Spener, Philipp Jakob - Pia desideria - I.

Man müßte darauf denken, das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen.
Wir wissen, daß wir von Natur nichts Gutes an uns haben, sondern soll etwas an uns sein, so muß es von Gott in uns gewirkt werden, und dazu ist das Wort Gottes das kräftige Mittel, indem der Glaube durch das Evangelium entzündet werden muß, das Gesetz aber die Regel der guten Werke und viel herrlichen Antrieb giebt, denselben nachzujagen. Je reichlicher also das Wort Gottes unter uns wohnen wird, je mehr werden wir Glauben und dessen Früchte entspringen sehen. Nun sollte es zwar scheinen, daß das Wort Gottes reichlich genug unter uns wohnte, indem an manchen Orten, (und zwar auch in hiesiger Stadt) täglich, anderswo doch öfters, von der Kanzel gepredigt wird.
Wo wir aber der Sache reiflich nachdenken, werden wir auch in diesem Stück Vieles finden, was noch weiter nöthig wäre. Ich verwerfe die Predigten nicht, wie sie gewöhnlich gehalten werden, wobei aus einem gewissen vorgelegten Text und dessen Erklärung die christliche Gemeine unterrichtet wird, indem ich ja selbst dergleichen vortrage und verrichte; aber ich finde, daß dieses nicht genug sei, denn
1. Wir wissen, „daß alle Schrift, von Gott eingegeben, sei nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung zur Züchtigung in der Gerechtigkeit“ 2. Tim. 3.
Daher sollte auch alle Schrift, ohne Ausnahme, der Gemeine bekannt sein, wollen wir anders allen nöthigen Nutzen erhalten. Wenn man nun aber auch alle Texte, die in vielen Jahren nach einander in einem Ort der Gemeine vorgetragen werden, zusammennimmt, so wird das ein noch gar geringer Theil der uns gegebenen Schrift sein; das Uebrige hört die Gemeinde gar nicht, oder nur einzelne Sprüche daraus, die in den Predigten angeführt werden, ohne daß sie den ganzen Zusammenhang, der doch wichtig ist, vernehmen könnte.
2. Die Leute haben auch wenig Gelegenheit, den Verstand der Schrift anders zu fassen, als aus den Texten, die ihnen etwa ausgelegt werden, noch weniger aber, sich so darinnen zu üben, als die Erbauung erfordert; denn das bloße Lesen zu Hause, das an sich herrlich und löblich ist, kann doch noch nicht bei Allen genügen. Es ist daher zu überlegen, ob nicht der Kirche wohl gerathen wäre, wenn neben den gewöhnlichen Predigten über die verordneten Texte die Leute noch auf andere Weise weiter in die Schrift geführt würden:
1. Mit fleißiger Lesung der heiligen Schrift selbst, sonderlich aber des Neuen Testaments. Das ist ja nicht schwer, daß jeder Hausvater seine Bibel, oder wenigstens das Neue Testament bei der Hand habe, und täglich etwas darin lese, oder, wenn er des Lesens unerfahren, sich von Andern lesen lasse. Wie nöthig und nützlich Solches allen Christen in allen Ständen sei, hat stattlich und kräftig in dem vergangenen Jahrhundert dargethan Andreas Hyperius, dessen zwei Bücher von diesem Gegenstande bald hernach G. Nigrinus verdeutscht hat. Nachdem aber das Buch fast unbekannt geworden, hat dasselbe neulich Herr D. Elias Veyel, mein werthester früherer Mitgenosse zu Straßburg und in Christo geliebter Bruder, durch eine nochmalige Auflage wiederum bekannt gemacht.
2. Nächstdem, daß also die Leute zum häuslichen Bibellesen angetrieben würden, wäre es rathsam, wenn man es einführen könnte, daß zu gewissen Zeiten in öffentlicher Gemeine die biblischen Bücher nach einander ohne weitläuftigere Erklärung, als etwa kurzer Summarien, die man dazu thäte, verlesen würden, zu Aller, vornämlich aber Derer Erbauung, welche gar nicht, oder nicht gut lesen könnten, oder keine eigenen Bibeln hätten.
