstverleugnung, durch Kampf und Sieg erworben hast. Amen.

Quelle: Baumgarten, Michael - Zeugniß des Glaubens für die Gemeinde der Gegenwart

1)
Hatdebye mit einer sehr alten Kirche in unmittelbarer Nähe der Stadt Schleswig ist der Ort, wo Ansgar seine Wirksamkeit für den Norden eröffnete.
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