Tholuck, August – Drei Predigten - I. Predigt - Maria und Martha

Tholuck, August – Drei Predigten - I. Predigt - Maria und Martha

In Christo Geliebte! Die Tage der Trübsal, die so viele Wittwen und Waisen unter uns gemacht haben1), haben auch Manchen von euch zum barmherzigen Samariter gemacht. Ist es nicht überhaupt merkwürdig, wie viel Menschenliebe in diesen Zeiten, in denen wir das Erkalten der Gottesliebe unter uns beklagen, noch immer offenbar wird? Welche gar nicht aufhörenden Ansprüche an die Wohlthätigkeit, namentlich seit einem Jahre, und welche immer neue und bereitwillige Opfer! „Ja, so viel Menschenliebe, und so wenig Gottesliebe!“ wird Mancher ausrufen, - „ zeigt das nicht eben, in welcher heuchlerischen Zeit wir leben?“ Sollen wir auch so sagen? Ich möchte nicht so sagen. Ich möchte eher sagen: ein Bächlein der Gottesliebe ist wohl noch unter uns vorhanden, sonst gäbe es nicht so viel Menschenliebe, aber es ergießt sich in ein falsches Bett und darum ist's doch nicht die rechte Gottesliebe.

Für Viele, die noch so einen Ueberrest von Religion haben, ist jetzt die Menschenliebe ihre einzige Religionshandlung, ihre Gottesverehrung, ihr Kultus; einen andern kennen sie nicht. Einst gingen die Menschen regelmäßig zur Predigt und Messe, fasteten, kasteieten sich, wallfahrteten: darin bestand damals ihre Religion; jetzt ist ihre Religion das Wohlthun. Ach, worin das eigentliche Geheimniß, der eigentliche Mittelpunkt der Religion liegt, wissen weder die Einen noch die Andern. Daß nach Christi Wort und Willen es auf die Werke der Menschenliebe auch ankommt, dafür brauche ich euch keinen Beweis anzuführen, aber worauf es vor Allem ankommt, das möchte ich euch zeigen. Als ich nach den Früchten der Trübsalssaat unter uns fragte, da bin ich von einer Seite auf eben diese Werke der Menschenliebe verwiesen worden; aber was können sie beweisen, so lange man nicht weiß, daß diejenige Aeußerung der Liebe zum Herrn dabei ist, worauf es nach seiner unzweideutigen Erklärung vor Allem ankommt? Und worauf kommt es vor Allem an? Auf's Unzweideutigste zeigt uns das der Schrifttext Luc. 10, V. 38-42.

Es begab sich aber, da sie wandelten, ging Er in einen Markt. Da war ein Weib, mit Namen Martha, die nahm ihn auf in ihr Haus. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich zu Jesu Füßen, und hörete seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu, und sprach: Herr, fragst du nicht darnach, daß mich meine Schwester lasset allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angreife. Jesus aber antwortete, und sprach zu ihr: Martha, Martha, du hast viele Sorge und Mühe; Eins aber ist noth. Maria hat das gute Theil erwählet, das soll nicht von ihr genommen werden.

Obwohl alle Liebeswerke dem Herrn etwas Werth sind, die aus dem Antriebe der Liebe zu ihm kommen, so gilt ihm doch nur diejenige Liebe für die rechte, die nicht ausgibt, ohne von ihm einzunehmen - ist das nicht deutlich vom Heilande hier gelehrt?

