Arndt, Friedrich - Das christliche Leben - Siebente Predigt.

Arndt, Friedrich - Das christliche Leben - Siebente Predigt.

Die Offenbarungsweisen des Glaubens.

Text: Röm. XII, V. 12-16

Haltet an am Gebet. Nehmet euch der Heiligen Nothdurft an. Herberget gerne. Segnet, die euch verfolgen; segnet, und fluchet nicht. Freuet euch mit den Fröhlichen, und weinet mit den Weinenden. Habt einerlei Sinn unter einander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen.

Lauter einzelne Ermahnungen des Apostels, welche zusammengefaßt das Bild des lebendigen Glaubens uns vergegenwärtigen. Paulus zeigt eben im Textcapitel, wie der rechtfertigende Glaube an Christum das ganze Leben durchdringe und heilige und sich in Früchten des Geistes offenbare. In den verlesenen Worten, wie überhaupt im ganzen Kapitel, hebt er insbesondere aber drei Hauptfrüchte heraus: Das Gebet, die Liebe und die Demuth, und in diesen drei Früchten stellen sich auch gerade die drei Offenbarungsweisen des Glaubens dar, nämlich 1) im Verhältniß zu Gott erscheint er als Gebet, 2) im Verhältniß zu andern Menschen als Liebe, 3) im Verhältniß zu uns selbst als Demuth.

I.

In Beziehung zu Gott erscheint der Glaube des Christen als Gebet. Der Apostel beginnt: „Haltet an am Gebet.“ Glaube ohne Gebet zu Gott ist gar nicht gedenkbar; derjenige Mensch hat keinen Gott, der keinen lebendigen Gott hat, der mit ihm nicht in einem wirklichen, wechselseitigen Verhältnisse sieht, der Gottes nicht so erfahrungsgewiß ist, wie man eines von Person unbekannten Freundes durch einen fortgesetzten Briefwechsel gewiß sein kann. Das Gebet, pflegten unsere Alten zu sagen, ist des Glaubens Tochter, aber die Tochter muß die Mutter ernähren. Also Gebet zu Gott ist das erste Kennzeichen, an welchem wir das Vorhandensein des Glaubens erkennen können, und an welchem wir den Maaßstab haben für unsern Gnadenstand.

