Arndt, Friedrich - Die sieben Worte Christi am Kreuz – 6. Predigt.

Arndt, Friedrich - Die sieben Worte Christi am Kreuz – 6. Predigt.

Es ist vollbracht! So ruft am Kreuze des sterbenden Erlösers Mund. O Wort voll Trost und Leben, reize zur Freude meines Herzens Grund. Das große Opfer ist geschehn, das Gott auch mir zum Heil ersehn. Wie viel, mein Heil, hast Du vollendet, als Dir das Herz im Tode brach! Du hast den Fluch hinweggewendet, der auf der Welt voll Sünder lag. Für uns hast Du genug gethan, Gott nimmt uns nun noch gnädig an. Amen.

Text: Joh. XIX. V. 30.
Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach ei: es ist vollbracht! und neigete das Haupt und verschied.

So lange die Erde steht, sind noch nie von menschlichen Lippen Worte ausgesprochen worden, die an Tiefe, Umfang und Gedankenreichthum auch nur von fern mit den Worten verglichen werden können, welche der sterbende Heiland am Kreuze sprach. Insbesondere gehört auch das verlesene Wort zu den wichtigsten unter denselbigen; denn es drückt die Vollendung alles desjenigen aus, was vom Anbeginn der Offenbarungen Gottes der Welt verkündigt und verheißen war; es weist auf alle vorangehenden Jahrhunderte zurück; es deutet auf die fernste Zukunft, ja, auf die schrankenlose Ewigkeit, und umfaßt alle Zeiten und Geschlechter der Menschen. Es enthält die Summa alles dessen, was Gott zu unserm Heile beschlossen und gethan hat, und ist der Grundstein unseres Glaubens, der Anker unserer Hoffnung. Laßt es uns darum mit betender Seele betrachten, damit, wie vom Kreuze herab, so auch aus unserer Betrachtung heraus, uns Heil und Gnade zufließen möge. Es ist das sechste oder vorletzte Wort des Herrn in seiner Todesstunde, und bald hat er vollendet. Wir wollen es nach den beiden Seiten betrachten, die es nicht allein zuläßt, sondern fordert, nämlich als ein Wort, gerichtet 1) an Gott, seinen himmlischen Vater, 2) an seine Brüder auf Erden, die Menschen.

I.

Das erste Vergebung erflehende und vermittelnde Wort des Herrn konnte als solches nur an Gott gerichtet sein: „Vater, vergieb ihnen; denn sie wissen nicht, was sie thun.“ Das zweite verkündigte Begnadigung, und richtete sich an den bußfertigen Sünder: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Das dritte war der Ausdruck der innigsten Kindes und Bruderliebe, und wandte sich an die Mutter und den Jünger. Das vierte stieg wieder zu Gott empor, aber nicht zu Gott als Vater, sondern zu Gott als Schöpfer und Richter, und seufzte stellvertretend im Namen der tiefverschuldeten Menschheit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Das fünfte war dann herab zu den Menschen gesprochen, zu den umherstehenden Wächtern und Kriegern: „Mich dürstet.“ Das siebente oder letzte flog, wie das erste, zu dem ewigen Vater empor: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“ Drei von diesen Worten waren also an Gott, drei an die Menschen gerichtet. Das sechste Wort aber: „Es ist vollbracht“ wandte sich an Himmel und Erde, an Gott und Menschen zugleich, an Alle, die des Hörens und Verstehens fähig waren. Von ihm galt das oft gebrauchte Wort des Herrn: Wer Ohren hat zu hören, der höre. Es war das Siegel der Vollendung auf alles, was Jesus zu Gott und Menschen gesprochen, was er vor Gott für Menschen gethan hatte. Zunächst und vor allem stieg dies Schluß- und Vollendungswort zum Vater empor. Wie alle, die eines gewaltsamen Todes sterben, von einem schrecklich brennenden Durste geplagt werden, und sobald derselbe gestillt ist, zusammensinken und dem Todeskampfe unterliegen: so theilte auch unser Herr diese Erfahrung am Kreuze; ihn dürstete in seiner Kreuzesnoth, und als er den Büschel Ysop genommen hatte mit dem Essig, rief er: Es ist vollbracht. Schon am Abend vorher, nachdem er das Abendmahl eingesetzt hatte und mit den Jüngern aufbrach gen Gethsemane, sprach er im hohenpriesterlichen Gebete: „Ich habe Dich verkläret auf Erden, und vollendet das Werk, das Du mir gegeben hast, daß ich es thun sollte.“ (Joh. 17, 4.) Schon im ersten Lehrjahre, als er am Jacobsbrunnen vor Sichem saß, und sein Leib nicht nur nach dem Wasser des Quells, sondern auch seine Seele nach der Rettung der Seelen der Samariter dürstete, sprach er: „Das ist meine Speise, daß ich thue den Willen deß, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk.“ (Joh. 4, 34.) Ja, schon im alten Testament war prophetisch dem Messias das Gebet in den Mund gelegt: „Deinen Willen, mein Gott, thue ich gern, und Dein Gesetz habe ich in meinem Herzen.“ (Psalm 40, 9,) In gleichem Sinne und gleichem Geiste sprach auch hier Jesus Christus am Kreuze zu Gott, seinem Vater: „Es ist vollbracht.“