Laßt uns das erkennen an dem Schwesterpaare, laßt es uns anwenden auf uns selbst. Diese zwei Schwestern - ihr kennt sie auch aus einem andern Theile der heiligen Geschichte, aus der Erzählung von der Auferweckung Lazari. Es sind Seelen, von denen jede eine edle Begabung hat, den Trieb zur Werkthätigkeit die Martha, den zur innern Sammlung die Maria. Christus, jener übermächtige und allgewaltige Magnet, der die entgegengesetztesten Persönlichkeiten anzieht und in die Botmäßigkeit seiner Liebe bringt, hat auch diese zwei entgegengesetzten Naturen angezogen und mit unwiderstehlicher Liebesgewalt sich zu eigen gewonnen. Wie haben sie ihm vertraut - vertraut, selbst als er, wie hartherzig, ihre heißen Wünsche nicht erfüllt! Sie schicken zu ihm mit der Botschaft: „Herr, den du lieb hast, er ist erkrankt“. Dennoch verbleibt er noch zwei Tage an dem Orte. War das nicht eine schwere Glaubensprobe für den zarten Schwestersinn? Bei dem Allen, als Martha ihn ansichtig wird - ohne Grollen und nur mit vollkommensten Vertrauen ruft sie aus: „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“. Aber auch jetzt noch - „was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben“. So Martha; wie der Maria ganzes Herz sich in das seinige hingegeben, dafür bedürfen wir neben unserer Geschichte kaum eines Zeugnisses. Diese Anziehungskraft desselben Jesus für so ganz verschieden angelegte Naturen, und wie er jede so in ihrer Weise zu befriedigen weiß, - ist das nicht ein Beweis, daß er als der Welt Heiland gekommen ist, und daß wir keines Andern zu warten haben? - Je länger man mit Jesu umgeht, desto mehr werden alle natürlichen Anlagen und Fähigkeiten in seinen Dienst gebracht. Sinnige Naturen, wie die der Maria, wenn sie sonst begabt sind, und namentlich Männer, werden christliche Denker, christliche Dichter, christliche Gottesgelehrte; praktische Marthageister helfen den Armen, besuchen die Wittwen, kleiden die Waisen, pflegen die Kranken. „Dem Einen,“ spricht der Apostel, „wird durch denselbigen Geist die Weisheit gegeben, dem Andern die Erkenntniß, dem Dritten ein christlicher Unternehmungsgeist,“ und alle diese Gaben beruhen auf natürlichen Anlagen vom Vater, es wird ihnen vom Geist des Sohnes nur eine besondere Richtung verliehen, nach dem höchsten Zwecke und Ziele hin.