Ist nun aber das Gebet Offenbarungsweise des Glaubens und Gemeinschaft des Herzens mit dem Herrn, so wird der Glaube auch um Alles beten dürfen, was diese Gemeinschaft fördert und ihre Hindernisse beseitigt; also vor allen Dingen um geistliche Güter, um Vergebung der Sünden, um Frieden des Herzens, um Kraft zur Heiligung, um Trost in Noth und Tod, um Vereinigung mit Christo, um Weisheit, Treue, Liebe, kurz, um die Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden und im eignen Herzen. Wie wäre ohne solches Gebet ein lebendiger Glaube, eine enge Gemeinschaft mit Gott möglich? Aber er wird auch um das Leibliche bitten, so fern es eben in Beziehung sieht zu dieser Gemeinschaft mit dem Herrn, also sofern es Gottes Willen und unserer Heiligung und Vervollkommnung gemäß ist, und er wird um dieses leibliche, sobald der Glaube ihm dazu Freudigkeit gibt, eben so unbedingt bitten wie um das Geistliche. Die zehn Aussätzigen setzten zu ihrem Gebet keineswegs hinzu: Herr, hilf uns, wenn es dir gefällt; sondern sie riefen ohne Beschränkung und Zweifel: Herr Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser. Das wahre Beten ist immer ein unbedingtes Beten, und der Christ hat das große Privilegium, daß er um jede Kleinigkeit zu Gott seufzen darf. Freilich wolltest b» um Irdisches bitten, bloß um des sinnlichen Genusses und Zweckes willen, bloß weil es deinen Sinnen gefällt, und deinen Fleisches-Gelüsten wohlthut: so wäre das ein Gebet um böse Gaben, die Gott nach seiner Liebe dir versagen müßte und nur im Zorn gewähren könnte, und es gälte von dir das Wort des Apostels: „Ihr bittet, und krieget nicht, darum, daß ihr übel bittet, nämlich dahin, daß ihr's mit euern Wollüsten verzehret.“ (Jac. 4, 3.). Aber betest du im Namen Christi, in Beziehung auf das Kommen seines Reichs zu dir und andern, auf die Vollbringung seines Willens auf Erden wie im Himmel, auf die Heiligung seines Namens: dann wirst du auch die Gabe erhalten, die du von ihm gebeten hast, und mit dem Apostel gestehen müssen, daß Gott überschwänglich mehr an dir thut, als du bitten und verstehen kannst. Kein gläubiges Gebet bleibt unerhört; unsere Bitten, Seufzer und Thränen sind eine Saat, die in den Himmel gesäet wird. Sollte dich Gott auch nicht gerade auf die Art und Weise und zu der Zeit und Stunde erhören, wo du es wünschest: zu seiner, d. h. zur rechten Zeit, nach seiner, d. h. der besten Weise wird er dich dennoch erhören; warte nur, und du wirst ihm noch danken, daß er deines Angesichts Hülfe und dein Gott ist. Sollte er dir das gebeten und gewünschte Gut geradezu abschlagen: unerhört bleibt dein Gebet doch nicht; denn statt des geringen Gutes, was er dir versagte, verleiht er dir ein besseres und größeres, was für dich weit heilsamer und gesegneter ist. Blicke in die Geschichte, da hörst du Mosen beten, Gott möchte ihn doch hineinführen in's Land seiner Väter: der Herr antwortet: „Laß genug sein, sage mir davon nicht mehr“ (5 Mose 3, 26) er thuts nicht, aber er führt ihn hinein in ein besseres, gelobtes Land, in die ewige Ruhe zu den Vätern selbst. David bittet um die Erhaltung des Kindes, bei dessen Anblick er erröthen mußte: das Kind stirbt, aber sein Herz ist getröstet, er empfindet die Gewißheit der Vergebung seiner Sünden, er fühlt's, der Gewinn ist größer als der Verlust, und geht in das Haus des Herrn und betet an und spricht: „Um das Kind fastete ich und weinte, da es lebte; denn ich gedachte: wer weiß, ob mir der Herr gnädig wird, daß das Kind lebendig bleibe. Nun es aber todt ist, was soll ich fasten? kann ich es auch wiederum holen? Ich werde wohl zu ihm fahren, es kommt aber nicht wieder zu mir.“ (2 Sam. 12, 23.). Paulus betet um Wegnahme des Kreuzes dreimal, als ihn des Satans Engel mit Fäusten schlug: der Herr spricht zu ihm: „Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig,“ und gibt ihm nun Kraft und Geduld, zu tragen, und Paulus darf bekennen: „Darum bin ich gutes Muths in Schwachheiten, in Schmachen, in Nöthen, in Verfolgungen, in Aengsten um Christus willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ (2 Cor. 12, 9. 10.). Alle drei Männer, gewiß stark im Glauben und in der Demuth, erhielten also nicht, was sie erflehten: aber konnte Einer wohl sagen, daß sein Gebet ihm nichts geholfen? mußten sie nicht Alle Gott preisen, daß Er, wenn auch anders, als sie meinten, dennoch immer sich an ihnen verherrlicht habe?

