Arndt, Friedrich - Das Vaterunser - Die sechste Bitte.

Arndt, Friedrich - Das Vaterunser - Die sechste Bitte.

Und führe uns nicht in Versuchung.

Das Leben der Menschen theilt sich zwischen Vergangenheit und Zukunft. Von den wenigsten kann man sagen, sie haben eine Gegenwart; entweder leben sie noch in der Vergangenheit, in ihren Erinnerungen und Folgen, oder sie leben schon in der Zukunft und in deren Hoffnungen und Verheißungen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen lebt zu allermeist in der Zukunft, weniger in der Vergangenheit, am wenigsten in der Gegenwart. Nur das Kind lebt eigentlich ganz für den Augenblick, der Jüngling denkt schon an die kommenden Tage, der Mann blickt noch weiter hinaus, er sorgt nicht allein für seine Zukunft, sondern auch für die Zukunft seiner Hausgenossen, und der Greis wirft endlich die weitesten Blicke in die Ferne, er denkt an die Ewigkeit. Aus diesem Gedankengange wird uns klar werden, warum der Herr für Vergangenheit und Gegenwart nur eine, für die Zukunft aber zwei Bitten hat: „führe uns nicht in Versuchung,“ und: „erlöse uns von dem Uebel;“ denn das ganze Erdenleben strebt mehr den kommenden Tagen zu, als den gewesenen und gewordenen. Aus diesem Gedankengange wird uns ferner klar werden, warum Er mit der Bitte für die Gegenwart beginnt: „unser täglich Brod gieb uns heute,“ denn sie ist die erste und nächste; warum Er mit der Bitte für die Vergangenheit fortfährt: „vergieb uns unsere Schulden;“ warum Er zuletzt schließt mit der doppelten Bitte für die Zukunft: „führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel.“ Aus diesem Gedankengange wird endlich erhellen, warum Er diese Bitten mit: „und“ verbindet, und die früheren nicht; denn sie hangen so eng zusammen wie Glieder einer Kette, eine führt zur andern und vollendet die andere: „Unser täglich Brod gieb uns heute, und vergieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel.“ Wer insbesondere die Größe seiner Pflichten, die vielen Hindernisse in der Erfüllung derselben und die unaufhörlichen Veranlassungen zum Abfall erwägt, der kann nicht anders, er muß zu dem Gebet: „Vergieb uns unsere Schulden“ hinzusetzen: „und hilf uns, daß wir nicht abermals in Verschuldungen fallen, und führe uns nicht in Versuchung.“ Doch genug an diesen einleitenden Worten! Wir fassen nun die sechste Bitte selbst ins Auge: Und führe uns nicht in Versuchung, und betrachten 1) dieser Bitte Grund, warum wir so bitten müssen, und 2) dieser Bitte Inhalt, oder was es heißt: führe uns nicht in Versuchung.

1.

Aus einem zweifachen Grunde müssen wir bitten: „Führe uns nicht in Versuchung,“ weil nämlich die Versuchung in der Welt so groß und weit, unsere ihr entgegenzusetzende Kraft so schwach und klein ist.