Und was war vollbracht und vollendet? Vollbracht waren zunächst alle Weissagungen des alten Testamentes. So eben hatte er die letzte erfüllt: „Sie geben mir Galle zu essen, und Essig zu trinken in meinem großen Durst,“ (Psalm 69, 22.) und in und mit dieser letztern waren denn auch alle früheren erfüllt worden. Alle Verheißungen, die Gott seit den Tagen des Paradieses über die Errettung der Sünder an die Menschheit gegeben hatte, vom Weibessamen und Schlangentöter, vom Abrahamssohn, von dem Löwen aus dem Stamme Juda, von dem Sprößling aus der Wurzel Isais, von dem Orte und der Zeit der Geburt des Allerheiligsten; alle Verheißungen von dem Leiden und Sterben des Sohnes Gottes am Kreuze und von allen einzelnen dabei vorkommenden wichtigen Umständen; alle Vorbilder, Gebräuche, Satzungen und Opfer des alten Bundes waren in Erfüllung gegangen; keine einzige Beziehung und Zusage war mehr unerfüllt geblieben. Christus war geboren worden in Bethlehem von einer Jungfrau; er war aufgetreten, der größte und letzte aller Propheten, und hatte sein Prophetenamt durch Wunder aller Art verherrlicht; er war als König, ein Gerechter und ein Helfer, arm und demüthig, in Jerusalem eingezogen; als Hoherpriester war er in das Allerheiligste eingegangen und hatte eine ewige Erlösung erfunden: das Alles war erfüllt. Es stand geschrieben: er solle für dreißig Silberlinge verkauft, wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt, zu den Ubelthätern gerechnet, Hände und Füße ihm durchgraben werden. Es stand geschrieben: er solle für die Uebelthäter beten, über seine Kleider solle das Loos geworfen und er selbst mit Galle getränkt, er solle um unserer Missethat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen werden. Alles war erfüllt. Versiegelt waren die Weissagungen und Gesichte, und noch einmal ihre ganze Reihenfolge überblickend, die ewigen Rathschlüsse im Himmel und die Vollbringung derselben auf Erden; sich freuend, daß Gottes heiliger Wille vollkommen geschehen und vollendet war, rief Jesus: „Es ist vollbracht,“ und somit ist dies Siegeswort das Schlußwort des Herrn für alle bisherigen Werke und Veranstaltungen seines Gottes.