Doch der Apostel sagt nicht bloß: „betet,“ sondern: „haltet an am Gebet,“ und an einer andern Stelle: „betet ohne Unterlaß.“ (Thess. 5, 17.) Wie der Christ um Alles zu seinem Gott bitten darf, so betet er auch allezeit; er betet Morgens und Abends, bei Tag und bei Nacht, bei der Arbeit und bei der Erholung, wenn's ihm wohlgeht und wenn er trauert; Gebet ist sein Lebenselement, ist Bedingung seines Daseins, ist das Brod, was seine Seele genießt, ist die Luft, in der er athmet. Wie der Körper krank ist, wenn es mit dem Athmen nicht wohl bestellt ist, und wie man es nicht sonderlich hoch anschlägt, wenn man an irgend einem Gliede leidet, aber Gefahr fürchtet, sobald Mangel an Luft eintritt, und nun der ganze Körper siecht und kein Geschäft sich mehr leicht verrichten läßt: so ist auch die Seele krank, bedenklich krank, wenn sie nicht beten kann, oder wenn es erst des Glockenschlags oder der Betglocke bedarf, um ihn an sein Bedürfniß zu erinnern. Betrachtet doch das Kind, Geliebte, das kann nichts genießen und nichts entbehren, nichts empfangen und nichts verlangen, ohne es seinen Eltern zu sagen; es muß ihnen Alles zeigen, sie müssen Alles wissen, bei ihnen muß es sich zu Allem Rath und Erlaubniß einholen. Was dem Kinde in seinem Verhältniß zu seinen irdischen Eltern möglich ist: das sollte uns in unserm Verhältniß zu Gott unmöglich sein? und. da könnte im Ernst Jemand noch auftreten und meinen, man könne nicht ohne Unterlaß beten? Auf die Worte und die Bewegung der Lippen kommt's ja nicht an, wenn nur das Herz beim Herrn ist, und soll das nicht bei ihm sein allezeit? muß uns denn nicht, bald die Noth, bald die Liebe, bald die Freude, jeden Augenblick wieder zu ihm hintreiben? Gott segnet uns mit der Fülle seiner Gaben, mit Gesundheit, mit frischem Muth, mit den Schätzen der Natur, mit Freude an den Unsrigen, mit Frieden im Lande; er trägt uns mit Geduld trotz unserer Sünden, er erläßt uns unsere Schulden, er wirkt mit seinem Geiste durch sein Wort, erleuchtend, tröstend, kräftigend auf unser Herz: haben wir da nicht Ursache, tagtäglich und jede Stunde ihm zu danken? und können wir die Augen aufschlagen, können wir die Hand ausstrecken, können wir die Luft einathmen, und Brod und Wasser genießen, ohne zu danken? müßte nicht jedes Wort unseres Mundes, jeder Gedanke unseres Herzens ein unaufhörlicher Psalm Gottes sein? Von der andern Seite, befinden wir uns wieder allezeit in Noth; ist es keine äußere, keine Leibesnoth, keine Sorge der Nahrung, kein Verlust an Gut oder theuerem Leben, keine getäuschte Hoffnung, so ist es doch allezeit eine Seelennoth, die uns quält, ein Mangel an geistlicher Gabe, den wir ersetzt und ausgefüllt wünschen möchten, und eine Traurigkeit darüber, daß es mit uns nicht besser wird, und wir heute noch, wie vor Jahren, dieselbigen trotzigen und verzagten, dieselben lauen, eigensinnigen, stolzen, lieblosen und undankbaren Menschen sind: haben wir da nicht Ursache, tagtäglich und jede Stunde zu Gott zu seufzen um Gnade und Barmherzigkeit? und können wir je einen Blick auf uns selbst . werfen oder auf die Gebote des Herrn, ohne zu zittern und zu zagen und uns vor Gott zu demüthigen? Gesetzt aber auch, es wäre gerade kein besonderes Gut, das uns zum Danke, kein besonderer Schmerz, der uns zur Bitte auffordert: dort über uns wohnt Gott, der Inbegriff aller Vollkommenheit, in der Fülle seiner Herrlichkeit und Majestät; dort hinter uns liegt eine Vergangenheit, durchwebt in allen Führungen mit den leuchtenden Spuren seiner Nähe und Treue; dort vor uns öffnet sich eine Zukunft, so lieblich und herzerhebend, wie wir sie uns kaum auszumahlen vermögen: wie viel Stoff zu heiligen Betrachtungen, und zu ernsten, seligen Beschäftigungen mit dem Ewigen und dem Einen, was Noth thut! Kann dieser Stoff uns jemals ausgehen? und müssen wir nicht allezeit unsere Bitte mit Gebet, Flehen und Danksagung vor Gott kund werden lassen?