Jemanden versuchen heißt: einen Versuch mit ihm machen, ihn untersuchen, ob er irre zu machen ist oder nicht. Versuchung also bedeutet so viel als: ein versuchlicher Zustand, eine Lage voll Anfechtung. Versuchung unterscheidet sich somit bestimmt von Prüfung. Die Prüfung kommt jedesmal von Gott und will unsere innere, gute Gesinnung erproben, unsern Glauben, unsere Demuth, Liebe, Geduld, Selbstverläugnung bewähren. So wurde Abraham geprüft, als Gott ihm zumuthete, seinen einigen Sohn, den er lieb hatte, dem Allerhöchsten zum Opfer zu bringen und der Liebe zu Gott die Liebe zum Kinde hintanzusetzen. So wurde Joseph geprüft, als er von seinen Brüdern verkauft ward nach Aegypten und dort um seiner Unschuld willen ins Gefängniß kam. So wurde das cananäische Weib geprüft, als Jesus ihr zuerst kein Wort antwortete und dann die schneidenden Worte sprach: „Es ist nicht fein, daß man den Kindern ihr Brod nehme und werfe es vor die Hunde.“ Die Versuchung hingegen kommt nie von Gott, sondern von der Welt, unserm Fleisch und Blut oder dem Teufel, und hat zum Zweck, uns von Gott abzuführen, und an uns selbst irre und unserer und fremder Glückseligkeit verlustig zu machen. Eine solche Lage tritt nun im Leben der gottentfremdeten Menschen eigentlich gar nicht ein; denn sie gehören schon durch all ihr Thun und Lassen dem Bösen an, und brauchen also nicht erst dazu versucht zu werden. Versuchungen können nur eintreten im Leben derer, die schon einen Anfang im Dienste Gottes gemacht haben, und bei denen es nun darauf abgesehen wird, diesen ihren Entschluß zu zerstören oder zu hintertreiben. Deßhalb finden wir alle frommen Menschen in der heiligen Schrift in Versuchungsstunden: Abraham, als er nach Aegypten zog und dort aus Furcht für sein Leben sein Weib für seine Schwester ausgab; Hiob, als ihm all sein Hab und Gut, sogar seine Kinder genommen, sein Leib von der Fußsohle bis zur Scheitel mit Schwären bedeckt und er selbst von seinem Weib und von harten Freunden wegen seiner Gottesfurcht verhöhnt wurde; David, als er in unbewachtem Augenblick in der Kühlung des Abends vom Dache seines Pallastes aus die Bathseba erblickte; Saul, als ihm die Last einer Krone zu schwer wurde und er nur herrschen, nicht gehorchen wollte; Petrus, als er unter Menschen gerieth, die ihn mit Schande und Tod bedrohten, falls er nicht verleugnen würde; Paulus, als er den Pfahl im Fleische fühlte, nämlich des Satans Engel, der ihn mit Fäusten schlug; die Apostel und Märtyrer insgesammt, da es galt, entweder das Leben zu retten durch Preisgebung des Herrn, oder Christum zu retten unter Aufopferung des eignen Lebens. Ja, Christus selbst wird vom heiligen Geiste in die Wüste geführt, damit Er zu dreien Malen vom Teufel versucht würde. - In dem Leben der Frommen und Gläubigen aber kann Alles zur Versuchung werden und als Anlaß dienen für den Versucher, seine Angeln nach ihrem Herzen auszuwerfen. Bald das Glück, wenn es ihnen wohlgeht und jeder Wunsch ihnen erfüllt wird; wenn sie viele Lober, keine Tadler, viele Freunde, keine Feinde finden, wenn Alle sich in ihre Launen und Neigungen fügen und nirgends ihnen ein Widerstand entgegentritt; wenn keine Krankheit, keine Nahrungssorge, kein Verlust, kein Tod ihrer Hütte sich nahet: welche furchtbare Versuchung zur Sicherheit, zur Ueberhebung, zur Gottesvergessenheit; welcher lebensgefährliche Zustand für die arme, unsterbliche Seele! Bald das Unglück: wenn Jammer, Elend, Krankheit, Spott und Hohn unsere Speise ist Tag und Nacht; wenn Menschen sich von uns zurückziehen, uns geringschätzen und verachten; wenn wir bei ihnen weder Theilnahme, noch Trost, noch Rath und Hülfe finden und ihre Herzen sich gegen uns verschlossen haben; wenn selbst auf dem Kranken- und Sterbelager keine liebevolle Hand erscheint, uns den kalten Schweiß von der Stirn abzutrocknen und die müden Augen zu schließen: welche schwere Versuchung zum Murren und Klagen wider Gott, zur Ungeduld, zum Mißtrauen, zur Bitterkeit, zur Verzweiflung an allem Guten! Wie viele, die in