3. Es wäre vielleicht auch nicht undienlich, wenigstens setze ich es zu Anderer reiflichem Nachdenken hierher, wenn wir wieder die alte apostolische Art der Kirchenversammlungen in den Gang brächten, da neben unsern gewöhnlichen Predigten auch andere Versammlungen gehalten würden auf die Art, wie Paulus 1 Kor. 14 dieselben beschreibt, wo nicht einer allein aufträte, zu lehren (welches für die gewöhnlichen Gottesdienste bleibt), sondern auch Andere, die mit Gaben und Erkenntniß begnadigt sind, jedoch ohne Unordnung und Zanken mit dazu reden, und ihre gottseligen Gedanken über die vorgelegte Materie vortragen, die Uebrigen aber darüber richten möchten. Dies könnte etwa nicht unpassend folgender Art geschehen: Wenn zu gewissen Zeiten mehrere Prediger, wo nämlich Mehrere an einem Orte sind, oder auch unter Leitung des Predigers mehrere andre Gemeinglieder, welche von Gott mit ziemlicher Erkenntniß begabet, oder in derselben zuzunehmen begierig sind, zusammen kämen, die heilige Schrift vor sich nähmen, daraus laut läsen, und über jede Stelle derselben sich brüderlich unterredeten, welches der einfache Verstand derselben, und was darin zu unserer Erbauung dienlich wäre. Dabei wäre theils Jedem, der die Sache nicht hinlänglich verstände, seine Zweifel vorzubringen und deren Erläuterung zu begehren erlaubt, theils müßten die, welche weiter gekommen, so wie die Prediger, ihre Einsicht, die sie in jede Stelle hätten, mittheilen; was nun Jeder vorgebracht, würde dann von den Uebrigen, sonderlich den berufenen Lehrern, untersucht, wie es der Meinung des heiligen Geistes in der Schrift gemäß sei, und so die ganze Versammlung erbauet. Es müßte aber Alles in rechter Absicht auf Gottes Ehre und das geistliche Wachsthum eingerichtet werden, daher auch in den Schranken, die dieser Absicht gemäß wären, bleiben; hingegen, wo sich Vorwitz, Zanksucht, Suchen eigner Ehre und dergleichen einschleichen wollte, hätten besonders die Prediger, die die Leitung des Ganzen behielten, Solches zu verhüten und sorgfältig abzuschneiden. Hieraus wäre nicht geringer Nutzen zu hoffen. Es lernten die Prediger selbst ihre Zuhörer, und derselben Schwachheit oder Zunahme in der Lehre der Gottseligkeit kennen, auch würde ein zu Beider Bestem viel beitragendes Vertrauen zwischen ihnen gestiftet; sodann hätten die Zuhörer eine gute Gelegenheit, ihren Fleiß im göttlichen Wort zu üben, und sich dazu aufzumuntern, so wie ihre aufsteigenden Bedenken, wegen welcher sie nicht grade jedesmal den Prediger zu besuchen das Herz sich nehmen, demselben bescheiden vorzutragen, und dessen Entscheidung anzuhören; und so würden sie in kurzer Zeit, sowohl für sich selbst wachsen, als auch tüchtiger werden, in ihrer Hauskirche Kinder und Gesinde besser zu unterrichten. So lange solche Uebungen fehlen, werden die Predigten, wo Einer allein in zusammenhängender Rede etwas vorträgt, nicht immer recht und hinlänglich gefaßt werden, weil keine Zeit dazwischen ist, der Sache nachzudenken; oder wenn man dem Einen nachdenkt, entgeht indessen das Folgende, was aber bei solchen erbaulichen Unterredungen nicht geschieht. Eben so wenig genügt es, wenn man zu Hause für sich in der Bibel liest, sobald man Niemanden dabei hat, der den Verstand und die Absicht jeder Stelle einigermaaßen mit zeigen hilft, und dem Lesenden Alles, was er gern verstehen möchte, zur Genüge erläutern kann. Was nun bei diesen beiden, der öffentlichen Predigt und der Hausandacht, mangelte, würde durch dergleichen Uebungen ersetzt, und weder den Predigern, noch den Zuhörern große Arbeit gemacht, sehr viel aber zur Erfüllung der Ermahnung Pauli beigetragen, wenn er Kol. 3,16 sagt: „Lasset das Wort Christi unter Euch reichlich wohnen in aller Weisheit. Lehret und vermahnet Euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen, lieblichen Liedern,“ welche auch bei dergleichen Versammlungen zum Lobe Gottes und zur Aufmunterung gebraucht werden könnten.