Martha, scheint es, ist die ältere Schwester gewesen, wenigstens ist sie die Hausbesitzerin; es heißt: „ sie nimmt Jesus in ihr Haus auf“. Was ihr natürliches Geschick und ihre Begabung. das ist also auch zugleich ihre Pflicht, den edlen Gast nämlich zu bewirthen; was ihre Liebe Ueberflüssiges dazu thut, ist, daß sie reichlich ihn zu bewirthen wünscht. Sehen wir sie also stets in Küche und Keller und nur einmal flüchtig zu Jesu hintreten, um die Schwester abzurufen, - nicht die Liebe zur Wirthschaft an sich ist es hier, nicht die Liebe zu Küche und Keller, die sie im Hause umhertreibt, sondern die Liebe zum Herrn, zum Herrn selbst. Das ist sie sich bewußt, daher auch ihr gut Gewissen bei ihrem Wirthschaftswerke und Küchendienst kommt, daß sie auf des Herrn Beifall rechnen und sprechen kann: „Herr, sage doch meiner Schwester, daß sie es auch angreife; es ist ja dir zu Ehren und zu Liebe“. Und eben weil ihre Werke aus Liebe zu dem Herrn kommen, sind sie auch werth vor ihm geachtet, nur daß er ihre Art zu lieben nicht als die rechte gelten läßt. Ihr seid es wohl gewohnt, von der Martha sprechen zu hören, als von einem Weltkinde; das heißt ihr Unrecht thun, ein Kind Gottes ist auch sie, da sie ja der Welt Geschäfte zu des Heilands Ehre thut. Scheint nicht vielmehr die katholische Kirche Recht zu haben, wenn sie in der Martha das Bild von solchen Christen sieht, die zwar den weltlichen Dingen nachgehen, jedoch dem Herrn zu Gefallen; in der Maria das Bild Derer, die klösterlich in der Zelle oder im priesterlichen Dienst der Tempelhalle einzig und allein den göttlichen Dingen nachgehen. Allein wäre es so, wären es die Geistlichen, die Mönche und Klosterfrauen, die das beste Theil erwählt haben, wie schlimm wäret ihr Anderen alle dann berathen! Nicht wahr, das Theil, welches euer Heiland das beste genannt hat, begehret ihr doch auch, und mögt mit einem geringern euch nimmermehr genügen lassen? Will denn nun der Herr euch Alle von den Werkstätten und den Handelshäusern, von Pflug und Spaten, vom Haushalt und aus der Kinderstube hereinrufen in die Klosterzelle? Das kann des Heilands Meinung nicht sein! Der Christus, der für die Seinigen gebetet hat: „Vater, ich bitte nicht, daß du sie aus der Welt nehmest, sondern daß du sie vor der Welt bewahrest,“ der hat nicht gewollt, daß die Seinigen dem Weltleben entzogen, in Klause und Zelle ihm dienen sollen. Nein, nicht darum, weil Martha aus Liebe zu ihm um Küche und Keller sorgt, spricht der Heiland zu Maria, daß sie das beste Theil erwählt habe, sondern darum spricht er es, weil Martha eben nur die Martha- und keine Maria-Sorgen kennt, weil sie von keinem andern Felde zu wissen scheint, wo sie ihm ihre Liebe offenbaren kann, als eben nur Küche und Keller. Und hätte sie zugleich mit dem Mariasinn ihn geliebt, hätte sie eben so sehr an's Einnehmen von ihm gedacht, als an's Ausgeben für ihn, wie wären dann auch ihre Marthageschäfte in einem ganz andern Sinne von ihr verrichtet worden, als sie sie verrichtet! Wie wir's in unsrer deutschen Uebersetzung lesen, da erkennt ihr noch gar nicht recht, was ihr der Herr vorwirft: „ Martha, Martha, du machst dir viele Sorge und Mühe!“ Höret nur, wie diese Worte nach dem Grundtexte eigentlich lauten! „In wie viel Dingen, Martha, machst du dir innerlich Sorge und äußerlich Unruhe!“ Da seht ihr's doch, was der Herr an ihr tadelt? Daß die redliche Seele bei ihrem Thätigkeitsdrange und bei ihrer Begabung für diese Thätigkeit ihm gerade mit dieser Gabe dient, tadelt er gewiß nicht, sondern wie sie ihm dient, mit dem Herzen, das innerlich eben so wenig zur Ruhe kommt, als äußerlich der Leib; das nur einen Umkreis hat, darin es herumläuft, aber keinen Mittelpunkt, in dem es still steht. Das Eine, was Noth thut, hat sie über dem Vielen, was auch gut sein mag, ohne doch Noth zu thun, so vergessen, daß sie das beste Theil zu haben meint und ihre Schwester abrufen will zu Küche und Keller, von Jesu Lippen und Fuß. -„O Martha,“ spricht da der Herr, „um Vieles hast du Sorge und Unruhe in deinem zertheilten Herzen, und gerade um das eine Liebeszeichen nicht, das vor Allem Noth thut, von mir zu nehmen, damit man mir geben könne; dies gute Theil soll von Maria nicht genommen werden.“

Werden nun vielleicht Etliche fragen: Aber Maria - hat sie sich nicht eben so verfehlt, als sie, des thätigen Liebeswerkes vergessend, blos sinnend und fühlend zu Jesu Füßen hingesunken war? Das hat sie nicht. Wer diese Maria blos für eine fühlende Träumerin, für eine der Welt abgestorbene Klosterfrau hält, der irrt. Wir könnten das schon aus gutem Vertrauen zu Jesu sagen, zu dem Jesus, der überall die Frucht, die That verlangt, und der ein solches von der Welt abgezogenes Träumen wahrlich nicht bei seiner Jungem, begünstigt haben würde, aber es liegt uns auch im Evangelium selbst eine Andeutung vor, die in dieser Hinsicht zu ihren Gunsten spricht.

Wenn Martha, wie wir im Grundtext lesen, spricht: „Herr, fragst du nicht darnach, daß mich meine Schwester verlassen hat, dir allein zu dienen“ - zeigt das nicht an, daß Maria keineswegs etwa den ganzen Tag blos mit ihren Gedanken und Gefühlen sich zu thun gemacht, nein, daß sie entweder vorher, ehe der Herr kam, das Werk der Schwester getheilt, oder daß sie selbst, nachdem der edle Gast gekommen, noch eine Zeit lang der Martha zur Seite gestanden? Aber über dem Thun für den Herrn hat sie das Ruhen in dem Herrn, über dem Liebesdienst für ihn nicht das Wort von ihm, über dem Ausgeben nicht das Einnehmen vergessen wollen; da ist sie herbeigekommen und hat zu Jesu Füßen sich niedergelassen.