Vollbracht war sodann aber auch das ganze, in strengem Gehorsam gegen Gott zugebrachte Leben und Leiden des Herrn auf Erden. Er war umhergezogen im Lande und hatte wohlgethan, die Kranken hatte er geheilt, die Unwissenden belehrt, die Heuchler gestraft, die Bekümmerten getröstet, die bußfertigen Zöllner und Sünder aufgerichtet, unsäglichem Elende Leibes und der Seele hatte er ein Ende gemacht, alle Städte und Dörfer waren voll Denkzeichen und lauten, sichtbaren Zeugnissen seiner gottseligen Lehren und Thaten. Ein Gehorsam war geleistet worden, so heilig und vollkommen, daß er im Ueberflusse den Ungehorsam der sündigen Menschen gegen Gott überwog. Jetzt war aber auch sein Leiden vollendet, dieses schwere, unvergleichlich schwere Leiden, dieser Inbegriff alles dessen, was nur Hartes ein Sterblicher zu erdulden vermag. Bald sollte sein Augenlicht erlöschen, seine Lippen erbleichen, sein Haupt sich neigen und die namenlosen Qualen sich schließen, welche Jesus an Leib und Seele erlitten. Die Seelenangst in Gethsemane, die Geißelung, die Verspottung, der sechsstündige Todesschmerz am Kreuze, das fürchterliche Gefühl, von Gott verlassen zu sein in der dreistündigen Finsterniß: das Alles lag hinter ihm; Jesus hatte ausgerungen und ausgekämpft, und war im Begriff, von aller Angst und Qual durch den Tod erlöst zu werden. O wie sich der Arbeiter freut, der des Tages Last und Hitze im Schweiße seines Angesichts getragen hat, wenn die Stunde des Feierabends schlägt, die seinen ermatteten Gliedern Ruhe und Erholung verheißt; wie sich der Wanderer freut, der eine lange beschwerliche Reise zurückgelegt hat, und endlich das längst erstrebte Ziel, die hohen Thürme der Stadt nahe vor sich liegen sieht, wo alle seine Wünsche sich Gewährung versprechen; wie ein Kranker sich freut, wenn nach monatlichen Schmerzen, Entbehrungen und Entkräftungen der Augenblick herannaht, welcher ihn von aller Noth erlösen soll: so mußte sich auch die Seele des Erlösers freuen, als die Stunde schlug, die ihn aus der Angst und dem Gericht entnehmen und in die Herrlichkeit einführen sollte, welche er gehabt hatte, ehe der Welt Grund gelegt war. Und darum war es ein Freudenruf, der Schlußruf über sein ganzes irdisches Leben und Leiden: Es ist vollbracht.

Aber, Geliebte, nie hat Jesus ein Wort gesprochen blos um seinetwillen. So sprach er denn auch dieses Wort nicht um seinetwillen aus, sondern um unsertwillen. Vollbracht war nicht nur sein Leben und Leiden, sondern auch der Zweck seines Lebens und Leidens. Vollbracht war nicht nur die Weissagung des alten Testaments, sondern auch der Inhalt dieser Weissagungen. Vollbracht war - und das ist die Hauptsache - das Werk unserer Erlösung und Versöhnung. Das große Opfer für die Sünde der Menschheit war gebracht auf dem Altar des Kreuzes; der ewigen Gerechtigkeit war genug gethan; die Erlösung von der Schuld, Strafe und Herrschaft der Sünde war erworben; der Tod, die Hölle, der Satan war überwunden. Zu den Füßen des Gekreuzigten lag die alte Schlange, und der Kopf war ihr zertreten, des Gesetzes Fluch war in Segen verwandelt, die große Bürgschaft bezahlt und der Eingang in das Allerheiligste durch das Blut Jesu Christi geschehen. Vollbracht war das Werk, das keines Creatur, kein Mensch und kein Engel, ja alle Menschen und alle Engel insgesammt in alle Ewigkeit nicht hätten ausführen können; denn kein Bruder kann den andern erlösen, noch Gott jemand versöhnen, es kostet zu viel, ihre Seele zu erlösen, daß er es muß lassen anstehen ewiglich. Vollbracht war das Werk, an dem aller Millionen Menschen ewiges Wohl und ewige Seligkeit hanget, auf das viertausend Jahre gewartet hatten und das in alle Ewigkeit den Gegenstand der Lobgesänge aller Geretteten ausmachen wird. Wie durch Eines Sünde die Verdammniß über alle Menschen gekommen, also ist auch durch Eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen. Was dem Gesetz unmöglich war, sintemal es durch das Fleisch, durch die angeborne Standhaftigkeit unserer Natur geschwächt wird: das hat Gott gethan, indem er seinen Sohn sandte in der Gestalt des sündlichen Fleisches und unsere Sünde vernichtete, dadurch daß er ihn als Sünder behandelte; ihn, welcher unsere Sünde selbst geopfert hat an seinem Leibe auf dem Holze, und hat ausgetilgt die Handschrift, welche wider uns war. Kurz, Alles war geschehen, was geschehen mußte, um das heilige Werk der Erlösung zu vollenden, um deßwillen der ewige Sohn Gottes in der Fülle der Zeit Mensch geworden war.