Auf die Art und Weise, wie es geschieht, kommt es ja überdies nicht an, wenn es nur in Demuth und in Glauben, wenn es nur mit herzlichem Verlangen und völliger Hingebung in den Willen des Herrn geschieht. Es gibt Zeiten im Christenleben, wo der Glaube kühn und stark ist und mit David über die Mauern springt: da ist auch das Gebet kühn und beharrlich und zuversichtlich, da traut der Mensch seinem Gott auch Alles zu und wagt es, ihn an seine Verheißungen zu erinnern und sie ihm vorzuhalten und darauf sich zu berufen, als auf untrügliche Zusagen, die Gott nicht brechen könne und dürfe. Das sind Momente, wie sie vorkamen bei Abraham, als er betete: „Siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin. Es möchten vielleicht fünfzig Gerechte in Sodom und Gomorra sein, wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darinnen wären? Das sei ferne von dir, daß du das thust!“ (Mose 18, 27.); bei Jacob, als er rang mit dem Herrn und ihn nicht loslassen wollte und bestimmt erklärte: „ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ (1 Mose 32, 26); bei Elias, als er bei der Wittwe zu Zarpath, deren Sohn gestorben war, den Herrn anrief: „Herr, mein Gott, hast du auch der Wittwe, bei der ich ein Gast bin, so übel gethan, daß du ihren Sohn tödtest? Herr, mein Gott, laß die Seele dieses Kindes wieder zu ihm kommen“ (1 Kön. 17, 20. 21); beim Hauptmann zu Kapernaum, als er das große Wort sprach: „Herr, ich bin nicht werth, daß du unter mein Dach gehest, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.“ (Matth. 8, 8); beim cananäischen Weibe, als sie sich schlechterdings nicht abweisen ließ vom Herrn, Weder durch Schweigen, noch durch Harfe Rede, sondern immer kühner, immer herzandringender ihn anschrie und anlief und endlich in die Worte ausbrach: „Ja, Herr, aber doch essen die Hündlein von den Brosamen, die von ihrer Herren Tische fallen“ (Matth. 15, 27); bei Luther, als er schrieb: „Ich halte mein Gebet stärker denn de n Teufel selbst, und wo es das nicht wäre, sollte es längst anders um den Luther stehen, wiewohl man das große Wunder Gottes an mir nicht stehet noch merket.“ Selige Momente! Da glaubt man, wo nichts zu glauben ist, und hofft gegen allen Anschein, und läßt sich nicht abweisen, noch abschrecken, und nimmt in der Kraft Gottes immer neue Anläufe wieder, bis man erhält, was man haben will und an seinem Herzen und Leben erfährt: Glauben wie ein Abraham und so wie ein Jacob ringen, macht, daß Gott, der starke Gott, sich von Menschen läßt bezwingen; Seele, laß Gott keine Ruh, glaube, bete, ringe du. - Aber es gibt auch Zeiten im Christenleben, wo der Glaube die Flügel hängt und matt und schwach am Boden schleicht, wo er kaum wagt in die Höhe zu blicken und immer nur hinstiert auf seine Noth und sein Elend; da ist dann auch das Gebet matt und schwach wie ein glimmender Docht und wie ein wankendes Rohr, da ruft auch ein Petrus: „Herr, hilf mir, ich verderbe!“ Aber getrost, Geliebte, es kommt auf die Kraftäußerung des Glaubens nicht an, wenn er nur da ist, und wäre er noch so klein und noch so schwach; der Geist vertritt die matte Seele mit unaussprechlichen Seufzen, und nicht umsonst lesen wir in der Schrift, daß Gott zu Moses gesprochen: warum schreiest du? und er hatte kein Wort geredet. Gott verstehet auch unser Lallen, und unsere Begierde ist immerdar vor ihm. Darauf also kommt's nicht an, ob wir viel oder wenig, ob wir laut oder leise, ob mit kühnem oder zaghaftem Glauben beten: wenn wir nur beten! Bedenklich nur ist's, wenn wir gar nicht mehr seufzen und des Herzens Verlangen nach Gott erstickt; dann ist gewiß irgend eine Untreue bei uns eingetreten, und es ist die höchste Zeit, daß wir aufmerken und vor dem Feinde zittern, der in der Nähe verborgen sieht.

II.

Wir gehen weiter, Geliebte und Andächtige. Der Christ sieht nicht nur in Beziehung zu Gott, sondern auch zu andern Menschen, und wie sich dort der Glaube im Gebet offenbart, so offenbart er sich hier in der Liebe. De» Apostel schreibt: „Nehmet euch der Heiligen Nothdurft an. Herberget gerne. Segnet, die euch verfolgen; segnet und fluchet nicht. Freuet euch mit den Fröhlichen, und weinet mit den Weinenden. Habt einerlei Sinn unter einander.“ Glaube ohne Liebe ist nicht gedenkbar. So jemand spricht, ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner; denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er stehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht stehet? (1 Joh. 4, 20.) Die heilige Schrift setzt immer Glaube und Liebe dicht neben einander, wie Baum und Frucht, wie Feuer und Licht. „In Christo gilt weder Beschneidung noch Vorhaut etwas,“ schreibt Paulus, (Gal. 5, 6.) „sondern der Glaube, der durch die Liebe thätig ist. Der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist er todt an ihm selber. (Jac. 2, 17). Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander lieb habet. Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habet. (Joh. 13, 34. 35.) Daran wird's offenbar, welche die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels sind; wer nicht recht thut, der ist nicht von Gott, und wer nicht seinen Bruder lieb hat.“ (1 Joh. 3, 20.)