So viel ist einmal gewiß, daß die fleißige Beschäftigung mit Gottes Wort, die nicht blos in Anhörung von Predigten, sondern auch im Lesen, Betrachten und Unterredungen darüber nach Ps. 1,2. bestehet, das vorzüglichste Mittel sein muß, etwas zu bessern, es geschehe nun durch die jetzt nachgewiesenen Einrichtungen, oder durch noch zweckmäßigere, von Andern vorzuschlagende Anstalten. Denn das Wort Gottes bleibt der Saame, aus dem alles Gute bei uns herkommen muß; und gelingt es uns, die Leute eifrig zu machen, daß sie darin fleißig forschen und in diesem Buche des Lebens ihre Freude suchen, so wird das geistliche Leben bei ihnen herrlich gestärket, und aus ihnen ganz andere Leute werden.
Was hat doch unser seliger Luther eifriger gesucht, als die Leute zum fleißigen Lesen der Schrift anzureizen, so sehr, daß er auch fast Bedenken getragen, seine Bücher ausgehen zu lassen, damit nicht dadurch die Leute träger gemacht werden möchten, die Schrift selbst zu lesen. Seine Worte lauten: „Gern hätte ich’s gesehen, daß meine Bücher allesammt wären dahinten geblieben und untergegangen, und ist unter andern Ursachen Eine, daß mir grauet für dem Exempel; denn ich sehe wohl, welchen Nutzen es in der Kirche geschafft hat, da man hat außer und neben der heiligen Schrift angefangen, viel Bücher und große Bibliotheken zu sammeln, sonderlich ohne allen Unterschied allerlei Väter, Concilia und Lehre aufzuraffen; damit nicht allein die edle Zeit und Studiren in der Schrift versäumet, sondern auch die reine Erkenntniß göttlichen Worts endlich verloren ist. Auch ist das unsre Meinung gewesen, da wir die Bibel selbst zu verdeutschen anfingen, daß wir hofften, es sollte des Schreibens weniger, und des Studirens und Lesens in der Schrift mehr werden; denn auch alles andere Schreiben soll in und zu der Schrift weisen; denn so gut werden’s weder Concilia, Väter, noch wir machen, wenn’s auf’s Höchste und Beste gerathen kann, als die Heilige Schrift, die Gott selbst gemacht hat. Wer meine Bücher in dieser Zeit ja haben will, der lasse sie ihm bei Leibe nicht sein ein Hinderniß, die Schrift selbst zu studiren,“ u.s.w. Aehnliche Aeußerungen finden sich auch sonst bei ihm.
Eins der wichtigsten bösen Stücke im Papstthum, wodurch sich die päpstliche Gewalt befestigt, ist dies gewesen, daß sie die Leute vom Lesen der heiligen Schrift abgehalten haben, und noch nach Vermögen abhalten, um sie in Unwissenheit zu erhalten, und so sich völlige Gewalt über ihre Gewissen anzueignen; dagegen war es zum großen Theil der Zweck der theuern Reformation, die Menschen zu dem Worte Gottes, welches fast unter der Bank versteckt gelegen, wieder zu bringen. Wie nun dies das kräftigste Mittel gewesen, wodurch Gott sein Werk gesegnet hat, so wird auch eben dies das vorzüglichste Mittel zur Besserung der Kirche sein, daß der Ekel, den Viele an der Schrift haben, oder die Nachläßigkeit, in derselben zu forschen, abgethan, und hingegen herzlicher Eifer zu derselben erweckt werde. Neben dem würde unser oft erwähnter D. Luther noch ein anderes mit dem vorigen genau verbundenes Mittel vorschlagen, welches jetzt das zweite sein soll.

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