den Tagen des Friedens feststanden, sind da zu Falle gekommen, haben Gott gelästert, haben den Tag verflucht, da sie geboren wurden, haben in der Noth zu den schlechtesten Mitteln, zu Lug und Trug, zum Sündenhandwerk, zu verbotenen Wegen ihre Zuflucht genommen! Bald die Liebe der Menschen; sie haben uns so viel Gutes erwiesen, und wir sind ihnen zeitlebens zu Dank verpflichtet, sie überhäufen uns mit Beweisen ihrer Freundlichkeit: welche Gefahr, ihnen zu Gefallen auch manches mitzumachen, was wir wenigstens vor unserm Gewissen nicht verantworten können; manches Vergnügen zu genießen, mancher Gesellschaft anzugehören, die uns innerlich nur Schaden bringen kann; welche Gefahr, uns gegen das Böse allmälig abzustumpfen, es uns gleichgültig, ja selbst reizend zu machen! Bald der Haß der Menschen, wenn sie um unseres Glaubens willen uns höhnen und verspotten und wir ihrer doch nicht entbehren können, auf der Stelle brodlos sein, und Ehre und Auskommen verlieren würden, sobald wir uns nicht anbequemten: welche Gefahr, Christum zu verleugnen, den Sonntag zu schänden, zu schweigen, wo wir reden, zu arbeiten, wo wir ruhen sollten, und aus Sorge für den Leib und das äußere Leben die innere Seele daran zu geben! Bald der Zeitgeist überhaupt mit seinen herrschenden Vorstellungen von der Allgenugsamkeit der menschlichen Vernunft, von der Entbehrlichkeit des göttlichen Wortes, von der Unmöglichkeit der Wunder, von der Läugnung der Gottheit Christi und der stellvertretenden Genugthuung des Gottmenschen, von dem Unglauben an Hölle und Verdammniß: welche Gefahr, am Glauben der Schrift Schiffbruch zu leiden und sich wiegen und wägen zu lassen von allerlei Wind der Lehre! Bald die von Kindheit an eingesogenen Vorurtheile; die immer wieder erwachenden bösen Gedanken und Neigungen; der Anblick der Frommen, die es in ihrer Frömmigkeit übertreiben, die vor lauter Buchstabenvergötterung den lebendig machenden Geist verlieren, die den Namen haben, daß sie leben, und doch todt sind, die allezeit sagen: Herr, Herr, und doch nicht thun den Willen ihres Vaters im Himmel, die durch ihre Kopfhängerei, ihre Heuchelei, ihre Schärfe im Richten dem Evangelio ein böses Geschrei machen in der Welt oder gar durch Mißbrauch des göttlichen Wortes die Perle vor die Säue werfen und Sünden und Thorheiten aller Art begehen! O welche Fülle von Versuchungen allüberall! Nicht blos im Schauspielhaus oder im Tanzsaal oder im Kreise lustiger Menschen, auch in der Einsamkeit der Wüste, auch im Heiligsten des Tempels, auch in der Stunde der Andacht und des Gebets! Nirgends sind wir sicher, überall ist der Bogen gespannt mit den vergiftenden Pfeilen, überall lauert die Schlange in dem anmuthigen Grase, überall drohen Blitze sich zu entladen, aus heiterm, wie aus bedecktem Himmel. Nirgends sind wir sicher, denn jeder hat sich selbst bei sich; darum hat er den größten Versucher bei sich. Weder Alter noch Kindheit, weder Weisheit noch Thorheit, weder Leichtsinn noch Ernst, weder Fluchen noch Beten bewahrt uns vor der Versuchung! Sie nahet jedem Christenmenschen groß und klein; sie nahet ihm diesmal als Schlange und Apfel, ein andermal in der Gestalt des Weibes; hier in der Wissenschaft des Mannes, dort in den alltäglichen Schicksalen und Begebenheiten des Lebens; selbst im Berufe, in den Gott uns gesetzt, in der Werkstatt, am Schreibtisch, im Familienkreise, in der Ruhekammer nahet sie mit ihren höllischen Anwandlungen. Ach, und sie nahet so leise und unbemerkt, in Augenblicken, wo wir auch nicht das Mindeste ahnen; wenn die Leute schlafen, streut der Feind das Unkraut aus! Sie nahet so unwiderstehlich, so bezaubernd und verheißungsreich, so hinreißend und gewaltig, daß aller Widerstand umsonst ist, daß keine Wahl mehr übrig bleibt und man darauf angewiesen zu sein scheint, zu folgen und nachzugeben! Sie nahet, so lange wir auf Erden wallen; versucht werden ist die Geschichte unseres Lebens, und zum Todten erst können wir hintreten mit dem Gruß: Gottlob, dir nahet keine Versuchung mehr!