Fragt ihr nun: wen der Christ liebt? so redet unser Text von Heiligen und Verfolgern, von Fröhlichen und Weinenden, kurz, von allen möglichen Zuständen und Verhältnissen, und es geht daraus hervor, daß der Kreis der Liebe ein weit umfassender ist und in denselben die ganze Menschheit hineingehört. Alle Menschen ohne Unterschieb, auch die es nicht verdienen, auch die ihm wehe thun, auch die Feinde liebt er; er segnet, die ihm fluchen, er thut wohl denen, die ihn hassen, er bittet für die, so ihn beleidigen und verfolgen. Eins nur haßt er, die Sünde; aber die Sünder, die Menschen, liebt er; sonst müßte er sich selbst auch hassen, da er ja auch ein Sünder ist. Alle liebt er, und wenn er Allen, denen er helfen möchte, zu helfen vermöchte, bliebe kein Hülfloser unter der Sonne. Die Liebe kennt keine Schranken. Aber wie es in dem wettern Kreise engere, näher stehende Verhältnisse gibt, so unterscheidet die heilige Schrift auch die brüderliche Liebe von der allgemeinen Menschenliebe, und versieht unter der ersteren die Liebe zu den Glaubensgenossen, zu denen, die gleicher Gesinnung und Ueberzeugung sind in den wichtigsten Angelegenheiten des Herzens, die auf gleichem Grunde ihren Glauben erbauen und ein Herz und eine Seele an einander hangen. Die Kirche nennt diese Verbindung der Herzen in ihrer geheiligten Sprache die Gemeinschaft der Heiligen. Zu diesen wird natürlich die Liebe sich mehr hingezogen fühlen, als zu den andern, und von ihnen insbesondere redet unser Text.

Fragt ihr sodann: warum der Christ alle seine Nebenmenschen, namentlich aber seine Brüder und Schwestern im Glauben liebt? Der Grund liegt so fern nicht. Es geschieht zuvörderst nicht aus Eigennutz, weil sie ihm Gutes erweisen, weil er durch die Erweisungen seiner Liebe wieder auf ihre Gegenliebe rechnet, weil er im Leben ihrer nicht entbehren kann: wenn das Alles auch nicht der Fall wäre, er würde sie dennoch lieben. Es geschieht eben so wenig um ihrer liebenswürdigen Eigenschaften und Gaben willen, die ihn unwiderstehlich anziehen und fesseln: ach, kein Mensch ist an sich liebenswürdig; er kann es eine Zeitlang scheinen, aber er. si es nicht; jeder hat seine Fehler und Gebrechen, an denen die Andern zu tragen und die Liebe zu üben haben, die alles hoffet, alles vertraget, alles duldet, alles glaubet. Nein, er liebt sie um Christi willen! Um Christi willen! d. h. 1) weil sein Herr es ihm befiehlt und ihm diese Menschen zuführt, damit er sie liebe. Das ist sein Gebot, sagt Johannes, (1. Joh. 3, 23.) „daß wir glauben an den Namen seines eingebornen Sohnes Jesu Christi und lieben uns unter einander, wie er uns ein Gebot gegeben hat.“ Er würde also sofort ungehorsam sein und mit Christo brechen müssen, entzöge er ihnen seine Liebe. Um Christi willen, d. h. 2) um der ihnen von Christo erwiesenen Gnade willen, weil sie alle, wie er, Erlöseter Jesu Christi, Glieder eines Leibes, lebendige Steine an einem Gottestempel sind, und die Wirkungen des heiligen Geistes eben so gut erfahren wie er. Um Christi willen, d.h. 3) weil er Christum nur lieben kann in seinen Gliedern. Sein Herz ist so voll von Gegenliebe für die unendliche Erbarmung seines Heilandes, daß er vor Verlangen brennt, ihm seine Dankbarkeit zu erweisen, und seine Losung lautet: Liebe um Liebe. Nun aber sagt der Herr: „Wer dieser Geringsten Einen mit einem Becher kalten Wassers tränket, in eines Jüngers Namen, wahrlich, ich sage euch, es wird ihm nicht unbelohnet bleiben. (Matth. 10, 42.). Wahrlich, ich sage euch, was ihr gethan habt Einen unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan“ (25, 40): wie könnte er da anders? muß er sie nicht Alle lieben? muß er Christum nicht in ihnen lieb haben? Gesteht, Geliebte, diese Liebe um Christi willen ist eine andere Liehe, als die Weltliebe; sie stammt nicht von unten, sondern von oben her; sie ist nicht zeitlich, sondern ewig; sie wird nicht durch die Störungen, die hienieden in jedem Verhältniß unvermeidlich sind, aufgehoben, sondern geheiligt und befestigt; sie ist selbst eine heilige, geheiligte! und heiligende Liebe.