Seht nur, wie der kleine Juwel dieser Geschichte gerade für solche Leute aufbewahrt ist, die kein anderes Liebeszeichen für den Heiland kennen, als die Werke der Menschenliebe, die sie thun. Wenn euch aber darauf ankommt, dem Herrn mit dem Liebeszeichen zu dienen, worauf es ihm vor allen andern ankommt, wie wohl muß es euch thun, das zu vernehmen, was der Herr euch in diesem Texte zu Gemüthe führt; es ist dies: Obwohl alle Liebeswerke dem Herrn werth sind, deren Antrieb die Liebe zu ihm ist, so gilt doch nur die Liebe ihm als die rechte, die nicht ausgeben will für ihn, ohne auch von ihm einzunehmen. Thut Werke der Liebe, aber vergesset nicht, daß eure Liebeswerke nur so viel werth sind, als die Antriebe, aus denen sie fließen! Streuet aus eure Liebe Christi in Werken der Menschenliebe, aber vergesset nicht, daß nur die Liebe ihm als die rechte gilt, welche nicht blos für ihn ausgeben will, sondern auch von ihm einnehmen!

Wirket Werke der Liebe, aber vergesset nicht, daß eure Liebeswerke nur so viel werth sind, als die Antriebe, aus denen sie fließen. Wenn ich auf dieses Thema komme, - ach, wie viel Katholisches ist noch mitten unter uns Protestanten! Von dem todten Lippengeplärr katholischer Gebete wenden wir uns mit Widerwillen ab, aber im Vertrauen auf diese Werke der Menschenliebe, die ohne den heiligen Odem der Liebe zu Gott doch auch eitel todte Werke sind, sind viele von uns Protestanten um gar Nichts besser, als jene katholischen Lippendiener. Kein Opfer taugt vor Gott ohne Salz, wahrhaftig auch das Opfer unserer Liebeswerke nicht. Wenn sie Alle, die jetzt den Armen Almosen geben, die Waisen kleiden, die Kranken besuchen in ihrer Noth, Rechenschaft geben sollten, ob sie's auch mit völliger Bestimmtheit erkennen, daß alle solche Liebeswerke nur so viel werth sind, als die Antriebe, aus denen sie fließen? - gewiß, wenn's am Ende auch Keiner bestreiten wird, klar erkennen und fühlen thun sie es nicht. Wenn in einer Zeit, wo so wenig von Andacht und Gottesinnigkeit vorhanden ist, verhältnißmäßig doch noch immer so viele Liebeswerke gethan werden, muß man nicht von vorn herein voraussetzen, daß die Antriebe bei dem meisten Theile solche sind, die keinen Werth vor Gott haben können? Bei einem Theile ist's nichts Anders, als jenes natürliche Mitleid gegen die Menschen, welches selbst dem thierischen Instinkt nicht fehlt gegen die, welche seines Geschlechts sind. Als Lazarus mit seinen Schwären da lag, sind ja selbst die Hunde gekommen und haben ihm seine Schwäre geleckt. Bei Andern ist's jener, neben dem sinnlichen Triebe, stärkste aller natürlichen menschlichen Antriebe, der Trieb nach Ehre vor den Menschen. Was solche Liebeswerke vor Gott werth seien, das hat der Herr in der Bergpredigt mit der Wucht des dreimal wiederholten Spruches: „Sie haben ihren Lohn dahin!“ ausgesprochen. Menschenlob suchen sie, Menschenlob empfangen sie: mehr als diesen schnöden Lohn haben sie nicht zu gewärtigen. Nur Einen Antrieb für Liebeswerke gibt es, der vor Gott in's Gewicht fällt: „dein Vater, der in's Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffentlich“. Ich glaube es, daß, wenn auch nur unbewußt, dieser Antrieb vielen eurer Liebeswerke zum Grunde liegt. Wiederum kommt es nun aber darauf an, worauf ihr in jenem Wort des Herrn Gewicht legt: ob auf das „Vergelten öffentlich“, oder auf das Auge, „das in's Verborgene sieht“. Ja, es gibt eine Vergeltung. Es geht Nichts verloren, kein verborgener Seelenkampf, keine nur von Gott gesehene That der Selbstverleugnung. Was auf Erden von dem Eigenen eingesetzt wird, das werden wir im Himmel wieder finden. Aufgehoben ist es Alles im Geiste des sich selbst verleugnenden Menschen, es schafft und bildet an ihm den neuen Menschen aus, und wenn wir in die neue Welt hineintreten, da wird Alles, was in uns aufgehoben ist, offenbar werden, und das wird unsere Vergeltung sein. Darum stehet von den Seligen geschrieben: „ihre Werke folgen ihnen nach“. Gerade aber, um auf solche Vergeltung hoffen zu dürfen, gehört dazu, daß wir Werke haben, die blos im Hinblick auf das Auge, das „ins Verborgene sieht“, geschehen, aus reiner, lauterer Gottesliebe. Nur solche und keine andere sind der Schatz, der in die unsichtbare Welt eingelegt und in unserer Seele aufgehoben wird. So ist denn also der Blick auf die Vergeltung allein auch noch nicht der Antrieb, der vor Gott gilt, er muß sich stützen auf Werke, die gethan sind ausschließlich im Hinblick auf das Auge, das „ins Verborgene siebt“. Ihr, die ihr euch vielleicht reich wißt an gethanen Liebeswerken. ihr seid nur so reich, als ihr reich an Werken seid, die der Hinblick auf das Auge, das „in's Verborgne sieht“, bei euch hervorgetrieben hat. Wann der Tag kommt, wo alles Verborgne offenbar wird, o werdet ihr dann einen Schatz von guten Werken haben, von denen kein Auge gewußt hat, als das „in's Verborgne sieht“?