O nun wundern wir uns nicht mehr, wenn die Natur Theil nimmt an diesem für die Menschheit so freudigen Ereignisse, wenn die Erde vor Freude bebt und die Felsen zerbrechen; denn auch ihr stand die Geburt eines neuen Himmels und einer neuen Erde bevor; wenn vor allen Dingen im Augenblick des Verscheidens des Herrn der Vorhang im Tempel zwischen dem Heiligen und Allerheiligsten zerriß von oben an bis unten aus; denn höchst eindringlich für Alle, die sie sahen und hörten, war diese Zeichensprache in der heiligen Stadt. Bis auf Christum hatte der Tempel seine vorbildliche Bedeutung und war sein Allerheiligstes verschlossen, weil die Sünde die stehende Trennung bildete zwischen den Menschen und Gott. Jetzt aber mit dem Vollbringen des Herrn im Tode war die Zeit gekommen, wo der Allerhöchste nicht mehr auf Garizim und in Jerusalem, sondern überall im Geist und in der Wahrheit sollte angebetet werden, und wo kein menschlicher Priester mehr einen unvollkommnen Mittler zwischen Gott und den Menschen bilden sollte, sondern durch das eine Opfer des ewigen Hohenpriesters, Jesu Christi, alle seine Gläubigen, als ein Priesterliches Volk, jederzeit offnen Zugang haben sollten in das Heiligthum und zu Gott selbst. Der Tempel und das Allerheiligste hatten ihre Bedeutung verloren; darum ward der Vorhang hinweggethan.

Doch nicht nur die Erde jubelte und fühlte Auferstehungswonnen durch das Oeffnen der Gräber ihrer Heiligen: auch der Himmel mußte wiederhallen von den Hallelujastimmen der Seligen über das hinandringende große und feierliche Wort: „Es ist vollbracht.“ O wie mag dies Wort durch aller Himmel Himmel geklungen haben! Mit welchem freudigen Zittern mag es vernommen worden sein von den unzählbaren Schaaren der Engel, welche immer gelüstet hatte, hineinzuschauen in das tiefe Geheimniß der Erlösung, und konnten es nicht begreifen! Nur die Hölle vernahm es mit Schrecken; denn dieses Wort verkündigte ihre ewige Niederlage und ihre völlige Ueberwindung. Und so juble denn auch unsere Seele, und segne des großen Ueberwinders Ruhm und Herrlichkeit! und wer noch arm ist, fühle sich reich; wer traurig ist, fühle sich fröhlich; wer befleckt ist, fühle sich rein; wer dem Tode geweiht ist, fühle sich ein unsterbliches Kind Gottes und ein ewiger Erbe des Himmels!

II.

Denn nicht nur hinauf in die Höhe zu seinem himmlischen Vater rief Jesus: „Es ist vollbracht;“ er rief es auch und vornämlich hinunter vom Kreuz auf die Erde zu der ganzen, ohne ihn ewig verlornen, durch ihn aber ewig geretteten Menschheit. Alle, Alle sollten hören die Freudenbotschaft und das Siegesgeschrei aus seinem Munde, und an diesem Worte und der diesem Worte zu Grunde liegenden That sich aufrichten zu Heil und Leben. Es ist vollbracht, rief Christus, und vor den Augen seiner Allwissenheit lagen schon ausgebreitet alle seligen Früchte seines Vollbringens; er sah im Geiste nun schon den Grundstein gelegt zur Predigt des Evangeliums unter allen Völkern, sahe das Reich des neuen Testamentes aufgerichtet und seinen Siegeszug halten über die entsündigte Welt, sahe das Waizenkorn, das in die Erde gelegt war, um zu sterben, aufgehen und hundertfältige Frucht tragen, sahe die Schaaren geretteter Seelen, welche von nun an durch sein heiliges Erlösungswerk dem Dienst der Sünde entrissen, den ungehinderten Zutritt zum Thron der göttlichen Gnade empfangen, erleuchtet, gerechtfertigt, geheiligt, beseligt werden würden; sahe den heiligen Geist nun kommen über die Welt, um sie zu überführen von der Sünde, von der Gerechtigkeit und vom Gerichte: von der Sünde, daß sie nicht glaubten an ihn; von der Gerechtigkeit, daß Christus zum Vater gegangen, und von dem Gerichte, daß der Fürst dieser Welt gerichtet sei, und neue Gesinnungen der hingebenden Liebe, neue Gefühle der Dankbarkeit, neue Bestrebungen des Gehorsams, neue Siege über die Versuchungen, neue Triumphe über den Tod wirken und schaffen in den Herzen der Erlöseten; ja, sahe im Geiste schon die unermeßlichen Schaaren, die ihn suchen, die rührenden Feste, die ihn feiern, die leuchtenden Thränen, die ihm lobsingen, die dankbaren Herzen, die für ihn leben und sterben; sahe auch die Vollendung der Zeiten, den Tag des Weltgerichts, und wie die Erretteten kommen würden vom Morgen und vom Abend, vom Mittag und von Mitternacht, und einziehen in die weiten seligen Räume seines göttlichen Reiches, um ihm, dem Lamme, das erwürget ist, Kraft und Reichthum, Weisheit und Stärke, Ehre und Preis und Lob darzubringen von Ewigkeit zu Ewigkeit. O welch ein Triumphblick in weite Fernen, der in den Worten sich entfaltet: Es ist vollbracht!