Fragt ihr endlich: wie diese Liebe ihre Brüder liebt? so lautet die Antwort: sie liebt die Andern, wie sich selbst, und ihr Muster und Strebeziel ist, die Andern zu lieben, wie Christus die Gemeinde liebt. (Joh. 15, 12. 13. 1. Joh. 3, 16). Sie liebt sie also mit der ganzen Theilnahme ihres Herzens und mit der völligen Hingebung ihrer selbst; sie nimmt sich der Heiligen Nothdurft an, sie freuet sich mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden, sie hat einerlei Sinn mit den andern, und so viel an ihr ist, mit allen Menschen Friede, sie sammelt feurige Kohlen auf das Haupt ihres Feindes und überwindet alles ihr zugefügte Böse mit Gutem; sie beweiset ihnen eine Dienstfertigkeit, eine Wohlthätigkeit, eine Aufrichtigkeit, ein Vertrauen, das durch nichts erschüttert werden kann; sie liebt nicht mit Worten allein, sondern mit der That und der Wahrheit; sie läßt durch Undank und Kälte der Menschen sich nicht ermüden noch irre machen; sie arbeitet vor allen Dingen am Seelenheil der ihr anvertrauten Menschen und sucht sich mit ihnen immer mehr auf ihrem allerheiligsten Glauben zu erbauen. Indeß das Alles ist nur die eine Seite, die Außenseite; nicht minder lieblich und köstlich ist die innere Seite ihrer Liebesäußerung, nämlich die Fürbitte, und in dieser stillen, treuen Fürbitte für das leibliche und geistliche Wohl Anderer offenbart sich erst ihr ganzer Reichthum und ihre unvergängliche Herrlichkeit, Ach, oft sind unsere Wohlthaten beschränkt und unsere Worte können sie nicht erreichen: da dringt dann die Fürbitte für sie hinauf durch die Wolken ans Vaterherz Gottes und trägt sie vor Gott auf dem Herzen und gedenkt vor ihm, so oft sie ihre Kniee beugt, aller Nothleidenden, Kranken, Gefangenen, Sterbenden, Bekannten und Unbekannten, Gläubigen und Ungläubigen, Heiden und Juden, daß der Herr, der sie Alle sieht und kennt, sich ihrer Aller erbarmen möge.

III.

Das dritte Verhältniß, in welchem der Mensch auf Erden sieht, ist das Verhältniß zu sich selbst, und da offenbart sich endlich der lebendige Glaube als Demuth. Der Apostel schließt im Texte seine Ermahnungen mit den Worten: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen.“ Glaube ohne Demuth ist nicht gedenkbar. Den Hoffärtigen widerstehet Gott, aber den Demüthigen gibt er Gnade. (1 Petri 5, 5). Ein großer Lehrer der Kirche nennt die Demuth die einzige Tugend, und sagt einmal: wenn mich jemand fragte: wen ich für den besten Menschen hielte? so würde ich antworten: den Demüthigsten.