Diesen großen, von allen Seiten bestürmenden Versuchungen gegenüber, - wie ist doch unsere Kraft so klein und so schwach! Es ist nicht leicht, ein Christ zu werden; aber es ist noch viel schwerer, ein Christ zu bleiben, und in dem großen Heilskampfe, den es gilt, alles daranzusetzen und das Feld zu behaupten. Denn auf uns können wir uns nimmer verlassen, und die Waffen und Mittel, die Gott uns zum Streit gegeben hat, brauchen wir nicht, wie wir sollten. In der Regel traut sich der Mensch zu viel zu; er bildet sich ein, die Begeisterung für die Sache Gottes, für die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, der Liebe und Tugend, die ihn jetzt erfüllt, könne nicht verlöschen; wie ihn heute der Feind finde, so werde er ihn immer finden, und siehe da, ehe er es sich versieht, ist er in Gefahr, der Muth ist hin, Menschenfurcht, Menschengefälligkeit, Gewinnsucht, Eitelkeit, Genußliebe arbeiten an dem schwachen Herzen; er kämpft nur noch mit einem gebrochenen Schwerdt, und seine Sache ist verloren. Wer sich dünken läßt, zu stehen, der sehe wohl zu, daß er nicht falle. Hochmuth kommt vor dem Fall. Wer sich in Gefahr begiebt, kommt in der Gefahr um. O, wie Viele sind gefallen und haben Unschuld, Frieden, Lebensglück, Ruhe im Alter verloren, weil sie zu sicher waren und meinten, ihnen könnte es nicht fehlen, sie könnten sich Manches bieten und erlauben, was Andern gefährlich sein würde, sie kenneten sich zu genau, als daß sie dies und jenes nicht versuchen dürften. Das waren tollkühne Wagehälse, sie wollten spielen mit der Sünde, und ach - sie verspielten ihre unsterbliche Seele! Wie Viele sind gefallen, weil sie sich mit der Sünde in einen Zweikampf einließen, ihr Rede und Gegenrede standen, einen kleinen Versuch mit ihr machten, von dem sie glaubten, daß er nichts zu bedeuten hätte, und der auch an sich wirklich nickts zu bedeuten hatte, aber dennoch furchtbar wurde durch seine Nachwehen und Folgen, wo Flucht der beste Sieg gewesen wäre und es gleich auf der Stelle und zur Minute hätte heißen müssen: „Hebe dich weg von mir, Satan; wie sollt ich ein solch Uebel thun und wider den Herrn, meinen Gott, sündigen?“ Wer sich nicht hütet vor dem ersten, kleinsten Schritt, öffnet dadurch allen Lastern und Sünden Thür und Thor. Nein, wir können uns auf uns selbst nicht verlassen. Nicht auf unsere Einsicht, denn wir wittern oft da Gefahr, wo gar keine vorhanden ist, und legen die Hände sicher in den Schooß, wo es schon auf allen Seiten brennt; wir halten den treusten Freund oft für unsern Feind und den gefährlichsten Verführer und Schmeichler für den wahren Förderer unseres Glücks. Nicht auf unsere Kraft, denn die erscheint nur zu oft, wo es gilt, als Ohnmacht, eine Zeitlang hält sie an, aber nicht auf die Dauer, und was ist sie meistentheils? Nichts als Eigensinn, der so lange Muth behält, als Gott unsern Willen zu dem seinigen macht, aber die Flügel hängt, wenn wir seinen Willen zu dem unsrigen machen sollen. Nicht auf unsere Treue; denn Treue ist ein seltenes Wort unter den Menschen; das wäre nicht der erste Fall gewesen, wo das Herz mitten im Kampf zum Feinde übergegangen wäre. Diese grenzenlose Schwäche und Unzuverlässigkeit kannte Gott; darum hat Er uns Mittel gegeben, durch deren Gebrauch wir feststehen lernen sollen in der Stunde der Entscheidung; aber ach - leider gebrauchen wir diese Mittel nicht. Er fordert uns auf zur Wachsamkeit vor den zu großen Eindrücken der Sinnlichkeit, vor den ersten Regungen und kleinen Anfängen; aber wir legen uns hin in fleischlicher Sicherheit und schlafen. Er giebt uns sein Wort als das Schwerdt des Geistes; aber wir lesen lieber andere, genußsüchtige, empfindsame, sittenverderbliche Bücher, und ziehen den Genuß der Leckereien dem kräftigen Brode vor. Er baut uns Altäre und schmückt sie mit den Zeichen und Unterpfändern seiner Gnade, uns im Sacrament sich selbst, seinen Leib und sein Blut mitzutheilen; aber wir betrachten das Abendmahl mehr als eine fromme Ceremonie und herkömmliche Sitte, denn als Gnadenmittel. Er ruft uns zu: „So seid nun Gott unterthänig, widerstehet dem Teufel, so sticht er von euch;“ aber wir glauben Ihm nicht, weder daß es einen Teufel giebt, noch daß unbedingte, täglich erneute Hingabe an Gott das gewisse Mittel sei, ihn zu überwinden. Er ermahnt uns zu christlichem Umgang, zur Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens, zum gegenseitigen Zurechthelfen und Fürbitten für einander; aber wir wollen lieber auf eignen Füßen stehen und unsere Sache selbst durchfechten. Er erinnert uns an das Glück des Glaubens und das schaudervolle Ende der Sundes Er führt uns Beispiele von beidem vor die Augen; aber wir wollen es besser wissen als Er und immer erst durch eigne Erfahrung klug werden. Ist es da ein Wunder, daß unsere Kraft und unser Widerstand gegen die Versuchung schwach ist? und ist es da nicht dringend nothwendig, daß wir höhere Kraft in Anspruch nehmen, daß wir beten vor allen Dingen: „Führe uns nicht in Versuchung“?