Und wie mußte dem Schächer sein, als er das Wort hörte und Jesu Sieg ihm die nahen Paradiesesfreuden verkündigte! Und was mußte Maria fühlen, als sie in dem Klang der Worte schon die Stimme der Vollendung erkannte! Und wie muß uns nun zu Muthe sein, die wir nicht blos in eine dunkle, ferne Zukunft hineinschauen, wie der Schächer und Maria, sondern die wir schon eine lange, reiche Vergangenheit als Auslegung und Bestätigung seines großen Wortes hinter uns haben! Denn was will es uns sagen, dir und mir und jedem Einzelnen unter uns, dies selige Wort Es ist vollbracht? Zunächst ruft es uns zu, daß Jesus Alles vollbracht habe, was zu unserer Erlösung und Vergebung nothwendig war, daß kein Zweifel darüber mehr Statt finden kann, kein Vielleicht mehr aufkommen darf, sondern daß es felsenfeste, unumstößliche Gewißheit ist: es ist vollbracht, das Werk der Erlösung, wir sind versöhnt, unsere Schuld ist bezahlt, unser Tod ist verschlungen in den Sieg; wir sind keine Verdammten mehr, sondern selige Kinder Gottes; der Himmel ist uns nicht mehr verschlössen, sondern geöffnet; Gottes Gerechtigkeit und Liebe ist versöhnt, und nicht nur kann mir Gott nun Alles vergeben, was ich Böses gethan habe, nach seiner unendlichen Liebe, sondern er kann mir auch Alles vergeben nach seiner heiligen Gerechtigkeit; wir sind trotz unserer Sünden um Jesu Willen zu Gnaden aufgenommen, und Gott will uns nicht mehr ansehen in unsern Sünden, sondern in dem Gewande der fleckenlosen Gerechtigkeit Jesu Christi, als seine Auserwählten, Heiligen und Geliebten, als Kinder seiner Lust und ewige Gegenstände seines Erbarmens. Und wir jubeln nicht auf laut und tiefbewegt über diese Gnade? unsere Augen weinen keine Freudenthränen? und wir stürzen nicht nieder auf unsere Kniee und beten den Herrn nicht an und danken ihm nicht unser Leben lang, jeden Morgen und jeden Abend, wo wir gehen und stehen, im Glück und Schmerz, in Noth und Tod? unser Herz kann noch so träg und todt und kalt sein, als wäre das größte Wunder der Liebe nicht geschehen? ja, es kann noch irgend Etwas in der Welt geben, das uns wichtiger wäre, uns lebhafter beschäftigte und unsere Kraft und Zeit dauernder in Anspruch nähme, als das unendliche, uns den ganzen Himmel und die ewige Seligkeit erwerbende Todesleiden unsers Herrn? Ach, die Schuld dieser Herzensträgheit und Kälte liegt an unserm Unglauben!