Fordert doch auch Alles, was dem Christen entgegentritt, ihn zur Demuth auf. Denkt er an die ihm widerfahrenen göttlichen Wohlthaten nach Leib und Seele von Kindesbeinen an, so muß er sprechen mit Jacob: „Herr, ich bin nicht werth aller Barmherzigkeit und Treue, die du an mir gethan hast“ (5 Mose 32,20) oder mit Petrus: „Herr, gehe hinaus von mir, ich bin ein sündiger Mensch“ (Luc. 5, 8.). Denkt er an die durchkämpften Leiden und Trübsale und an die mancherlei Noth seines Lebens, so muß er gestehen, daß, wenn Gott nach Gerechtigkeit mit ihm hätte verfahren wollen, er viel Schlimmeres verdient hätte, und der Geduld und Langmuth nicht werth ist, die Gott mit ihm gehabt. Denkt er an seine Sünden und Vergehungen, an das viele Böse, was er gedacht, geliebt, gewollt, geredet, gethan, und was unaufhörlich noch in seinem Innern wuchert: er muß mit dem Zöllner seine Augen niedersenken zur Erde und an seine Brust schlagen und seufzen: Gott, sei mir Sünder gnädig. Denkt er an feine guten Werke und wie unvollkommen und unrein sie find, wie lau seine Liebe, wie gering feine Dankbarkeit, wie untreu sein Gehorsam, wie verzagt und kleinmüthig sein Glaube, wie leicht der Rückfall: er muß wieder seufzen: „Herr, vergib mir meine guten Werke.“ Denkt er endlich an die Zukunft und an seine große Schwäche: er kann es nicht in Abrede stellen, es wird, so lange er hier unten im Lande des Glaubens wallt, nie gut werden, die Heiligung vollendet sich auf Erden nicht; das Fleisch gelüstet immer wider de n Geist und den Geist wider das Fleisch, dieselbigen sind wider einander, daß wir nicht thun, was wir wollen; das Wollen des Guten ist wohl da, aber das Vollbringen desselben fehlt! (Gal. 5, 17. Röm. 7, 18. 19.). Wohin er also denkt, überall Aufforderungen zur Demuth.

Und diese Demuth wächst in ihm von Jahr zu Jahr. Es heißt im Christenthum eben nicht: je weiter, je breiter; sondern: je länger, je enger und je bänger. Je höher man den Gottesberg der Vervollkommnung hinansteigt, desto mehr Tiefen und Abgründe enthüllen sich zu unsern Füßen, und die Pfade laufen immer steiler und schmaler an den Untiefen vorbei. Je größer Gottes Gnade an seinen Kindern ist, desto mehr verschwindet Einbildung über sich selbst. Zuerst hält sich der Christ für einen großen Sünder; aber nicht lange währt's, so sieht er ein, er ist ein viel größerer Sünder als Andere: so viel geheime, verborgene Herzenssünden, so viel tägliche Fehltritte und Verirrungen können sie unmöglich begehen als er. Endlich vergleicht er sich auch nicht mehr mit Anderen, sondern allein mit den Forderungen des Herrn, sein sittliches Gefühl wird immer zarter, und da muß dann aus dem Herzen heraus und über die Lippen hinüber das wehe Geständniß, daß er unter allen Sündern der größte und vornehmste ist. Glaubt aber nicht, Geliebte, daß diese Demuth, dieses steigende Gefühl unserer Sündhaftigkeit und Verderbniß den Christen unselig und das Christenthum zu einer Last und einem Joche mache - keineswegs! In der Schule des heiligen Geistes wird der Christ gerade durch dieses Gefühl immer seliger; in sich zwar immer unseliger und unzufriedener, aber im Herrn immer seliger und zufriedener, immer gelassener und geduldiger, immer bescheidener und sehnsuchtsvoller, immer gnadenhungriger und gnadenerfüllter. - Die wahre Demuth weiß überdies nicht, daß sie demüthig ist; wie das Auge alles sieht, nur sich selbst nicht, so weiß auch die Demuth nimmer, daß sie demüthig ist; wüßte sie es, so möchte sie hochmüthig werden beim Anblick dieser schönen Tugend. Sie weiß nur um das, was ihr fehlt; nicht um das, was sie hat. Sie macht Davids Wort zu ihrem Wort: „Ich will niedrig sein in meinen Augen, und will noch geringer werden denn also.“

Gebet, Liebe, Demuth - sind also die drei Hauptfrüchte und Merkmale des lebendigen Glaubens, und der Glaube ist nur in dem Grade lebendig, als sie sich zeigen. Wie sieht es nun mit uns, Geliebte? Ganz fehlen dürfen Gebet, Liebe, Demuth nicht; aber vollkommen sind sie bei Keinem unter uns vorhanden. Laßt uns denn uns beugen, Gemeinde des Herrn; laßt uns uns tragen lernen, wir haben nichts Schwereres zu tragen als uns selbst; laßt uns hoffen auf bessere Zeiten. Kommen sie auf Erden nie ganz gut und vollkommen: droben werden sie kommen, da wird der Glaube Schauen, das Stückwerk Vollkommenheit, die Hoffnung Erfüllung werden, da werden wir dem Herrn gleich sein und ihn sehen, wie Er ist. Amen.

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