2.

„Führe uns nicht in Versuchung!“ Gewiß, wenn irgend ein Gebet für jeden Christen in diesem Leben an seiner Stelle ist, so ist es dies Gebet. Seine Dringlichkeit und Nothwendigkeit ist erwiesen; es kommt nur noch darauf an, daß wir seinen Inhalt recht verstehen und anwenden.

Was soll das heißen: Führe uns nicht in Versuchung? Kann uns denn Gott in Versuchung führen? Nein, niemand sage, wenn er versuchet wird, daß er von Gott versuchet werde; denn „Gott ist nicht ein Versucher zum Bösen, Er versuchet niemand; sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizet und gelocket wird.“ (Jac. 1,13.14.) Wie kann es also heißen: Führe uns nicht in Versuchung? Gleichwie oft einem Könige dasjenige zugeschrieben wird, was seine Diener unter ihm ausführen und vollbringen, so wird auch in der heiligen Schrift oft Gott zugeschrieben, was unter seiner Zulassung die Welt oder unser eignes Herz oder der Teufel als ein Henker in Gottes Dienste an uns versucht. So heißt es von Pharao bald: „Der Herr verstockte das Herz Pharao's, daß er Mose und Aron nicht hörte;“ (2. Mose 9, 12.) bald: „Pharao verhärtete sein Herz und ließ das Volk nicht.“ (8, 32.) - So heißt es 1. Chron. 22, 1: „der Satan stand wider Israel und gab David ein, daß er Israel zählen ließ,“ und 2. Sam. 24, 1. von derselben Geschichte: „der Zorn des Herrn ergrimmte wider Israel und reizte David unter ihnen, daß er sprach: gehe hin, zähle Israel und Juda.“ So heißt es 2. Chron. 32, 31 von Hiskias: „Gott verließ ihn also, daß Er ihn versuchte, auf daß kund würde Alles, was in seinem Herzen war!“ So wird von Gott gesagt, daß Er die Augen der Menschen verblende, daß sie nicht sehen, und ihre Ohren verstocke, daß sie nicht hören. Und so sollen auch wir beten: „führe uns nicht in Versuchung,“ nicht als ob Gott uns versuchen könnte oder wollte zum Bösen; sondern weil ohne Gottes zulassenden Willen keine Versuchung in der Welt möglich sein würde. Wie Gott die Sünde zuläßt und den Tod, so läßt Er auch die Versuchung zur Sünde zu. Warum? Um. uns durch die Versuchung, gleichermaßen wie durch die Prüfung, zu stärken, vollzubereiten, zu kräftigen und zu gründen; um uns zur Selbsterkenntniß und Demuth zu führen, daß wir einsehen, wie schwach und elend wir sind, wie wir nichts vermögen ohne Ihn, und auch nicht um unserer Frömmigkeit willen, sondern nur aus Gnaden selig werden können; um uns Gelegenheit zu geben, uns in der Selbstverläugnung zu üben, uns vor Leichtsinn und Sicherheit, Stolz und Selbstvertrauen zu bewahren und uns auf dem Wege des Heils weiter zu führen. Die Versuchung ist ein von diesem Leben unzertrennliches, nothwendiges Uebel. Darum ruft auch Jacobus aus: „Meine lieben Brüder, achtet es eitel Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallet. Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet, denn nachdem er bewähret ist, wird er die Krone des Lebens empfahen, welche Gott bereitet hat denen, die Ihn lieben.“ (Jac. 1, 2. 12.)