Das wird uns noch klarer, wenn wir die zweite, noch größere Wahrheit erwägen, die in den Worten liegt: „Es ist vollbracht.“ Sie versiegeln uns nicht nur die Gewißheit unserer Seligkeit, sie versiegeln uns auch die Vollständigkeit unserer Erlösung, daß durch Christum Alles, Alles vollbracht sei, was zu dem Ende mußte vollbracht werden, daß nach keinem Wenn und keinem Aber von Gott mehr gefragt werde, daß mithin nichts mehr nöthig und nichts mehr möglich, vielmehr Alles erschöpft sei, was Gottes Gerechtigkeit an Genugthuungen verlangen konnte, daß wir mithin nicht nur nichts thun können zu unserer Vergebung und Seligkeit, sondern auch nichts mehr zu thun brauchen, gar nichts mehr, sondern Jesus habe bereits Alles gethan. „So halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde, ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben!“ sagt die heilige Schrift, und doch - wollen wir nicht gerecht werden durch den Glauben! Es ist vollbracht, ruft Jesus am Kreuze, und - wir wollen immerdar mithelfen und zum Theil wenigstens unsere Selbsterlöser werden. Es ist nichts Verdammliches mehr an denen, die in Christo Jesu sind, und - wir bilden uns immer ein, es sei noch viel Verdammliches an uns, und geben uns alle Mühe, durch eigne Gerechtigkeit, selbstgefällige Tugend, durch sogenannte gute Werke den Himmel uns verdienen und Gott uns noch wohlgefälliger machen zu können, als er es uns schon um Christi Verdienstes willen ist.

„An mir und meinem Leben
ist nichts in dieser Welt,
was Christus mir gegeben,
das ist der Liebe werth,“

singt Paul Gerhard und ist selig in seinem Glauben, und - wir fühlen es auch wohl, daß er recht hat, und daß wir durch alle Werkgerechtigkeit Gott nicht um ein Haar angenehmer werden können, als wir es schon in Christo sind, und ahnen auch wohl, daß wir mit allem Selbstwerk nicht um einen Schritt weiter kommen in unserer Heiligung und Seligkeit; aber dennoch sträubt sich unser Stolz immer dagegen, möchte neben dem Opfer Christi gar zu gern noch etwas haben, worauf es sich verlassen könnte, und darum werden wir unseres Lebens nicht froh, und kommen aus der Angst nicht heraus, und in die Seligkeit des Christenthums nicht hinein, und können nimmer jubeln:

Das Herz geht mir in Sprüngen,
ich kann nicht traurig sein,
bin voller Freud und Singen,
seh lauter Sonnenschein;
die Sonne, die mir lachet,
ist mein Herr Jesus Christ,
das, was mich singen machet,
ist, was im Himmel ist. -

Bald meinen wir, unsere Sünde sei zu groß, bald, unsere Buße sei zu schwach, bald, unsere Gefühle des göttlichen Friedens seien zu kalt, bald, unsere Heiligung sei zu schlecht, bald, unsere Sündenstrafen seien zu anhaltend, als daß Christi unendliche Gnade das große Sündenmeer unseres Herzens bedecken könnte, O wir Kleingläubigen! wir Ungläubigen! Unserm Vater und unserer Mutter glauben wir auf's Wort, was sie sagen, weil wir von ihrer Liebe und Wahrhaftigkeit überzeugt sind, und unserm Heilande wollen wir nicht glauben, als ob seine Liebe und Wahrhaftigkeit nicht viel größer und sicherer wäre als Menschenliebe und Menschenwort? Unseren Lehrern glauben wir, was sie uns vortragen, und dem größten aller Lehrer und Propheten verweigern wir die An- und Aufnahme seiner Aussagen? Wenn sterbliche Menschen an unsern Geburtstagen uns beschenken, so freuen wir uns über ihre Liebe und nehmen gerührt und dankbar ihre Gaben an; und das höchste und unentbehrlichste Geschenk, das unsere Seelenarmuth deckt und unsere Geistesblöße kleidet, und das die ewige Liebe an ihrem Todestage uns anbietet für unsern himmlischen Geburtstag, weisen wir immer und immer zurück! Wenn der König einem seiner Unterthanen einen Orden schenkt am Krönungstage, dann ist er über diesen vergänglichen Zierrath außer sich, als widerführe ihm die größte Gnade des Himmels, über ein Zeichen der Eitelkeit, das Niemanden besser macht, als er ist, und im Tode verfault, wie er selbst; und wenn der König aller Könige mit seinem Blut und seiner Gerechtigkeit uns schmückt, so daß alle unsere Häßlichkeit dadurch verschwindet und wir vor Gott und allen Engeln damit prangen können im Himmelsglanze der Verklärung: so bedenken wir uns noch, ob wir diesen Orden aller Orden auch wohl annehmen und tragen sollen, und schämen uns zuzugreifen und aus Gnaden selig zu werden. O wir Kleingläubigen! wir Ungläubigen! Geringeres und Natürlicheres kann Gott uns nicht zumuthen, als an ihn zu glauben, und doch fällt uns dies Geringste so schwer. So wahr ist das Wort der Schrift: „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding.“, (2 Thess. 3, 2.) So wahr ist der schöne Vers:

„Dies ist das wundervolle Ding:
erst dünkt's für Kinder zu gering,
und dann zerglaubt ein Mann sich dran,
und stirbt wohl, eh er's glauben kann.“

„Aber auf diese Weise könnte ich ja in meinen Sünden bleiben, wenn ich nur an Christum glaube?“ Wer so fragen kann, Geliebte, beweist durch diese Frage, daß er den Glauben weder kennt, noch hat, daß er noch nie seine Sünde erkannt und bereut, noch nie Vergebung gesucht und gefunden, daß er sich selbst vielleicht vergeben, aber Gott ihm noch nie vergeben hat, und daß er darum des Verdienstes Christi spottet und reif zur Hölle ist. Der Glaube, wenn er nicht Werke hat und den ganzen Menschen erneuert, ist todt an ihm selber. In Jesu Tode allein liegt unsere Heiligung.

„Aber wenn ich nun dennoch immer wieder sündige, und, nachdem mir Vergebung worden, wieder in Sünden falle?“ Nun, wer so fragt, der trage seine neue Sünde und Schuld zu der alten hin an den Stamm des Kreuzes; auch für diese neue Sünde hat der Herr schon genug gethan. Es bleibt dabei: Wer glaubt, der ist gerecht. Die Folge der Vergebung unserer Sünden ist die Heiligung; aber nichts als die Folge; nicht das Mittel, wodurch wir sie verdienen, sondern nur der Beweis der Liebe und Dankbarkeit, daß wir sie aus Gnaden erlangt haben; und allezeit ein höchst gebrechlicher, unvollkommener Beweis, der weder Gott, noch uns je genügen kann und hinter seinem Gesetz und unseren Wünschen unendlich zurückbleibt. Ihr seid theuer erkauft, sagt der Apostel, darum so preiset Gott an euerm Leibe und an euerm Geiste, welche sind Gottes,

So bleibt denn nichts stehen als Fundament unseres Heils und als Ankergrund unserer Seligkeit, denn allein das Blut und das Verdienst unsers Herrn Jesu Christi. Aber dieses ist auch genügend für alle Sünden, für alle Menschen, für alle Zeiten, für alle Ewigkeiten! Und nun auf, Psalter und Harfe! Nun, meine Seele, gehe hin, weine und jauchze dich satt! Auf aus dem Staube deiner Angst und Thränen; hier ist Schmuck für Asche und Feierkleider statt des betrübten Geistes! Die Donnerschläge Sinai's sind verklungen, und ewig steht der liebliche Friedensbogen am Himmel ausgespannt über Golgathas Thränenstätte. Das Paradies liegt in den Borten: „Es ist vollbracht!“

O Du Meister mit der gelehrten Zunge, Herr Jesu, was für Geist und Kraft steckt in Deinen Worten! Dein Jünger hat wohl Recht, wenn er sagt: Du hast Worte des ewigen Lebens. Schreibe denn dies theure Wort mit Deinem Blut in unsere Herzen, daß es uns nie aus dem Sinne komme. Gieb, daß wir in aller Ohnmacht und Schwachheit des Geistes mit kindlichem Glauben auf Dein „Es ist vollbracht“ uns verlassen, aber auch bei aller Glaubens- und Liebesgeschäftigkeit unser Thun für gar nichts achten, und uns nur gründen auf Dein Vollbringen; ja, selbst im Tode laß es uns einen festen Anker sein, daran wir uns bei allen Stürmen festhalten, und damit glücklich hinüberkommen in den Hafen der seligen Ewigkeit, wo wir Dich für Dein vollbrachtes Werk werden vollkommen preisen können. Amen.

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