Der Antrieb, solche Werte zu wirken, der wird nun in keiner andern Schule so geweckt und gepflegt, als in der Schule dessen, der eben diese Worte ausgesprochen. Es ist Thatsache, daß kein Glaube in aller Welt ist, der so viele offenbare Liebeswerke gewirkt hat, als der Christenglaube; unzweifelhafte Thatsache ist es aber auch, daß die größten und edelsten Werke der Liebe und Selbstverleugnung, die das Christenthum in der Welt gewirkt hat, gerade die sind, von denen die Welt nie Etwas erfahren hat. Der Grund, warum unser Glaube und nur dieser solche reiche Liebeswerke gewirkt hat und noch wirket, ist, daß wir Christen in das aufgethane Liebesherz des Vaters hineinschauen, das den Andern verschlossen war. Im Sohne seiner Liebe, den der Vater für uns dahin gegeben, daß wir durch ihn das Leben hätten, hat das Herz des Vaters sich uns aufgethan, und wer da hineinschaut, der wirkt Werke der Menschenliebe; denn hat Gott uns also geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn für uns dahingegeben, ihr Lieben, sollen wir uns nicht einander lieben?

So wirket denn in der Liebe Christi Werke der Menschenliebe, aber vergesset nicht, daß die Liebe Christi im Umgange mit Christo muß entzündet und gepflegt werden. Wie auch die Martha läuft und rennt ihrem Heiland zu Gefallen, doch kann er ihre Liebe nicht als die rechte gelten lassen, denn sie ist eine Seele, die dem Heilande nur geben will, ohne von ihm zu nehmen, die ihm opfern will, ohne die Gaben von ihm zu nehmen, die sie ihm zum Opfer bringen könnte. O. ahnet ihr nicht die Beschämung, die sich über Tausende von Marthanaturen verbreiten wird, wenn sie daher treten werden mit ihren Rechenschaftsberichten über ihre Almosenspenden, ihre vertheilten Armensuppen, ihre Missionsbeiträge, und wenn dann das ernste Wort des Richters fragen wird: „Wohl und gut; wo aber ist die Rechenschaft von euren stillen Gebetsstunden, von den heiligen und geheimen Gelübden und Opfern eurer Andacht, von dem Umgänge mit meinem Worte? Ihr habt viel für mich ausgegeben - wie viel habt ihr denn von mir eingenommen? Meinen Namen sah ich wohl als die Ueberschrift eurer Werke, wo ist aber mein Geist als der Inhalt eurer Werke?“ Gelten alle unsere Werke nur so viel vor Gott, als die Antriebe gelten, aus denen sie quellen, so gelten auch nur gute Werke vor Christo so viel, als Liebe zum Heilande darinnen ist. Ihr Werkheiligen und Werkhelden unter Katholiken und Protestanten, wenn der König die Schafe scheiden wird von den Böcken, wenn der süße Zuruf von ihm erschallen wird: „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anfang der Welt her!“ was spricht er zu diesen Gesegneten seines Vaters? Spricht er etwa: „da sind so viele Menschen hungrig gewesen und ihr habt sie gespeiset; da sind so viele durstig gewesen und ihr habt sie getränkt; sie sind gefangen gewesen und ihr habt sie besucht?