Die Bitte: „führe uns nicht in Versuchung,“ will demnach keineswegs sagen: laß uns niemals in Versuchung fallen; denn es giebt kein Christenthum ohne Kampf. Das können wir so wenig erstehen, als der Krieger seinen Feldherrn bitten darf: führe mich nicht in die Schlacht, oder der Schiffsmann seinen Kapitain: führe uns nicht in die offene See. Die Bitte: „führe uns nicht in Versuchung,“ will vielmehr sagen: laß uns nicht hinein gerathen, führe uns nicht ein in die Versuchung, laß die äußere Versuchung uns nicht zu einer innern werden; und: laß uns nicht in der Versuchung, wenn wir hinein gerathen sind, untergehen, sondern verwandle sie in lauter heilsame Prüfungen für uns. Denn das ist gewiß, es giebt für jeden Menschen ein Maaß, einen Grad der Versuchung, der seine Kräfte übersteigt und dem er nicht gewachsen ist. Bis heute hast du deinem Beleidiger vergeben; aber wenn die Beleidigung empfindlicher, wenn die Treulosigkeit augenfälliger, wenn der Mangel an Liebe, der Neid, die Verläumdung boshafter, nachtheiliger, dich vernichtender würde: würdest du es da auch können und ihm die Hand und das Herz zur Versöhnung darbieten? Es ist wahr, bis heute hast du die Keuschheit deiner Jugend bewahrt, Jüngling, Jungfrau; aber wenn die Versuchung lockender, wenn der Gewinn, die Aussicht auf Ehre, auf Reichthum und Wohlleben glänzender gemacht würde, wenn du aller deiner Sorgen mit einem Mal könntest überhoben werden durch einen Fehltritt: würdest du da auch noch sprechen: lieber sterben als sündigen, lieber in Noth und Armuth bleiben, als meine Unschuld und meinen guten Namen bestecken? Es ist wahr, bis heute bist du ehrlich gewesen und hast den tiefsten Abscheu gehabt vor jedem unrechtmäßigen Erwerb; aber wenn der Gewinn hundertmal größer und wenn es leichter würde, das Unrecht zu verbergen: würdest du da auch noch an Wenigem dir genügen lassen? Es ist wahr, bisher hast du Gott vertraut und gedient: aber was würdest du thun, wenn Er das höchste Maaß der Leiden über dich schickte, wenn du statt Vermögen Schulden, statt der Freunde harte, drängende Gläubiger sähest, wenn dir die Deinigen in das Grab sänken, wenn du all dein Hab und Gut verlörest oder dein Weib dir untreu würde, deine Kinder in ungerathene Buben und feile Dirnen sich verwandelten, wenn Schimpf und Schande über dich gehäuft würden, und die einst deine Schmeichler waren, auch einstimmten und sagten: das ist seine Schuld, er ist ein Verschwender, ein Betrüger, ein Taugenichts; wenn unheilbare Krankheiten deinen Körper verzehrten, des Nachts deinen Schlaf raubten und am Tage dir keine schmerzenlose Stunde ließen, wenn du von spärlichem Armenbrod dein elendes Leben fristen müßtest: wie? würdest du auch noch sprechen: Herr, wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und nach Erde, und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtete, so bist Du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil? Es ist wahr, bisher bist du fest gewesen in deinem Glauben, aber du hast auch noch keinen Kampf bestanden; wenn nun dieser Kampf ausbräche, wenn die Zeit, in der du lebst, wenn deine Umgebung, deine Eltern, Freunde, Gattin. Kinder vom Glauben abfielen, wenn gewaltige Irrthümer sich erhöben und von den ausgezeichnetsten Geistern verfochten würden, wenn du mit all deiner Weisheit gegen die ihrige nicht aufkommen könntest und es ihnen gelänge, dir selbst Gottes Wort verdächtig zu machen und zu entkräften, würdest du da auch noch antworten: ich weiß, an wen ich glaube, und bin gewiß, daß Er mir meine Seligkeit bewahren wird bis an jenen Tag? Doch genug, genug! Es ist gewiß: es kann Versuchung geben, denen keiner von uns gewachsen ist! Darum aber ist um so dringender die Ermahnung: seid nicht stolz, sondern fürchtet euch; betet alle Morgen und alle Abend: „führe uns nicht in Versuchung,“ und danket, danket dem Herrn, daß Er euch die tröstliche Zusage gegeben hat: „Es hat euch noch keine, denn menschliche Versuchung betreten; aber Gott ist getreu, der euch nicht läßt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr es könnet ertragen.“ (1. Cor. 10, 13.) und gelobet euch selbst: Auch ich will mich nicht in Versuchung begeben, geschweige hineinstürzen.

Gesetzt aber, all unser Beten hülfe uns nichts, die Versuchung käme doch groß und schwer, und lastete auf uns ohne zu wanken und zu weichen; gesetzt, es ginge uns, wie Paulus, der uns aus der Geschichte seines innern Lebens erzählt: „Auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe; dafür ich dreimal den Herrn geflehet habe, daß er von mir weiche, und Er hat zu mir gesagt: laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Cor. 12, 7 - 9.); oder gesetzt, wir könnten nicht einmal beten, es mischten sich unaufhörlich gotteslästerliche Gedanken in unsere Bitten: wie dann? Dann heißt der Rath christlicher Erfahrung: seufzet, stammelt, lallet, wie ihr könnt; laßt euch nur nicht irre machen, denkt euch den Feind eures Heils nur nicht zu groß, seufzet fort und fort, und wisset, das sind die unaussprechlichen Seufzer, mit denen der heilige Geist euch vertritt; höret und haltet fest trotz Nacht und Dunkelheit, trotz Leere und Oede im Herzen, trotz Höllenlist und Höllenmacht an dem Worte: „Sollte Gott nicht retten seine Auserwählten, die zu Ihm Tag und Nacht rufen, und sollte Geduld darüber haben? Ich sage euch, Er wird sie erretten in einer Kürze.“ (Luc. 18, 7. 8.) Endlich wird der Sturm vorüber gehen, mit Gott werdet ihr aushalten können auch in Teufels Rachen, mit Gott werdet ihr siegen über die feurigen Pfeile des Bösewichts. Herrlich ist die Krone der Ueberwinder, groß ist der Sieger Lohn nach dem heißen Kampfe, und unaussprechlich erquickend und friedebringend lächelt uns die Verheißung aus der Ewigkeit an: „Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angelegt werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buche des Lebens, ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln, ich will ihm geben, mit mir auf meinem Stuhl zu sitzen, wie ich überwunden habe und bin gesessen mit meinem Vater auf eitlem Stuhl.“ (Offenbar. 3, 5. 21.) Darum ermahnt Paulus (1. Cor. 15, 58): Seid fest und unbeweglich in dem Herrn, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark. Derer, die für uns sind, sind mehr als derer, die wider uns sind; und zur rechten Stunde, sie mag auf sich warten lassen, so lange sie will, hilft Gott immer, sei es durch einen Freund, der kommen muß; sei es durch ein Wort, einen Bibelspruch, einen Liedervers, eine Erinnerung aus früher Erlerntem in der Kindheit; sei es durch äußere Umstände; die sinkende Kraft richtet sich plötzlich wieder auf, und der Sieg ist entschieden. Ja, oft wenn ein Mensch im Begriff war zu fallen und nur ein Schritt noch war zwischen ihm und dem Verderben, hat Gott schon wunderbar sein angefochtenes Kind vom tiefsten Falle errettet. Wohlan denn, laßt uns nimmer verlernen den Seufzer: führe uns nicht in Versuchung, bewahre uns vor schwerer Versuchung, und wenn sie kommt, laß uns nicht in derselben untergehen.

Noch haben wir Alle nicht die letzte Versuchung überstanden; sie steht uns noch bevor, vielleicht erst im Tode, vielleicht noch vor dem Tode, und wer weiß, wie schwer sie sein wird? Die Schrift redet noch von einem Tage des Zorns (Offenb. l 2, l 2.); aber haben wir den Harnisch Gottes, den Gurt der Wahrheit, den Panzer der Gerechtigkeit, den Schild des Glaubens, den Helm des Heils und das Schwerdt des Geistes, so werden wir auch im bösesten Stündlein Widerstand thun können und alles wohl ausrichten und das Feld behalten, und sind wir getreu bis in den Tod, so wird der Herr uns die Krone des ewigen Lebens geben. Das walte Gott!

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