“ Heißt es nicht vielmehr: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeiset, ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt, ich bin ein Gefangener gewesen und ihr habt mich besucht. Was ihr gethan habt Einem dieser geringsten Brüder, das habt ihr mir gethan“. Ihr christlichen Werkheiligen unter Katholiken und Protestanten, verlangt ihr noch einen andern Beweis, daß alle Werke eurer Menschenliebe vor ihm nur so viel gelten, als Liebe zu ihm selbst darin ist? Was hilft es also, nur immerfort Werke ausfließen zu lassen, wenn nicht zugleich von seiner Liebe einfließt - immer nur auszugeben in seinem Namen, wenn man nicht zugleich einnimmt von seinem Geiste? O in Christo Geliebte! wie viel ein Mensch wirken und ausgeben kann nach Außen hin für seinen Herrn, ist das nicht durch tausend Umstände bedingt, die nicht von ihm selbst abhängen? Wie könnte nun das Werk an sich den Maßstab abgeben im göttlichen Urtheil? Das Marthatheil - das ist ein Theil, das Einem auf tausenderlei Weise genommen werden kann, durch Armuth, Krankheit, Alter, Schwäche und wodurch sonst nicht? Jenes Theil aber, das in keiner Lage des Lebens von dir genommen werden kann, nicht wenn das Krankenlager ein halbes Leben lang dich brach legt, nicht wenn das Alter deine Sinnenpforten schließt und deine Sinneswerkzeuge stumpf macht, selbst in der Dämmerungsstunde zwischen Leben und Sterben nicht: das ist das Mariatheil zu Jesu Füßen zu sitzen, Jesum zu hören, von Jesu Wort seine Seele zu nähren, und innerlich durch Jesu Geist heilig und selig zu werden von einer Klarheit zur andern. Das ist das selige Mariatheil, das uns bleibt und uns beschäftigen wird, wenn wir ihn sehen, wie er ist, wenn keine Almosen mehr werden auszutheilen, keine Waisen zu kleiden und keine Kranken zu pflegen sein.

Gewiß, ihr werkthätigen Seelen, in Gott betheure ich es euch, eurer Werke werden nicht weniger werden, wenn ihr mehr Mariastunden, zu Jesu Füßen hingesunken und auf sein Wort merkend, zubringen wollt. Reicher, leichter und seliger werden eure Liebeswerke werden. Eine einzige rechte Gebetsstunde vor dem unsichtbaren Gotte ist ein Gnadenbad, aus dem man nur herauskommt mit neugestärktem Herzen, Händen und Füßen, zu allen ernsten Pflichten der Menschenliebe wie neugeboren. Ihr wißt, wie unser Herr und Heiland selbst immer wieder aus dem thätigen Leben hinaufgestiegen ist auf die einsamen Bergeshöhen zum Umgange mit seinem himmlischen Vater, wie er von dort dann wieder herabgestiegen ist ins thätige Leben; o möchten auch wir in die Niederungen des Lebens, wo das Elend und die Arbeit wohnt, stets herabsteigen aus den einsamen Höhen der Gebetsstunden, - wie viel reichlicher und leichter, wie viel reiner und seliger würden auch unsre Werke der Menschenliebe werden!

Dies ist mein Schmerz, dies kränket mich,
Daß ich nicht genug kann lieben dich.
Wie ich dich lieben wollte;
Täglich zu neuer Lieb' entzündt,
Je mehr ich lieb', je mehr ich find'. Daß ich dich lieben sollte.
Von Dir
Laß mir
Deine Güte ins Gemüthe lieblich fließen,
So wird sich die Lieb' ergießen.
Amen.

1)
Zur Zeit der Cholera, 1848
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autoren/t/tholuck/drei_predigten/drei_predigten_1.txt · Zuletzt geändert: von aj
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